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Soziale Gerechtigkeit beginnt in den Betrieben

Eine gerechtere Primärverteilung als Basis für eine egalitärere und stärkere Gesellschaft fordert Wolfgang Schroeder, Staatssekretär a.D., Professor an der Universität Kassel und Mitglied der Grundwertekommission der SPD.

Abwärtstrends in der Primärverteilung und in der Gestaltungsfähigkeit der tarifpolitischen Akteure gehen in Deutschland häufig Hand in Hand. Die ungleicher gewordene Einkommensverteilung entspricht dieser Einschätzung: In einer Langzeitbetrachtung zeigt sich, dass seit 2000 die Einkommen der obersten 10% um mehr als 15% gestiegen sind, während bei den unteren 40% ein Einkommensrückgang zu verzeichnen ist. Die Einkommen der mittleren Einkommensgruppen stagnieren. Damit rückt der Arbeitsmarkt mit seinen – trotz Mindestlohn – weiterhin bestehenden prekären Arbeitsverhältnissen und zunehmenden Flexibilisierungsanforderungen stärker in den Fokus der Gerechtigkeitsdebatte. Um "Soziale Gerechtigkeit" im Sinne einer materiellen und sozialen Absicherung durch den Sozialstaat zu gewährleisten, nehmen die Sozialpartner als Gestalter der Tarifautonomie eine herausragende Rolle ein. In stetigen Aushandlungsprozessen fördern sie eine umfassendere Beteiligung der Beschäftigten am Wachstum und tragen zur Reduzierung von Gehaltsunterschieden bei. Schließlich haben sie auch eine wichtige Funktion bei der Umsetzung sowie Einhaltung der Tarifverträge. Würden ihre per Tarifvertrag erreichten Aushandlungsergebnisse flächendeckend für alle Beschäftigten wirken, würde diese zu einer egalitäreren und motivierteren Gesellschaft führen.

Die Gegnerkrise und der Rückgang der Tarifbindung

Allerdings ist die Tarifbindung seit Jahren auf dem Rückzug: So lag die Branchentarifdeckung im Jahr 2000 in Westdeutschland bei 63% und in Ostdeutschland 47% und 2015 sanken diese Quoten in Westdeutschland auf 51% und in Ostdeutschland auf 37%. Es gelingt den Gewerkschaften nicht mehr, in allen Branchen und Betrieben ausreichend viele Beschäftigte zu organisieren, um als ihr mächtiges Sprachrohr aufzutreten. Zudem sehen sie sich zunehmend mit einer "Gegnerkrise" konfrontiert, die sich vor allem in einer Verbandsabstinenz kleiner Betriebe, Rekrutierungsproblemen bei jungen Unternehmen sowie einer mangelhaften verbandlichen Durchdringung des Dienstleistungssektors ausdrückt. Besonders problematisch ist es, dass es den Arbeitgeberverbänden nicht mehr gelingt, die Betriebe zu einer zahlreichen Mitgliedschaft zu gewinnen, und die Anzahl an OT-Verbänden (Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung) und Mitgliedschaften ständig zunimmt. Hinzu kommt, dass die "weißen Flecken" auf der bundesdeutschen Tariflandkarte größer geworden sind; insbesondere im Dienstleistungsbereich und in Ostdeutschland werden in einzelnen Bereichen und Regionen keine Tarifverträge mehr abgeschlossen.

Tarifbindung und soziale Gerechtigkeit

Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände müssen durch mehr beteiligungsorientierte Praxis ihre Mitgliederzahlen und Bindekräfte verbessern. Denn der zunehmende Rückgang von Mitgliedschaften und Tarifbindungsgraden führt partiell zu einer Schwächung bis hin zur De-Legitimation der Tarifautonomie. In einzelnen Bereichen ist der Staat an die Stelle der Tarifparteien getreten, um eine Lohnuntergrenze festzulegen. Dies ist bislang allerdings eine Maßnahme, die insbesondere Branchen berührt, in denen die Tarifbindung besonders niedrig ist. Um in diesen Branchen, durch Tarifverträge zu mehr sozialer Gerechtigkeit zu gelangen, sowie in den Branchen mit höherem Lohnniveau, eine bessere Tarifdeckung zu erreichen, wären weitere staatliche Unterstützungen zugunsten der Tarifautonomie hilfreich.  So könnte der Staat Unternehmen mit Tarifverträgen privilegieren (bspw. Durch: Vergabegesetz) oder mehr Tarifverträge allgemeinverbindlich erklären, umso in kleingliedrigen Branchen, mit schwachen Tarifparteien, unterstützend zu wirken. Ebenso wären staatliche Anreize denkbar, um der Trittbrettfahrerproblematik von Nicht-Gewerkschafts- und Nicht-Arbeitgeberverbandsmitgliedern entgegen zu wirken. Zudem sind eigene gemeinsame Offensiven der Arbeitgeber- und Unternehmerverbände zur Steigerung der Tarifbindung notwendig.

Diese Lösungsansätze sollen deutlich machen, dass "soziale Gerechtigkeit" nicht alleine auf die staatliche Sekundärverteilung rekurrieren sollte. Denn zu große Ungerechtigkeiten in der Primärverteilung lassen sich kaum durch den Staat kompensieren. Beobachten können wir, dass Abwärtsentwicklungen in der Primärverteilung dazu führen, dass die Abstände zwischen tarifgebundenen und nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern, zwischen Frauen und Männer, zwischen höher und niedriger Qualifizierten weiter zunehmen. Deshalb: Eine Politik der sozialen Gerechtigkeit muss in den Betrieben beginnen: Ein hoher gewerkschaftlicher Organisationsgrad sowie ein hoher Organisationsgrad auf Arbeitgeberseite ist die Voraussetzung, um eine höhere Tarifbindung zu erreichen. Die Tarifparteien sollten aber vor allem gemeinsam aktiv werden, indem sie die Struktur der Tarifverträge so ausgestalten, dass sie zu den sozialen und ökonomischen Herausforderungen der Unternehmen und der Beschäftigten passen. Nur im Zusammenspiel zwischen Betrieben, Tarifparteien und Staat kann es gelingen, gerechtere Entlohnungsstrukturen zu sichern, um die aktuellen und künftigen Herausforderungen des Arbeitsmarktes im sozio-ökonomischen und demographischen Wandel robust, fair und gerecht beantworten zu können.


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