#Gleichheit16-Blog

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Was genau ist eigentlich Ungleichheit? Und warum müssen wir dagegen etwas tun? Vor dem Kongress wollen wir diesen Fragen in Blogbeiträgen nachgehen – und damit zur Debatte anregen!


"Wir brauchen einen 180-Grad-Kurswechsel zur momentanen Steuerpolitik"

Ein Interview über Armut in Deutschland mit Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes

Herr Ulrich Schneider, der Paritätische Wohlfahrtsverband hat auch in diesem Jahr wieder seinen vielbeachtet Armutsbericht veröffentlich. Was sind die zentralen Erkenntnisse?

Positiv ist erst einmal festzuhalten, dass der lange Aufwärtstrend bei den Armutsquoten seit 2006 in 2014 erst einmal gestoppt ist. Die Quote sank von 15,5 auf 15,4 Prozent. Ob dies jedoch tatsächlich der Beginn einer Trendumkehr sein kann, bleibt abzuwarten. Negativ fällt erneut auf, dass sich selbst blendende Wirtschaftsdaten nicht mehr in einem entsprechenden Rückgang der Armut niederschlagen. Ganz im Gegenteil: Steigender gesamtgesellschaftlicher Reichtum scheint sogar das Armutsproblem noch zu verstärken, wenn die Amen von diesem Zuwachs abgekoppelt werden und im Ergebnis lediglich die Ungleichheit steigt. Auffallend ist, dass diese Scherenentwicklung trotz sinkender Arbeitslosenzahlen anhält, ein deutlicher Fingerzeig in Richtung Amerikanisierung unseres Arbeitsmarktes, auf prekäre Beschäftigung und unzureichende Erwerbseinkommen.

Der Armutsbegriff des Paritätischen Wohlfahrtsverbands wird mitunter von Dritten kritisiert. Ihnen wird "Schwindel" und "Skandalisierung" vorgeworfen. Worin unterscheidet sich Ihr Armutsbegriff von anderen und warum setzen Sie auf Ihren Armutsbegriff?

Skandalisierung und sogar Schwindel wird uns lediglich von denen vorgeworfen, die Armut begrifflich reduziert wissen möchten auf Formen extremer Deprivation und Elend. Arm ist dann nur noch, wer tatsächlich auf der Straße lebt oder im Alter Pfandflaschen sammeln muss. Eins solch absoluter und im Grunde längst überholter Armutsbegriff wäre gänzlich abgekoppelt von gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Entwicklungen. Armutspolitik könnte sich auf die Stillung elementarster Bedürfnisse und die Behebung tatsächlich nur existentieller Not beschränken. Dagegen sprechen wir von Armut auch dann, wenn Menschen auf Grund zu niedrigen Einkommens nicht mehr teilhaben können am ganz normalen gesellschaftlichen Alltag, sei es der Sportverein, der gelegentliche Kinobesuch, der Musikunterricht oder sei es die Anschaffung von Bücher oder Internetnutzung. Es geht bei unserem Armutsbegriff um den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Es ist in gewisser Weise ein solidarischer Armutsbegriff, der, einem humanistischen Ideal folgend, alle mitnehmen, keinen zurücklassen will.

Welche strategischen Maßnahmen müssten ergriffen und welche politischen Entscheidungen getroffen werden, um Armut und Ungleichheit in der Gesellschaft nachhaltig zu bekämpfen?

Wir brauchen dringend einen öffentlich geförderten, an tariflicher Bezahlung orientierten Beschäftigungssektor für hunderttausende Langzeitarbeitslose, die auf dem ersten Arbeitsmarkt offensichtlich keine Chance mehr haben, wir brauchen viel mehr Bildungsanstrengungen für Kinder aus unterprivilegierten Familien und wir müssen bereits heute mit einer Restaurierung unserer gesetzlichen Rentenversicherung und einer durchgreifenden Reform der Altersgrundsicherung dafür Sorge tragen, dass uns bis 2030 nicht eine massive Altersarmut erreicht. Grundlage einer solchen Bekämpfung von Armut und Ungleichheit ist jedoch immer eine Steuer- und Finanzpolitik, die den Staat in die Lage versetzt, all dies überhaupt zu tun. Voraussetzung ist eine solidarische Politik der Umverteilung. Das heißt ganz konkret: Wiedereinführung einer Vermögensteuer,  eine Reform der Erbschaftsteuer, die die effektive Besteuerungsquote von Erbschaften, die derzeit gerade einmal bei rund 2 Prozent liegt, auf mindestens 10 Prozent erhöht, die Abschaffung der Abgeltungssteuer für Kapitalerträge und die Erhöhung  der Einkommensteuersätze für Topverdiener; mit anderen Worten: Wir brauchen einen 180-Grad-Kurswechsel zur momentanen Steuerpolitik. 

Die Fragen stellte Thomas Hartmann, Referent der FES-Abteilung "Politische Akademie"; das Interview erschien bereits in der Zeitschrift FES-Info 2/2016


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