In der Bundestagswahl haben sich SPD und CDU in der Mitte des politischen Feldes positioniert, und beide dramatisch verloren. Das war keineswegs ein Einzelfall, sondern liegt im Trend einer Reihe von Wahlen und Referenden in den USA und Europa. Daher ist es an der Zeit, das unter den spezifischen Umständen der Neunzigerjahre geborene Dogma des „Wahlen werden in der Mitte gewonnen" zu hinterfragen.
Warum aber hält sich das Mitte-Dogma trotz der vielen Gegenbeispiele? In allen deutschen Parteien wird die Strategiedebatte maßgeblich durch Umfragen und Fokusgruppen bestimmt. Selbstverständlich ist nichts daran auszusetzen, mittels Daten ein besseres Verständnis dafür zu gewinnen, was die Wähler umtreibt. Dabei wird jedoch gerne übersehen, dass die Demoskopen selbst strategische Grundannahmen haben, die es kritisch zu hinterfragen gilt. Dazu gehört auch die Strategie der Positionierung in der Mitte des Feldes.
Die taktische Positionierung außerhalb der Lebenswelt der Kernanhänger kann sich langfristig rächen. Denn die Folge sind Mobilisierungsschwierigkeiten, Vertrauensverlust und Flügelkämpfe bis hin zu Abspaltungen.
Zu weit aus ihrer Lebenswelt entfernt hat sich die SPD-Agenda. Die Abspaltung der WASG, und damit die permanente Etablierung der Linken in Westdeutschland, waren der unmittelbare Preis. Bis heute ist es der SPD nicht gelungen, das verlorene Vertrauen ihrer ehemaligen Wähler wiederzugewinnen. Wer also noch immer auf die vermeintliche „Neue Mitte“ schielt, verkennt dabei, dass das neoliberale Dogma von der sozialdemokratischen Lebenswelt nicht mehr akzeptiert wird. Es ist also schlichtweg falsch zu behaupten (siehe Wahlforscher Matthias Jung im Tagesspiegel vom 9.10.2017), der Einbruch der SPD sei mit ihrem Unvermögen zu erklären, den von Kanzler Schröder eingeschlagenen „Modernisierungskurs“ konsequent zu verfolgen. Innerhalb der SPD befeuert der politische Fetisch um „Hartz 4“ bis heute die Flügelkämpfe. In Wahlkämpfen demobilisiert der andauernde Vertrauensverlust die traditionelle Klientel.
Aber auch in der Union hat die weit aus der Lebenswelt zielende „Willkommenskultur“ zu Flügelkämpfen geführt. Eine Langzeitfolge dürfte die permanente Etablierung der AfD am autoritären Rand sein. Ob der Gang in die Jamaika-Koalition die Positionierung der CSU in der Lebenswelt der Union untergräbt dürfte auch davon abhängen, inwieweit Kanzlerin Merkel ihren „Modernisierungskurs“ hin zum libertären Pol weiter fortsetzen wird.
Unmittelbar gefährdet, in dieselbe Falle zu tappen, sind nun die Grünen mit dem Aufnehmen von Sondierungsgesprächen für eine vermeintliche Jamaika-Koalition, auch wenn die Verhandlungen letztendlich gescheitert sind. Bereits in den Flügelkämpfen auf dem Parteitag zeigte sich, dass der neue Kurs ins sogenannte bürgerliche Lager keineswegs von der gesamten Partei getragen wird. Die realpolitischen Kompromisse in der Regierungsverantwortung dürften dieses Unbehagen an der Basis noch verstärken.
Ungeklärt ist auch die Positionierung der Linkspartei in ihren Lebenswelten. Der Soziologe Andreas Reckwitz sieht die Lebenswelten der Linken in West- und Ostdeutschland, aber auch innerhalb Ostdeutschlands immer weiter auseinanderdriften (er bezeichnet die Metropolenlinken als neue Mittelschicht, und die „Abgehängten“ in den ländlichen Gebieten als alte Mittel- und Unterschicht). Wie die Linke diesen Spagat ohne massive Flügelkämpfe hinbekommen kann, ist derzeit noch offen.
Fazit
Mit dem Ende der Alternativlosigkeit ist auch die Strategie des „Wahlen werden in der Mitte gewonnen“ an ihr Ende gelangt. Erstens ist diese mystifizierte Mitte kein fixer Punkt, sondern bewegt sich mit dem Wertewandel der Gesellschaft und den politischen Herausforderungen einer Epoche. Zweitens macht die Mittefixierung die beiden Volksparteien nur noch schwer voneinander unterscheidbar, und treibt die Unzufriedenen in die Arme der Populisten an den Rändern.
Drittens geht die Mittefixierung zu Lasten der Glaubwürdigkeit einer Partei. Wer sich zu weit außerhalb der Lebenswelt der potentiellen Wähler positioniert riskiert Demobilisierung, und Flügelkämpfe. Ganz unabhängig von der ideologischen Positionierung der Parteien haben in internationalen Wahlen daher meist die Kandidaten gewonnen, die am authentischsten die Werte ihrer Kernanhänger personifizierten.
Progressive Politik sollte daher weniger auf flüchtige Umfragewerte starren, sondern politische Positionen tief in den Frames der eigenen Lebenswelten verankern.
In der Karte sieht man: „Glaubwürdigkeit" und „Authentizität" übersetzt sich als Positionierung innerhalb der Lebenswelt der Kernanhänger. Das Spannungsverhältnis zwischen taktischer Positionierung in Relation zu den anderen Parteien und der Verankerung in der eigenen Wertewelt produziert Konflikte, die als gelbe Blitze eingezeichnet sind.