Die politische Landschaft Schwedens hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Besonders deutlich wird dies vor dem Hintergrund der gestiegenen Bedeutung der GAL-TAN-Dimension: grün-alternativ-libertäre Werte stehen hier traditionell-autoritär-nationalistischen Werten gegenüber. Klassische Themen haben entsprechend an Bedeutung verloren. Allerdings ähnelt die Verteilung der Parteipositionen auf der GAL-TAN-Dimensionen stark der Verteilung auf der klassischen Links-Rechts-Dimension. Eine direkte Auswirkung hat diese Entwicklung auf die Auflösung der traditionellen politischen Lager, die bislang aus dem Mitte-Rechts-Block Alliansen (Moderaterna (M), Centerpartiet (C), Liberalerna (L) und Kristdemokraterna (K)) und dem linken “Rot-Grünen” Block (Socialdemokraterna (S), Miljöpartiet (MP), Vänsterpartiet (V)) bestand. Die Schwedendemokraten (SD) haben hier eine Schlüsselrolle zwischen den Blöcken gespielt, seitdem sie 2010 in das Parlament gekommen sind. Dies kann am Beispiel der Parlamentswahlen 2018 veranschaulicht werden, die in langen Koalitionsverhandlung mündeten: Die Wahlen brachten einen Patt zwischen S, MP und V (40,7 %) und M, L, C und KD (40,3 %) hervor. Die Schwedendemokraten errangen 17,5 % der Stimmen und verhinderten so eine Regierung eines der beiden Lager. Keine der Parteien wollte mit den Schwedendemokraten koalieren.
Im Januar 2019 schlossen Liberalerna (L), Centerpartiet (C), Miljöpartiet (MP) und die Sozialdemokraten (S) das sogenannte Januariavtalet-Abkommen. Das Abkommen sieht vor, dass S und MP weiterhin regieren, aber L und C Einfluss auf einige Politikbereiche (konkret: elf Bereiche und einige konkrete benannte Vorschläge) und den Haushalt nehmen können. Obwohl L und C seit 2004 Teil des Alliansen-Blocks sind, hat die allgemein gestiegene Bedeutung der GAL-TAN-Dimension und insbesondere die sog. Flüchtlingskrise von 2015 sie von den anderen Bündnispartnern entfremdet. Moderaterna (M) und Christdemokraten (KD) haben sich seit der Wahl 2014 immer stärker dem rechten TAN-Pol der Dimension genähert. Der Zusammenhalt des Alliansen-Bündnisses wurde auch durch den plötzlichen Rücktritt des Moderaterna-Vorsitzenden, Fredrik Reinfeldts, im Jahr 2015 untergraben. Ende 2016 schloss M eine Kooperation mit den Schwedendemokraten (SD) nicht länger aus, gefolgt von den KD im Jahr 2019. Die anderen beiden Bündnis-Parteien, C und L, sind weiterhin strikt gegen eine Zusammenarbeit mit den SD. Damit haben sich KD und M stärker in Richtung der Positionen von den SD und damit dem TAN-Pol angenähert, während L, C, MP und S sich andererseits stärker in Richtung GAL-Pol platziert haben, wobei sie ihre unternehmensfreundlichen Positionen beibehielten.
Obwohl das Januariavtalet-Abkommen aus strategischer Sicht durchaus sinnvoll erschien, ist seine Zukunft ungewiss. Dennoch markiert es einen historischen Schnitt in der Geschichte der schwedischen Politik: es bedeutet das faktische Ende des Alliansen-Bündnisses und führte zu einer neuen Gruppierung auf der Basis progressiver Werte, wohingegen die bisherigen Bündnisse (wie eben Alliansen) vor allem auf wirtschaftlichen Positionen beruhte. Möglicherweise steht Schweden eine Neuanordnung der politischen Konflikte entlang der neuen Dimensionen bevor. Diese Anordnung wäre durch die neu entstandenen Lager gekennzeichnet und nicht durch die Aufgabe der Lagerpolitik. Hier stehen sich Moderaterna, Christdemokraten und Schwedendemokraten auf der einen und Sozialdemokraten, Miljöpartiet, Centerpartiet und Liberalerna auf der anderen Seite gegenüber, wobei nun die Vänsterpartiet die Rolle als entscheidende Partei zwischen den beiden Lagern einnehmen könnte. Dennoch ist es hier zu früh, um ein abschließendes Urteil fällen zu können.
Die parlamentarische Situation in Europa und Schweden
Es gibt sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen der europäischen und schwedischen Politik. In beiden Fällen hat sich eine neue Machtbalance etabliert. Die traditionellen Parteien, vor allem Christdemokraten und Sozialdemokraten (bzw. in manchen Ländern Sozialkonservative) haben signifikant an Stimmen verloren und können in den (ehemals) “Großen Koalitionen” keine Mehrheiten mehr erreichen. Entsprechend werden grüne und liberale Parteien in der Regierungsfindung wichtiger. Gleichzeitig nehmen auch die Stimmenanteile von nationalistischen und rechtspopulistischen Parteien zu und erschüttern durch ihre Polarisierung die bestehenden Parteiensysteme. Ein Unterschied zwischen der schwedischen und europäischen Politik besteht jedoch darin, dass in Schweden grüne und liberale Parteien (Liberalerna und Miljöpartiet) stagnieren, während konservative Parteien (Moderaterna und Christdemokraten) hinzugewinnen.
Die wichtigsten Themen und das Wahlergebnis
Vor der Europawahl schienen Themen wie Identität, Kultur und Werte zu dominieren oder zumindest ebenso wichtig wie wirtschaftliche Themen (z.B. Handel und Landwirtschaft) wahrgenommen zu werden, die normalerweise bei EU-Wahlen entscheidend sind. Dies zeigten auch einige Umfragen vor der Wahl, in denen 1) Zuwanderung, Integration und Asylpolitik sowie 2) Klimaschutz und Umwelt am wichtigsten bewertet wurden, gefolgt von 3) Kriminalitätsprävention/Kampf gegen Terrorismus, 4) Verteidigung und Sicherheit sowie 5) das Verhältnis der EU zu ihren Mitgliedsstaaten. Allerdings waren vor allem die Themen 1) und 3) für die Wählerschaft der Schwedendemokraten, Moderaterna und Christdemokraten deutlich wichtiger als für die Wählerinnen und Wähler der Sozialdemokraten, Vänsterpartiet und Miljöpartiet. Genau umgekehrt verhielt es sich für die Themen Klimaschutz, Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechte und soziale Gerechtigkeit. Andere wichtige Themen waren der Friede in Europa, die Verteidigung liberaler Institutionen und Werte, die Eindämmung des erstarkten Populismus und der Widerstand gegen Extremismus.
Die Ergebnisse der Europawahlen in Schweden zeigen eine grundsätzliche Verschiebung nach rechts. Die drei Parteien auf der TAN-Seite des Spektrums (Moderaterna, Christdemokraten und Schwedendemokraten) haben gegenüber der Wahl 2014 rund 4 % hinzugewinnen können. Die GAL-Parteien (Sozialdemokraten, Miljöpartiet und Vänsterpartiet) haben hingegen im Durchschnitt 1,4 % verloren. Die Schwedendemokraten konnten mit 5,7 % die höchsten Zugewinne vorweisen, während Miljöpartiet mit 3,8 % die stärksten Verluste aufwies. Die Sozialdemokraten bleiben nach wie vor die größte Partei mit 23,6 % der Stimmen, gefolgt von Moderaterna (16,8 %), Schwedendemokraten (15,4 %), Miljöpartiet (11,4 %), Christdemokraten (8,7 %) und Vänsterpartiet (6,7 %).
Die Debatten vor der Wahl
Vor der Wahl betrachteten vor allem die Sozialdemokraten (S) die Europawahl als eine Möglichkeit, um Extremismus, vor allem aber Rechtsradikalismus und -populismus zu bekämpfen, die aus ihrer Sicht zentrale Bedrohungen für die liberalen Werte der EU darstellen. Vor allem die populistischen Regierungen in Mittel- und Osteuropa untergraben, aus Sicht der Partei, die Rechtsstaatlichkeit, Zivilgesellschaft, Bildungsinstitutionen und Pressefreiheit. Diese Bedenken teilten auch die Vänsterpartiet (V) und Miljöpartiet (MP), was in Debatten zwischen MP und den Schwedendemokraten (SD) deutlich wurde. MP argumentierte, dass illiberale Regierungen die Grundwerte der EU verletzen, während SD die Position vertrat, dass dies ein Ausdruck der Unterschiede der Mitgliedstaaten innerhalb der EU sei, die von EU-Föderalisten durch eine “Gleichmacherei” bedroht würde. S hob zudem die Bedeutung der Freizügigkeit und des gemeinsamen Marktes hervor, wobei hier Unternehmen nicht zulasten der Arbeitskräfte bevorzugt werden dürften. Entsprechend sollen Arbeitsbedingungen und Sozialrechte gestärkt werden. Konsequenterweise forderten die Sozialdemokraten gemeinsam mit V auch den Ausbau der sozialen Säule der EU (Europäische Säule der sozialen Rechte - ein gemeinsamer Rahmen, der aus 20 verschiedenen Prinzipien und Rechten besteht und sich für faire, gut funktionierende Arbeitsmärkte und Sozialsysteme einsetzt). Die Partei argumentiert auch, dass transnationale Bedrohungen wie Terrorismus und organisiertes Verbrechen nur mit transnationalen Maßnahmen bekämpft werden können. Sie fordert daher, wie Moderaterna, eine stärkere Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden.
In umweltpolitischen Fragen verfolgen die Sozialdemokraten eine strikte Linie und setzten sich für die Einhaltung strenger Maßnahmen ein, um zu gewährleisten, dass das Pariser Klimaabkommen eingehalten wird. Unternehmen sollen beispielsweise verpflichtet werden, mehr Verantwortung für ihren Anteil am Umweltschutz zu übernehmen. Unter den links-progressiven Parteien formulierten die Vänsterpartiet und Miljöpartietdie ambitionierteste Klimapolitik. Sie fordern, unter anderem, eine progressive Steuer auf Flugzeugreisen, höhere Investitionen in ein europäisches Schienennetzsystem sowie ein stärkerer Anteil für nachhaltige Landwirtschaft innerhalb der gemeinsamen Agrarpolitik der EU (Miljöpartiet). Themen wie Zuwanderung und Integration spielten bei den Sozialdemokraten und anderen Parteien nur eine untergeordnete Rolle vor den Wahlen, obwohl sich die Partei für eine gemeinsame europäische Zuwanderungspolitik einsetzte. Währenddessen forderte die Vänsterpartiet in Fragen der Zuwanderung mit einer “Koalition der Willigen” zusammenzuarbeiten statt auf einen Konsens aller Mitgliedstaaten hinzuarbeiten.
Die Sozialdemokraten (S) und Miljöpartiet (MP) waren die beiden Parteien, die sich am wenigsten EU-kritisch präsentierten, vor allem im Vergleich zu den rechten Parteien (Schwedendemokraten - SD, Moderaterna - M und Christdemokraten - KD) und der linksradikalen Vänsterpartiet (V). Obwohl sich V und SD in fast allen Themen diametral gegenüberstehen, haben beide Parteien vor der Wahl eine ähnliche EU-Haltung eingenommen. Beide Parteien sind nun eher für eine Reform der EU, vertreten also eine konstruktive Politik, und sind weniger für einen Austritt aus der EU. Wodurch ist der Wandel dieser Parteien zu erklären? Hier spielten die Brexit-Entwicklungen eine entscheidende Rolle, aber, vor allem für V, waren auch die Dringlichkeit des Klimaschutzes und die Bedrohung durch Rechtsextremismus wichtige Faktoren.
Die zuvor erwähnte Verschiebung der Mitte-Rechts Parteien (M und KD), die sich weiter nach rechts bewegt haben, wurde von den SD begrüßt. Sie lobten M und KD ausdrücklich dafür, dass sie sich bei den Themen Zuwanderung und Integration, innere Sicherheit, Verteidigung und nationale Souveränität stärker den SD angenähert haben. M, KD und SD haben hervorgehoben, dass sie nur komplexe und “echte” transnationale Themen auf europäischer Ebene lösen wollen. Dazu gehören unter anderem striktere Außengrenzkontrollen zur Eindämmung von Zuwanderung (durch eine Stärkung von Frontex, M und SD), der Kampf gegen internationale kriminelle Banden, Terrorismus (SD, KD und M) und den radikalen Islam (SD) und die Förderung von Freihandel und Umweltschutz. Sozialstaatliche Fragen sollen hingegen ausschließlich auf nationaler Ebene gelöst werden, was bedeutet, dass diese Parteien sich gegen die soziale Säule der EU, die von S und V vorgeschlagen wurde, ausgesprochen haben. Alle drei Parteien des rechten Spektrums haben zudem abfällig vom “Traum der Föderalisten eines europäischen Superstaates” gesprochen und sich stattdessen für eine “moderate”, weniger zentralisierte und bürokratische EU ausgesprochen, was in dem KD-Slogan “Make the EU ‘Lagom’ (moderat) again” deutlich wird.