Referat Lateinamerika und Karibik

Die Zukunft der Arbeit hat begonnen, doch wie gestalten wir sie?

Die Folgen des technologischen Wandels für die Arbeitswelt lassen sich nicht einfach durch die Aufrechnung zerstörter und neu geschaffener Arbeitsplätze ermessen. Denn auch die Formen, mit denen Arbeit organisiert wird und die Gesetze, die die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern regeln, stehen auf dem Spiel.

Bild: Image by Alexandre FUKUGAVA from Pixabay

Noch lässt sich nur schwer vorhersagen, wie die Welt nach der Pandemie aussehen wird. Dennoch müssen wir einen regulatorischen Rahmen schaffen, um zu verhindern, dass der sogenannte Plattformkapitalismus zu einem Hort prekärer Beschäftigungsverhältnisse niedriger Qualität wird. Die Beschäftigten in diesem Sektor sind in Zeiten der Pandemie unverzichtbar. Deshalb gehört der Kampf für ihre Rechte jetzt auf die Tagesordnung.

Die Coronakrise verändert die Arbeitswelt von Grund auf; eine Vielzahl an Arbeitsplätzen ist zerstört worden, und die Arbeitslosigkeit ist weltweit gestiegen. Gleichzeitig haben die Mobilitätsbeschränkungen und die Angst vor einer Ansteckung das Wachstum der digitalen Plattformen auf nie dagewesene Weise beschleunigt. Diese Entwicklungen haben zur Ausbreitung von Beschäftigungsformen geführt, die sich unter dem Deckmantel der Sharing Economy dem Arbeitsrecht entziehen. Die Folgen, die der technologische Wandel für die Zukunft der Arbeit haben wird, wurden bereits in zahlreichen internationalen Foren diskutiert und sind auf normativer Ebene Gegenstand einiger Kontroversen. Zwar kann man nur schwer vorhersagen, wie die Welt nach der Pandemie und die neue Normalität aussehen werden; doch Mitte 2020 kann man mit Fug und Recht behaupten, dass die Zukunft bereits angebrochen ist. Und damit wächst auch der Bedarf, einen regulatorischen Rahmen zu schaffen, damit diese Formen der Arbeit nicht zu prekären Beschäftigungsverhältnissen niedriger Qualität führen.

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) geht davon aus, dass im zweiten Quartal 2020 weltweit etwa 400 Millionen Vollzeitstellen verloren gegangen sind, davon 55 Millionen in Lateinamerika. Das Ausmaß der Krise hat die soziale Ungleichheit sichtbar gemacht und die Vulnerabilität der Beschäftigten im informellen Sektor gezeigt, die als erste betroffen waren. Doch Arbeitsplatzverluste sind nur die halbe Wahrheit: So ist der Onlinehandel in Lateinamerika einer Studie des Marktforschungsunternehmens Kantar zufolge bereits einen Monat nach Beginn der Pandemie um knapp 400 Prozent gewachsen. Im März 2020 nutzten 30 Prozent der Verbraucher in Argentinien zum ersten Mal diese Einkaufsmöglichkeit. 73 Prozent gaben an, es wieder tun zu wollen.

Die Lieferdienste gehören ebenfalls zu den großen Gewinnern der Pandemie. Sie zählen als wesentliche Dienstleistungen und profitieren nicht nur von der gestiegenen Nachfrage nach Lieferangeboten und Nahrungsmitteln; vielmehr erhöhten sie ihren Umsatz auch, indem sie den Gastronomen, die fast vollständig von den Lieferdiensten abhängen, höhere Provisionszahlungen aufnötigten.

Die digitalen Plattformen haben neue Möglichkeiten geschaffen, wie wir Produkte und Dienstleistungen kaufen und anbieten können. Sie haben aber auch Geschäftsmodellen zum Aufstieg verholfen, bei denen sich die Beschäftigung nach der jeweiligen Nachfrage richtet. Die Branche wird von den Unternehmen angeführt, die die meisten Benutzer haben und damit vom Netzwerkeffekt profitieren, wie Nick Srnicek es in seinem BuchPlattform-Kapitalismus bezeichnet. Denn die Plattform, die die meisten Benutzer hat, lockt dadurch weitere Benutzer an, wodurch sich wiederum ihr Transaktionspotenzial erhöht. Die dunkle Seite dieses Geschäftsmodells besteht darin, dass Daten der Benutzer gesammelt und in das immaterielle Vermögen der Unternehmen aufgenommen werden.

Die Lieferplattformen begnügen sich dabei keineswegs mit Logistiktätigkeiten, sondern sind selbst zu vollwertigen Internetunternehmen geworden. Sie bieten Dienstleistungen an, rechnen diese ab und geben Benutzerdaten weiter. Die Unternehmen, die sich an den Plattformen beteiligen, vergrößern ihrerseits ihren Kundenstamm, wobei die meisten Kunden zunächst über eine App einsteigen und sich erst dort anhand der Anzeigereihenfolge für einen Anbieter entscheiden. Trotz dieses komplexen organisatorischen Hintergrunds präsentieren sich die Plattformen lediglich als digitale Vermittler von Dienstleistungen und stellen nur in den Bereichen Softwareentwicklung, Kundenbetreuung, Finanzen und Marketing qualifiziertes oder gar hochqualifiziertes Personal ein.

Einen Gegenpol zu dieser kompakten Unternehmensstruktur bildet die große Nachfrage nach selbstständigen Arbeitskräften in Vermarktung und Vertrieb. Von den Plattformen werden diese gerne mit Euphemismen wie «Partner» oder «Mitglieder» bezeichnet, wobei die Selbstständigkeit den Vorteil bietet, dass die Beschäftigten ihre Arbeitszeiten frei einteilen und von jedem beliebigen Ort aus arbeiten können. Doch in Wirklichkeit ist es mit der angeblichen Autonomie nicht weit her, da die Betroffenen Leistungs- und Qualifikationsvorgaben erfüllen und für die Plattformen ständig erreichbar sein müssen. Algorithmen ersetzen hier die Aufsichtsfunktion und schaffen ein virtuelles Kontrollsystem, das mithilfe von Rankings und Punktezahlen entscheidet, wer welche Aufträge bekommt und welches Honorar dafür gezahlt wird. Die meisten Selbständigen arbeiten im Durchschnitt acht bis neun Stunden an mehreren Tagen pro Woche. Doch viele von ihnen sind mit dieser strengen Taktung und der spärlichen Absicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufsrisiken unzufrieden. Als Selbstständige haben sie keinen Anspruch auf Mindestlohn und keinerlei Einnahmen bei krankheits- oder unfallbedingten Ausfallzeiten.

Das sollte uns eine Warnung sein, wenn wir uns die Folgen einer möglichen Ausweitung derartiger Beschäftigungsformen vor Augen führen. Zu befürchten ist eine extreme Polarisierung der Beschäftigungsbedingungen mit hochqualifizierten und durch das Arbeitsrecht abgesicherten Personen auf der einen Seite und leicht ersetzbaren und vom Arbeitsrecht ausgeschlossen Geringqualifizierten auf der anderen Seite. Mit Blick auf die Corona-Pandemie ist die prekäre Lage der Beschäftigten nun auf dramatische Weise ans Licht gerückt. Zwar wurden die verantwortlichen Unternehmen in den meisten Ländern mit Mobilitätsbeschränkungen als systemrelevant eingestuft; trotzdem arbeiten die Beschäftigten noch immer ohne entsprechende Vorschriften oder ausreichende Schutz- und Hygienevorkehrungen durch die Unternehmen.

Vor diesem Hintergrund haben Arbeitnehmerorganisationen bereits dreimal zu internationalen Streiks bei Lieferdiensten wie Rappi, Glovo, Pedidos Ya und Uber Eats aufgerufen, an denen sich Verbände aus Brasilien, Chile, Ecuador, Costa Rica, Argentinien und Mexiko beteiligten. Ziel war es, auf den Widerspruch hinzuweisen, Beschäftigte einerseits prekären Arbeitsverhältnissen auszusetzen, sie gleichzeitig aber als systemrelevant einzustufen. Die Forderungen der Streikenden beziehen sich auf grundlegende Arbeitnehmerrechte wie einen Mindestlohn, einen Aufschlag für systemrelevante Tätigkeiten, Arbeitszeitbeschränkungen, die Anerkennung von Covid-19 als Berufskrankheit, die Bereitstellung von Hygiene- und Schutzmaßnahmen durch die Unternehmen und eine Absicherung bei Unfällen und Krankheit.

Ihre Schlagkraft wurde durch die internationale Reichweite und Mobilisierung durch die sozialen Netzwerke erhöht. Dass die Digitalisierung die Vernetzung vieler versprengter Einzelpersonen ermöglicht, entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie. Doch auf lokaler Ebene sind die Aktionen der Arbeitskräfte stets der unterschwelligen Gefahr eines Ausschlusses von den Plattformen ausgesetzt, an die sich ihre Forderungen richten. Schließlich können die Beschäftigten ohne weiteres ersetzt werden, da die Unternehmen stets genügend Bewerber in der Hinterhand haben – insbesondere in schwierigen Zeiten wie den jetzigen. Lehnt ein Selbstständiger einen Auftrag ab, wartet bereits eine ganze Armada von Konkurrenten darauf, ihn zu ersetzen. Diese Situation verschärft sich noch durch die fehlende Anerkennung eines Beschäftigungsverhältnisses, das die Arbeitskräfte an die Unternehmen binden würde, und das fehlende Vereinigungsrecht.

Angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Notlage hat das Stadtparlament von Buenos Aires ein Gesetz erlassen, um die auf digitalen Plattformen organisierten Lieferdienste zu regulieren und damit einigen der Forderungen nachzukommen. Das Gesetz sieht unter anderem einen erweiterten Versicherungsschutz und eine Begrenzung der von den Plattformen unterhaltenen Anreizsysteme und Strafen vor, die nur allzu oft zu einer übermäßigen Arbeitsbelastung mit entsprechender Unfallgefahr im Straßenverkehr führen. Von den aktuellen Umständen zeugt die in dem Gesetz vorgesehene Pflicht, das Lieferpersonal mit Schutzausrüstungen und Hygieneartikeln wie Helmen, Gesichtsmasken und Desinfektionsmittel auszustatten. Doch auf einer anderen Ebene könnte das Gesetz auch als negativer Präzedenzfall für weitere Regulierungsbemühungen ausgelegt werden, da es die Vermittlerrolle der Plattformen anerkennt, sie von arbeitsrechtlichen Verpflichtungen befreit und damit die Verantwortung auf die Beschäftigten abschiebt. Diese müssen sich nämlich selbst um die für ihre Tätigkeit erforderlichen Genehmigungen kümmern.

Eine Entscheidung über den Status dieser Beschäftigten ist unabdingbar, um Rechte und Pflichten in den Bereichen soziale Absicherung, Interessenvertretung, Arbeits- und Ruhezeiten, Arbeitszeitumfang, Mindestvergütung, Absicherung gegenüber Berufsrisiken und Bezahlung zu regeln. Noch steht eine Debatte über die Frage aus, ob für diese neuen Beschäftigungsformen Sonderregelungen eingeführt werden sollten oder nicht. Diese könnten flexible Arbeitsmodelle oder das Recht beinhalten, sich bei den Anwendungen an- und abzumelden, um die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben zu verbessern. Denn auch dieses Thema zählt zu den Fragestellungen, die die neuen digitalen Beschäftigungsformen aufwerfen.

Die Folgen des technologischen Wandels für die Arbeitswelt lassen sich also nicht einfach durch die Aufrechnung zerstörter und neu geschaffener Arbeitsplätze ermessen. Denn auch die Formen, mit denen Arbeit organisiert wird und die Gesetze, die die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern regeln, stehen auf dem Spiel. Es geht also sowohl um quantitative als auch um qualitative Fragen – die wiederum eng miteinander verbunden sind.

Technologie ist für sich genommen weder gut noch schlecht. Sie befreit den Menschen von monotonen und gefährlichen Tätigkeiten und kann die Produktions- und Transaktionseffizienz erhöhen. Sie bietet den Beschäftigten ein großes Kommunikations- und Organisationspotenzial, begünstigt aber auch Kontrolle, Vereinzelung und die Schwächung der sozialen Netze. Klar ist, dass die Vorteile einer digitalen Wirtschaft ohne regulatorisches Eingreifen nur einige wenige begünstigen werden.

*Der Text ist eine Übersetzung aus dem Spanischen, erschienen in der von der FES herausgegebenen spanischsprachigen gesellschaftspolitischen Zeitschrift für Lateinamerika, Nueva Sociedad, August 2020.

Laura Perelman:

Laura Perelman hat Soziologie an der Universität Buenos Aires studiert und an der Universidad Nacional de San Martín im selben Fach ihren Master gemacht. Sie untersucht Plattform-Unternehmen und deren Auswirkungen auf Arbeitsverhältnisse und Beschäftigung. Zudem übernimmt sie Forschungsaufträge des Instituto de Desarrollo Económico y Social (IDES).


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