Die Niederlande wählten ihre 26 Europaparlamentsabgeordneten nach Verhältniswahlrecht, wobei das ganze Land einen einzigen Wahlkreis bildet. Die Ergebnisse der Europawahlen 2019 waren eine Überraschung, da die Sozialdemokraten, die Partij van de Arbeid (PvdA), alle Erwartungen und Meinungsumfragen übertraf und mit 19 % der Stimmen stärkste Kraft wurde. Die Partei konnte sich damit im Vergleich zu den Europawahlen 2014 um 10 Prozentpunkte verbessern. Die Umfrageinstitute prognostizierten zuvor, dass der europaweit verbreitete Euroskeptizismus
die Zustimmung für rechts-populistischen Parteien weiter erhöhen würde. Auch im Jahr 2014 sahen Meinungsforschungsinstitute diese rechten Parteien vorn, doch letztlich gewannen die Christdemokraten, Christen-Democratisch Appèl (CDA) und die klar pro-europäische D66 die meisten Stimmen. Der Sieg der mitte-links positionierten PvdA, die einen pro-europäischen Wahlkampf geführt hatte, zeigt erneut, dass die Verbreitung von anti-europäischen Einstellungen möglicherweise überschätzt wird.
Nur zwei Monate vor der Europawahl wurde das niederländische Parteiensystem durch den rasanten Aufstieg der neuen nationalistischen Partei “Forum für Demokratie” (Forum voor Democratie, FvD) erschüttert, die von Thierry Baudet angeführt wird. Die Partei wurde im März 2019 bei den Provinzwahlen stärkste Kraft. Die in einer Koalition regierende Volkspartei für Frieden und Demokratie (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie, VVD) von Ministerpräsident Mark Rutte verlor in der Folge ihre Mehrheit in der Ersten Kammer.
Der Wahlsieg der rechts-nationalistischen FvD war überraschend, da die Partei bereits 2017 bei den Parlamentswahlen angetreten war und nur zwei der 150 Sitze gewann. Der Aufstieg der FvD ging auf Kosten der etablierten rechtspopulistischen Partei von Geert Wilders, der Partei für die Freiheit (Partij voor de Vrijheid, PVV). Bei den Europawahlen wurde der Austausch der Wählerschaft zwischen den beiden nationalistischen Parteien deutlich. Hier verlor die PVV all ihre Sitze. Während im Jahr 2014 noch 13,3 %, also einer von sechs Wählerinnen und Wählern, für die PVV stimmte, erhielt die Partei 2019 nur noch 3,5 % und die FvD 10,9 % der Stimmen. Die Zustimmung für diese stark gegen Zuwanderung positionierten Parteien verbleibt somit auf einem konstanten Niveau von etwa 15 %. Auch bei den Parlamentswahlen 2017 erreichten beide Parteien zusammen 14,7 %, was zeigt, dass die angenommenen Effekte der niedrigeren Wahlbeteiligung bei Europawahlen nicht so stark ausfallen wie oft angenommen. Die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Wählerschaft von PVV und FvD unterscheidet sich jedoch. Während die PVV eher Wahlberechtigte mit niedriger Bildung, Geringverdienerinnen- und verdiener und die prekäre Mittelschicht anspricht, unterstützen viele Höhergebildete, die meist in der freien Wirtschaft tätig sind, die FvD.
Sozialdemokratische Überraschung
Die größte Überraschung der Europawahlen 2019 war jedoch für Expertinnen und Experten sowie die politische Elite das starke Abschneiden der Sozialdemokraten. PvdA verlor 19 Sitze bei den Wahlen 2017 und fiel von 24.7 % in 2012 auf nur noch 5, 7 % im Jahr 2017.
Das Parteiensystem der Niederlande ist von großer Volatilität, also Unbeständigkeit, gekennzeichnet, insbesondere im linken Spektrum. Hier verfügen viele Parteien über ähnliche Positionen, wobei diese sich in ihrer politischen Orientierung deutlich unterscheiden. Links-progressive Wählerinnen und Wähler schwanken oft zwischen zwei oder mehr Parteien, vor allem zwischen der PvdA, der Grünlinks-Partei (GroenLinks, GL) oder den sozialliberalen Demokraten 66 (D66), und entscheiden sich erst sehr kurzfristig. Von dieser Wechselwählerschaft im linken Lager profitierte die PvdA, die zwischen den Provinzwahlen im März und den Europawahlen im Mai fast eine halbe Millionen zusätzliche Stimmen gewinnen konnte, während D66 ca. 400.000 und GL 200.000 Stimmen zwischen den Wahlen verloren.
Die Beliebtheit des Spitzenkandidaten Frans Timmermans war ein weiterer Faktor, weshalb die PvdA solch ein gutes Ergebnis einfahren konnte. Frans Timmermans wurde als Spitzenkandidat von der Sozialdemokratischen Partei Europas (PES) für das Amt des Kommissionspräsidenten nominiert. Die Möglichkeit, einen Niederländer an der Spitze der Kommission zu wählen, war womöglich eine wichtige Motivation für die Wählerschaft der linken Mitte. Insbesondere im Süden, Timmermans Heimat, spielte seine Person für die Unterstützung der PvdA eine Rolle, wo sich der PvdA-Anteil versechsfachte.
Medialisierter Wahlkampf
Auch der Wahlkampf selbst war ein Faktor, der von den Medien als Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Ministerpräsident Mark Rutte (VVD) und Thierry Baudet (FvD) initiiert wurde. Zwischen den beiden Kandidaten gab es sogar ein eigenes TV-Duell, dass sich vor allem um die dominanten Themen des rechten Lagers drehte: Zuwanderung, innere Sicherheit und öffentliche Ordnung, Grenzkontrollen und auch ein Niederländischer Austritt aus der EU (“Nexit”), obwohl die FvD diesbezüglich intern gespalten ist. Die FvD wurde trotzdem nur viertstärkste Partei, hinter der VVD, der PvdA und der CDA.
Der Fokus auf rechte Themen und zwei Kandidaten, die für viele niederländische Wählerinnen und Wähler nicht wählbar waren, irritierte viele. Auch dies war ein Grund für das gute Ergebnis der gemäßigten Parteien PvdA und CDA.
Linken Wählerinnen und Wählern und der politischen Mitte ist vor allem soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz wichtig. Sie sorgen sich um die Folgen des Klimawandels und wünschen sich wirtschaftliche Stabilität, lehnen also diese starke Fokussierung auf rechte Themen ab.
Baudet zweifelt sogar öffentlich an einem durch Menschen verursachten Klimawandel. Dies wird jedoch in einem so progressiven Land wie den Niederlanden nicht besonders positiv aufgenommen wird und kostet ihn eher Stimmen. Da große Teile der Niederlande unterhalb des Meeresspiegels liegen, sorgen sich viele um die Folgen des Klimawandels. Maßnahmen gegen den Klimawandel erfordern oft internationale Zusammenarbeit, weshalb ein “Nexit” unpopulär wäre. Die große Mehrheit der niederländischen Wählerinnen und Wähler, insbesondere im linken Lager, positionieren sich gegen einen EU-Austritt nach britischem Brexit-Vorbild. Das Chaos, dass nach dem Brexit Referendum in der britischen Konservativen Partei und Labour herrschte, schreckte viele Wählerinnen und Wähler in den Niederlanden ab und ließ die Unterstützung für die Europäische Integration wachsen. Auch FvD griff diese Stimmung auf und unterstützt nun ein Referendum über einen “Nexit”.
EU-Skepsis auch in den Niederlanden
Viele Wählerinnen und Wähler in den Niederlanden zweifeln, ob sich die EU in die richtige Richtung bewegt. Trotzdem möchte nur eine kleine Minderheit aus der EU austreten. Aus diesem Grund erreichten viele gemäßigte Kräfte im linken und rechten Lager bessere Ergebnisse als erwartet.
Selbst die VVD gewann einen Sitz und könnte nun argumentieren, dass sich das inszenierte Kopf-an-Kopf-Rennen gegen die nationalistische FvD ausgezahlt hat. Die CDA verlor drei Prozentpunkte gegenüber 2014 und damit einen Sitz.
Die Regierungsparteien VVD und CDA, die mit D66 und der christlich-euroskeptischen ChristenUnie koalieren, führte einen relativ EU-kritischen, in Teilen gar euroskeptischen, Wahlkampf. Dieser Wahlkampf widersprach der Tatsache, dass sie internationale Initiativen wie den Globalen Migrationspakt unterstützen.
Der gemäßigt-euroskeptische Juniorpartner in der Koalition, ChristenUnie, trat gemeinsam auf einer Liste mit der deutlich konservativen, protestantisch-orthodox und anti-EU eingestellten Reformierten Politische Partei (Staatkundig Gereformeerde Partij, SGP) an. Die beiden Parteien waren im letzten Europäischen Parlament Teil der Gruppe der Europäisch Konservativen und Reformern (ECR). Die beiden konfessionellen Parteien verließen jedoch die gemäßigt euroskeptische Gruppierung und sind nun unabhängig von einer Gruppe des Europäischen Parlaments, da FvD der ECR beitrat. Die Parteien konnten ihre beiden Sitze verteidigen, da ihre Wählerschaft relativ stabil bzw. loyal ist und sie daher nicht mit den Problemen der anderen Parteien konfrontiert sind.
Die weit verbreitete Befürwortung der EU durch die niederländische Bevölkerung wurde auch zum Problem für die linksradikale Sozialistische Partei (SP). Die Partei ist der EU gegenüber sehr kritisch eingestellt und kritisiert vor allem die Fokussierung auf den Marktliberalismus und den EU-weiten Arbeitsmarkt, wodurch die einfache Arbeiterschaft und Sozialleistungen gefährdet seien. Die Partei griff im Wahlkampf Frans Timmermans persönlich an und porträtierte ihn als “EU-Freund”, der die niederländischen Interessen in Brüssel verkaufe und mit den Rechten zusammenarbeite. Allerdings forderte Timmermans in seinem Wahlkampf die Besteuerung großer Unternehmen und die Ausweitung von Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechten, wodurch die Angriffe auf Timmermans verhallten. Viele linke Wählerinnen und Wähler setzten deshalb auf Timmermans und nicht auf die SP.
Die Partei GrünLinks (GroenLinks, GL) gewann bei den letzten Wahlen immer mehr Zuspruch, da Umwelt- und Klimaschutz für die Wählerinnen und Wähler das vorherrschende Thema waren. Die Partei wurde bei den letzten Parlamentswahlen 2017 stärkste linke Kraft und gewann auch in den Kommunal- und Provinzwahlen viele Stimmen. Auch bei den Europawahlen hielt dieser Trend an, die Partei konnte ihr Ergebnis von 2014 noch verbessern und einen weiteren Sitz hinzugewinnen. Bei diesen Wahlen wurden die Grünen jedoch nicht mehr stärkste linke Partei.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass EU-skeptische Töne nicht das vorherrschende Thema der Europawahlen 2019 waren. Der Fokus der Medien auf die nationalistische, einwanderungskritische Rhetorik hat möglicherweise Wählerinnen und Wähler mobilisiert, die pro-europäisch eingestellt sind. Obwohl dies nicht mit einem Ende der EU-Kritik gleichgesetzt werden sollte (denn diese existiert weiterhin), kann zumindest festgehalten werden, dass sich Ängste nicht direkt in bedingungslose Unterstützung oder Ablehnung des Europäischen Projekts übersetzen lassen. Illiberale und radikale anti-EU Kräfte werden vor allem von der Zuwanderung und dem Einfluss der offenen innereuropäischen Grenzen auf die Wirtschaft angetrieben, nicht jedoch von einer vollständigen Ablehnung der EU, die mit globalen Mächten wie China und den USA auf Augenhöhe agieren kann und die Möglichkeit hat, internationale Konflikte zu lösen.