Der Autor und Journalist Alexander Baunov hat in seinem kürzlich erschienenen Bestseller "The End of Regime" die Demokratisierung verschiedener autokratischer Systeme analysiert. Im aktuellen Gastbeitrag blickt er auf das deutsch-russische Verhältnis und fragt, welche Lehren aus der deutschen Geschichte in Zukunft wichtig sein könnten.
Der Beitrag steht hier auch im englischen Original zur Verfügung.
Von den „Beziehungen zwischen Russland und dem Westen“ zu sprechen, ist zwar auf beiden Seiten durchaus geläufig. Tatsächlich aber haben diese Beziehungen schon immer zwei verschiedene Richtungen eingeschlagen. In den russisch-amerikanischen Beziehungen ging es in der Regel um Politik, während die russisch-deutschen Beziehungen fest auf wirtschaftlichen Überlegungen aufbauten.
Während Russland und die Vereinigten Staaten über Rüstungskontrolle, globale Sicherheit und ganz allgemein über die Weltordnung diskutierten, konzentrierten sich Russland und Deutschland auf praktischere und konkretere Fragen. Die USA hat die Abkühlung der Beziehungen zu Russland so gut wie nichts gekostet: Beide Länder setzten auf Rhetorik und sorgten sich eher um die Reaktionen ihrer tatsächlichen oder potenziellen Verbündeten und um die Öffentlichkeit. Den Deutschen hingegen war immer klar, dass eine Verschlechterung ihrer Beziehungen zu Russland einen hohen Preis haben würde.
Daher glaubte der Kreml, seine Beziehungen zu Deutschland seien tragfähiger und belastbarer als die zu den Vereinigten Staaten. Paradoxerweise stellte der Kreml auf der einen Seite Europas außenpolitische Souveränität in Abrede und bezeichnete die Europäer als Lakaien der USA und bezog auf der anderen Seite ebendiese Souveränität in sein außenpolitisches Kalkül ein. Dieses Kalkül wirkte am Vorabend des Krieges durchaus plausibel, als eine Konfrontation noch nicht unausweichlich schien und ihre verheerenden Auswirkungen noch nicht entfaltet hatte. Anfang Februar 2022 wurde zum Beispiel der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz von vielen kritisiert, weil er angeblich der Frage auswich, ob Deutschland im Falle einer Eskalation der Lage in der Ukraine das Gaspipeline-Projekt Nord Stream 2 aufgeben würde.
Sowohl das politisch dominierte russisch-amerikanische Modell bilateraler Beziehungen als auch das wirtschaftspolitisch geprägte russisch-deutsche Modell stürzten nach der russischen Invasion wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Die wirtschaftliche Absicherung, auf die Moskau sich zwecks Bewältigung seiner selbstverschuldeten Probleme verlassen hatte, versagte.
Europas und Deutschlands Reaktion auf Russlands Angriffskrieg war anders als vom Kreml erhofft
Das russische Regime wertete das Verhalten Deutschlands sofort als Beweis dafür, dass sich Berlin entgegen den deutschen Interessen den USA unterordne. In Wahrheit besann Europa sich genau zu diesem kritischen Zeitpunkt auf seine Souveränität. Eben darauf hatte Moskau in der Vergangenheit insgeheim gehofft, lediglich gestaltete sich Europas Erwachen nicht so, wie der Kreml es sich vorgestellt hatte. Deutschland ist inzwischen eine der wichtigsten treibenden Kräfte hinter den Sanktionen und der politischen Opposition gegen Russland. Unterfüttert wird diese Haltung durch moralische Grundsätze und die deutsche Geschichte – dies erklärt die etwas größere Zurückhaltung bei der Lieferung von Defensivwaffen an die Ukraine und die freundlichere Einstellung gegenüber Russinnen und Russen, die sich gegen den Krieg positionieren.
Russland hatte gehofft, dass Deutschlands moralische und geschichtliche Perspektive – so wie bei den Wirtschaftsbeziehungen geschehen – zu Moskaus Gunsten ausschlagen würde, aber auch das geschah nicht. Berlins Haltung folgte eher einer eigenen Logik als irgendwelchen Vorgaben von außen.
Natürlich gab es neben dem wirtschaftlichen Aspekt auch andere Faktoren, die eine engere Bindung zwischen Deutschland und Russland begünstigt haben. Wladimir Putin beeindruckte einst die Abgeordneten des Bundestags mit einer Rede in deutscher Sprache; die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach Russisch und verstand dank ihrer ostdeutschen Herkunft die sowjetischen Gegebenheiten. Das Trauma, das das Ende des Kalten Krieges für Russland bedeutete und das einen immer tieferen Keil zwischen Russland und die USA trieb, gab es in den russisch-deutschen Beziehungen nicht. Obwohl der schlecht vorbereitete Abzug der sowjetischen Truppen aus Ostdeutschland für die russische Allgemeinheit zu den schmerzlichsten Episoden nach dem Ende des Kalten Krieges gehörte, tröstete die russische Bevölkerung sich mit dem Gedanken an den Sieg ihres Landes über Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Alle mit dem Kalten Krieg verbundenen Ressentiments richteten sich gegen die USA und weniger gegen Deutschland, denn schließlich waren es die „hinterhältigen“ Amerikaner, die die Sowjetunion in diesem Krieg besiegt hatten. Paradoxerweise nahmen diese Gefühle erst viele Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Gestalt an, als die Erinnerung an Russlands vergangene Größe durch den wirtschaftlichen Aufschwung Anfang der 2000er Jahre wieder wachgerufen wurde. Zudem war Russland lange Zeit überzeugt, Deutschland mit der Zustimmung zur Wiedervereinigung einen Gefallen getan zu haben.
Aus wirtschaftlichem Interesse, Dankbarkeit für die Wiedervereinigung und vor allem in Erinnerung an die Zerstörungen, die Nazideutschland in Europa und der Sowjetunion angerichtet hatte, neigte das heutige Deutschland weniger als andere dazu, sich in Gesprächen mit Russland als der moralische Überlegene zu geben. Der aufstrebende Diktator Putin hingegen versuchte, innere Angelegenheiten möglichst weitgehend vor internationalen Beobachtern zu verbergen. Autokratien haben meist eine Vorliebe für Intransparenz und geben außer ihren außenpolitischen Interessen wenig preis.
Deutschland ist zu einem Wortführer der internationalen Empörung über Russlands Invasion geworden
Doch dann versuchte Putin, sein innenpolitisches Vorgehen auf das Ausland auszuweiten und seine Feinde außerhalb seiner eigenen Landesgrenzen auszuschalten. Russlands Aggression gegen das Nachbarland Ukraine war für Deutschland ein endgültiger Wendepunkt und brachte das Land dazu, in seiner Russlandpolitik von einem wirtschaftlich geprägten Kurs auf einen moralischen Kurs umzusteigen. Deutschland hat die weltweite Empörung über die russische Invasion nicht zu beschwichtigen versucht und wurde gar zu einem der Wortführer dieser Empörung.
Schon 2014 bei der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Donbass sowie 2020 bei Moskaus Unterstützung der brutalen Niederschlagung der Proteste in Belarus waren viele in Deutschland der Meinung, dass die historischen Verpflichtungen ihres Landes und die moralische Komponente seiner Außenpolitik nicht nur für Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion, sondern auch für andere postsowjetische Staaten gelten sollten. Während der Kreml das Gedenken an den Sieg und die Opfer des Zweiten Weltkriegs immer mehr in einen autoritär-militaristischen Kult verwandelte, büßte Russland den Monopolanspruch auf Sieg und Gedenken rasch ein.
Auch als der Oppositionsführer Alexej Nawalny infolge seiner Vergiftung mit einem tödlichen Nervengift zur medizinischen Behandlung nach Deutschland gebracht wurde, äußerte die Bundesregierung sich mit scharfen Tönen zur russischen Innenpolitik. Nach dem offenen Schlagabtausch zwischen Berlin und Moskau in dieser Frage war nicht zu erwarten, dass Deutschland auf einen Akt der Aggression von außen anders reagieren würde. Dennoch war die russische Führung schockiert, wie schnell und weitreichend Deutschland auf Russlands Vorgehen in der Ukraine reagierte: Berlin zog sich noch vor dem russischen Einmarsch aus dem Nord-Stream-2-Projekt zurück – genau an dem Tag, an dem Putin die Unabhängigkeit der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk anerkannte.
Die deutsche Geschichte bietet einige Anhaltspunkte für die künftigen Beziehungen zu Russland
Die deutsche Geschichte und das moralische Fundament der deutschen Außenpolitik bieten auch einige Anhaltspunkte für die künftigen Beziehungen zu Russland und seiner Bevölkerung. Im Kontext eines Angriffskrieges werden die alten wirtschaftlichen Grundlagen nicht mehr ausreichen, da „Business as usual“ und wirtschaftspolitisches Werben für engere Beziehungen mit dem derzeitigen russischen Regime keine Option mehr sind.
Da Deutschland selbst eine aggressive Diktatur erlebt hat, kann es sich in das Leben der Menschen im heutigen Russland und in anderen Staaten hineinfühlen. Deutschland kann zu bedenken geben, dass die kollektive Verantwortung für einen Krieg nicht die dauerhafte kollektive Isolierung einer ganzen Nation bedeuten muss. Als US-Präsident John F. Kennedy unweit der kurz zuvor errichteten Berliner Mauer sagte „Ich bin ein Berliner“, wandte er sich mit diesem Satz an eine Bevölkerung, die zuvor unter einem totalitären Imperium gelebt hatte. Dieselben Menschen profitierten 1948 von der Luftbrücke der Alliierten.
Deutschland kann der Welt vermitteln, dass Sicherheit nicht durch kollektive Demütigung entsteht und dass es entgegen der heute weit verbreiteten Meinung darauf ankommt, bei den Bürgerinnen und Bürgern des Aggressorstaates zwischen Befürwortern und Gegnern von Krieg und Diktatur zu unterscheiden. Die deutsche Erfahrung kann lehren, dass der Übergang zur künftigen Form des russischen Staates eine Interaktion mit jenen Mitgliedern der russischen Gesellschaft erfordert, die sich der Aggression eher unterschwellig entgegenstellen als offen Widerstand zu leisten.
Deutschlands Geschichte zeigt, wie wichtig es ist, die Verantwortlichen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stellen und zu bestrafen, diktatorische Institutionen zu entmachten und als Nation über die eigene Schuld nachzudenken – das Wort „Reue“ hallte schließlich in der gesamten Bevölkerung nach. Dies ist auch im Falle Russlands nicht ganz unmöglich, wenn wir uns daran erinnern, dass während der Perestroika-Ära „Reue“ – покаяние – als nationaler Slogan auf breite Zustimmung stieß in Anlehnung an einen gleichnamigen georgischen Film, der damals sehr populär war.
An der deutschen Geschichte lässt sich zeigen, dass ehemalige Todfeinde, Aggressoren und Opfer nebeneinander leben und sich vielleicht sogar zu wirtschaftlichen und politischen Gemeinschaften zusammenschließen können. Sie beweist aber auch, dass die Kritik an einem politischen Regime und einer Gesellschaft nicht zwangsläufig auf eine nationale Kultur ausgeweitet werden muss, die zum größten Teil aus der Konfrontation mit lokalen politischen Regimen und der aggressiven Gleichgültigkeit der Normalbevölkerung hervorgegangen ist. Und noch etwas macht die deutsche Geschichte deutlich: Wenn Regimegegner nach außen hin schwach wirken und scheinbar nicht sehr zahlreich sind, heißt das nicht zwangsläufig, dass ihre Überzeugungen nicht eines Tages zur Politik ihres Landes werden könnten.
Aus dem Englischen von Christine Hardung.
Die in diesem Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen des Gastautors spiegeln nicht die Haltung der Redaktion oder der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.