Strategiedebatten in den kanadischen Parteien 2015-2017

Die Unterhauswahl im Oktober 2015 hat für einen politischen Wechsel in Kanada gesorgt. Die Konservative Partei um den bisherigen Premierminister Stephen Harper hat keinen neuen Regierungsauftrag erhalten und musste sich der Liberalen Partei geschlagen geben, die mit Justin Trudeau den neuen Premierminister stellt. Die Sozialdemokratische NDP (New Democratic Party) konnte ihren Status als stärkste Oppositionskraft nicht halten und ist nunmehr die dritte Kraft im Parlament. Dahinter folgen der Bloc Québécois (BQ) und die Grünen, die beide nur marginale Veränderungen im Vergleich zur Vorwahl verzeichneten und nicht in Fraktionsstärke in das kanadische Unterhaus einziehen konnten.

Nach der Wahl gilt es für die Parteien, sich in ihrer neuen Rolle für die erste Hälfte der Legislaturperiode zu positionieren. Die Parteistrategen müssen dabei eine ganze Reihe oft widersprüchlicher Faktoren berücksichtigen: Welche Erwartungen hat der Wähler nach der Wahl an die Partei? Welche politische Stimmung wird mittelfristig im Land herrschen? Welche Themen werden die politische Debatte bestimmen? In welchen Fragen wird der eigenen Partei und ihren Köpfen Kompetenz zugeschrieben? Was will die Basis, die Flügel, die Stammwählerschaft?

In der Phase der Neuausrichtung nach einer Wahl müssen die Experten wichtige Entscheidungen über die künftige politische Strategie der jeweiligen Partei treffen. Die folgende Grafik soll zeigen welche Strategiedebatten  plausibel sind, welche strategischen Optionen möglich sind. Hierzu werden drei Dimensionen visuell abgebildet: 1) die programmatische Position der Partei; 2) die Lebenswelt der Kern-Anhänger und 3)  die tagesaktuellen Richtungsdebatten.

Diese drei Dimensionen werden den politischen Einstellungen und Werten Rechts-Links bzw. Libertär und Autoritär zugeordnet. Dabei lässt die Grafik erkennen, dass in Kanada Marktfreiheit und eine libertäre Anschauung, insbesondere in Bezug auf Immigration und Integration eine wichtige Rolle spielen. Insgesamt sind sowohl der kanadische Wähler als auch die Parteienlandschaft also deutlich weiter rechts und libertärer anzusiedeln, als in Deutschland. Ziel ist es, die gegenseitigen Abhängigkeiten dieser drei Dimensionen zu verdeutlichen und die potentiellen Verwerfungen anzudeuten, die sich aus dem Spannungsverhältnis der oft über Jahrzehnte stabilen Lebenswelten und den hochdynamischen taktischen Positionierungen einzelner Akteure ergeben.

Vergleicht man die drei Dimensionen mit der Situation in Deutschland (Verweis auf Strategiedebatten Deutschland) muss man zusätzlich bedenken, dass kanadische Parteien deutlich weniger Stammwähler haben, und darüber hinaus selbst dieser Kern eine höhere Mobilität von Wahl zu Wahl vorweisen kann. Auch sind innerhalb der einzelnen Parteien starke regionale Unterschiede zu vermerken. Insgesamt ist die kanadische Gesellschaft weniger politisiert, als dass in Europa häufig der Fall ist.

Aus sozialdemokratischer Sicht ist zudem ist zu anzumerken, dass der links-autoritäre Sektor in der kanadischen Wählerschaft nie sehr stark vertreten war, da es keine nennenswerten kommunistischen oder stark ideologischen Gewerkschaften gegeben hat. Dadurch ist im Laufe der Zeit eine Polarisierung zwar zwischen Konservativen und den anderen vier Parteien (die sich vor allem im libertären Bereich mit verschiedenen Grauzonen überlappen) entstanden.

Ein weiterer zu beachtender Faktor ist die politische Lage beim großen Nachbarn USA, insbesondere nach der Wahl von Donald Trump als neuen US-Präsidenten. Es ist davon auszugehen, dass sich die NDP als scharfer Trump-Kritiker positionieren wird wohingegen die Liberalen realpolitisch agieren müssen und versuchen werden, sich mit Trump zu arrangieren. Weniger deutlich ist es bei den Konservativen, die sich in ein moderates und ein pro-Trump Lager spalten könnten. Festzuhalten bleibt, dass es abzuwarten ist, wie sich dieser politische Wechsel konkret auf die Strategiedebatten der kanadischen Parteien auswirken wird, aber es wird ein bedeutender Einflussfaktor in den kommenden Jahren darstellen.

Des Weiteren werden hier (siehe unten)  die strategischen Situationen der fünf Parteien im kanadischen Parlament individuell analysiert und durch Grafiken visuell unterstützt werden.

Die einzelnen Parteien in der Übersicht

Die strategische Lage der Sozialdemokraten

Die Wahlniederlage 2015 repräsentiert den zweiten historischen Einschnitt in der 55 jährigen Geschichte der NDP als Partei auf Bundesebene. Nach vier Jahren als offizielle Opposition ist die sozialdemokratische Partei Kanadas wieder auf ihren angestammten dritten Platz zurückgefallen.

Die Achillesferse der NDP war stets eine Ablehnung des als Zentralisierung interpretierten Vorantreibens sozialer Programme (Gesundheitswesen, Kleinkinderbetreuung, Steuerfinanzierte Umverteilung, etc.), vor allem in der Provinz Quebec, wo die NDP jahrzehntelang nicht über 5 bis 10 Prozent der Stimmen hinwegkam. Dieses änderte sich kurzfristig Mitte der 1980er Jahre und dann wiederum mit der erstaunlichen vague orange 2011 (gefolgt von der Ernennung eines Parteivorsitzenden aus der Provinz Quebec, Thomas Mulcair). Nur in diesen zwei Perioden ist die NDP überhaupt als nennenswerte Alternative zu den beiden traditionellen Regierungsparteien in Erscheinung getreten.

In dem Sinne ist es also wichtig, dass die NDP mit 16 von 78 Sitzen einen nach wie vor soliden Platz im Parteienspektrum in Québec verteidigt hat. Die ausstehende Urwahl, um einen neuen Vorsitzenden zu bestimmen, wird also auch in Quebec mit Interesse verfolgt werden. Die unterschiedlichen strategischen Ausrichtungen sind dabei noch relativ verschwommen.

Eine gewisse Strömung innerhalb der Partei drängt auf eine Rückbesinnung der NDP nach links, auf der ökonomischen Ebene. Inspiriert durch die innerparteilichen Erfolge von Bernie Sanders und Jeremy Corbin, wird in jenen Kreisen eine klar definierte Linksaußen Position (Leap Manifesto, Steuerdebatte) vorgeschlagen. Zwar sind offizielle Kandidaturen für den Parteivorsitz noch nicht hervorgetreten, aber mit einer oder gar mehreren Kandidaturen aus diesem Spektrum muss gerechnet werden.

Die jedoch überwiegende Tendenz der Partei unter ihren beiden letzten Vorsitzenden ist eine graduelle Annäherung an das Zentrum der ökonomischen Ebene, gleichzeitig mit einer voranschreitenden Modernisierung und Öffnung zu immer libertäreren Positionen auf der sozialpolitischen Achse. Als Beispiele können dafür eine Öffnung gegenüber Freihandelsabkommen wie CETA, sowie ein ausgeglichener Staatshaushalt genannt werden.

Es sollte hierbei hervorgehoben werden, dass sich die Bundespartei somit lediglich ihren deutlich erfolgreicheren Schwesterparteien auf Provinzebene angeglichen hat. Seit Ende der 1980er Jahre ist die NDP nämlich 16 Jahre lang an der Regierung in Saskatchewan und in Manitoba gewesen, 9 Jahre in British Columbia, 5 in Ontario und 4 in Nova Scotia. Kandidaten aus dem “regierungsorientierten” Lager sind also ebenfalls zu erwarten. Eine auf grüne und liberale Wechselwähler abzielende Kandidatur (sustainable development, green growth) könnte ebenfalls hinzukommen.

Die Zukunft und die strategische Ausrichtung der NDP ist also ungewiss, zu dem eine Anforderung für fließenden Bilinguismus (um die Chancen der Partei in Quebec zu wahren) die Suche nach einem geeigneten Nachfolger für Thomas Mulcair weiter erschwert.

Die strategische Lage der Liberalen

Nach ihrem überzeugenden Wahlsieg 2015, der auf einer aggressiven Rückeroberung linksliberaler und libertärer Themen im Wahlvolk der NDP und der Grünen beruhte, steht die Liberale Partei Kanadas nun vor einer der wichtigsten strategischen Entscheidungen: die Rückgewinnung großer Teile des Nordwest-Quadranten zementieren, in dem sie markante Wahlversprechen (Cannabis-Legalisierung, defizitfinanzierte Infrastrukturausgaben, Änderung des Wahlrechts, etc. ) tatsächlich umsetzen? Oder aber eher eine Rückbesinnung auf die in den 1990er Jahren eroberte Lebenswelt ökonomisch gesehen eher konservativer, sozial aber eher progressiver Wähler.

Entscheidend könnte dabei der oder die neue Vorsitzende der Konservativen werden. Sollten sich dort autoritär oder gar religiöse Tendenzen durchsetzen (eine Art tea party oder Trumpisierung), dann könnten die Liberalen weiter ungestraft beider Flügel des sozial progressiven Sektors bedienen. Ähnlich sieht es mit einer Richtungsentscheidung in der NDP aus. Sollte es dort zu einer radikalen Wende nach links (Leap Manifesto, Steuerdebatte) kommen, oder sogar zu einer Rückbesinnung in Richtung des Südwest-Quadranten, dann hätte die Liberale Partei wahrlich ein immenses strategisches Spielfeld vor sich, welches auf eine mittel- bis langfristige Dominanz hindeuten könnte (zudem der Premier Justin Trudeau nach wie vor noch sehr populär ist, und sowohl nach außen wie nach innen als unverbraucht und mit frischem Gesicht auftritt).

Die strategische Lage der Konservativen

Die Konservative Partei Kanadas befindet sich, wie die NDP, mitten in einer Urwahl, um den nächsten Vorsitzenden zu bestimmen. Dabei sind durch ein Feld von 14 Kandidaten, alle strategischen Ausrichtungen gut vertreten. Die ultrakonservativen und religiösen Tendenzen der ehemaligen Reform-Partei werden dabei allerdings eher durch Lippenbekenntnisse und Zusagen von freien Abstimmungen, also ohne Fraktionszwang, abgespeist. Dieses reflektiert die unaufhaltsame Wanderung der Konservativen in Richtung des Nordost-Quadranten. Zu beachten ist, dass selbst die Gleichgeschlechtliche-Ehe nun offiziell von den Konservativen anerkannt wird, dass eine Abtreibungsdebatte offiziell abgelehnt wird, und auch die eher libertäreren Ansichten des Supreme Courts nur selten angegangen werden.

Eine nennenswerte Ausnahme ist die Entscheidung zum Tragen des Niqabs während der Einbürgerungszeremonie. Diese “Niqab-Debatte” wurde von den Konservativen 2015 aus wahltaktischen Gründen ausgelöst, aber wohl auch aus längerfristigen strategischen Überlegungen heraus vorangetrieben. Es handelt sich hierbei um die kanadischen Ableger der in Deutschland hinter Pegida und AFD gebündelten Abneigung der Modernitätsverlierer gegenüber Muslimen und den gefühlten Auswüchsen eines ungehinderten Multikulturalismus.

Nennenswert ist darüber hinaus, dass auch pure libertäre Positionen (“Mad Max”, Ende der Transferzahlungen im Gesundheitswesen, Stärkung der Fraktion gegenüber der Regierung), also eine weitere Verschiebung in Richtung oben und rechts, durchaus zur Debatte steht. Diese Richtung wird vor allem von jüngeren Mitgliedern, und einem Teil der Konservativen Partei in Québec und British Columbia getragen (wo religiös-autoritäre Ansätze mehrheitlich auf Ablehnung stoßen).

Die strategische Lage des Bloc Québécois

Bei der separatistischen Partei Bloc Québécois (BQ) geht es, wie bei ihrer Schwesterpartei auf Provinzebene, der Parti Québécois (PQ), hauptsächlich um die Frage, in wie weit identitäre Fragen (Niqab-Debatte und Charter of values) die traditionelle Lebenswelt der Unabhängigkeitsbewegung (in der sozialdemokratischen Mitte) verdrängen. Bei der Wahl eines neuen PQ-Vorsitzenden im Oktober 2016 hat sich jedenfalls der identitär-autoritäre Pol durchgesetzt. Es bleibt abzuwarten, ob diese strategische Ausrichtung der Schwesterpartei auch für die 2017 anstehende Wahl eines neuen Vorsitzenden auf Bundesebene tonangebend sein wird. Ebenfalls möglich wäre nämlich eine Wendung nach links (“degrowth”), basierend auf einer Fundamentalopposition gegenüber Großprojekten im Ressourcensektor (z.B. der Pipeline Energy East) sowie, um die NDP in Québec unter Druck zu setzen.

Die strategische Lage der Grünen

Die Grünen treten in Kanada zwar (im Gegensatz zum Bloc Québécois) bundesweit an, müssen ob des Mehrheitswahlrechts jedoch als regionale Partei angesehen werden, die vor allem in British Columbia angesiedelt ist. Dort findet sich der einzige Sitz (von Parteichefin Elizabeth May) und dort finden sich auch die einzigen weiteren potentiellen Sitze, in denen sich die Grünen vor allem mit den Liberalen und New Democrats um dieselbe Wählerschaft bemüht. Dementsprechend stehen bei der strategischen Ausrichtung regionale Themen  (z.B. Ölpipelines und Erdgasverschiffung an der Westküste), sowie libertäre Positionen zu Cannabis, Prostitution, Injektionskliniken und ähnlichem, im Vordergrund. Der Balanceakt liegt dabei, trotz klarer Profilierung Linksaußen, in mehreren Wahlkreisen mehrheitsfähig zu bleiben, und Themen wie Green Growth nicht allein der NDP und den Liberalen zu überlassen.

Strategy debates Canada

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