Strategiedebatten der deutschen Parteien April 2017

Wie positionieren sich politische Bewegungen? Wie reagieren sie auf gesellschaftliche Stimmungen und mit welchen Themen verorten sie sich wie in der gesellschaftspolitischen Debatte?

In dieser Übersicht über politische Strategiedebatten politischer Parteien in ausgewählten europäischen und außereuropäischen Ländern bemühen sich die Verfasser darum, politische Analysen nicht in Textform, sondern grafisch aufbereitet und zugespitzt darzustellen. Wir hoffen, mit diesem Produkt einen Beitrag zu einer konstruktiven Diskussion zu leisten. Stand April 2017.

Welche politische Stimmung wird im Herbst 2017 herrschen?

Im Vorfeld der Bundestagswahlen 2017 wird in den deutschen Parteien um die politische Positionierung gerungen. Die Parteistrategen müssen dabei eine ganze Reihe oft widersprüchlicher Faktoren berücksichtigen: Welche politische Stimmung wird im Herbst 2017 herrschen? Welche Themen werden die politische Debatte bestimmen? In welchen Fragen wird der eigenen Partei und ihren Führungspersonen Kompetenz zugeschrieben? Was will die Basis, die Flügel, die Stammwählerschaft? Welche Koalitionsmöglichkeiten bieten eine Machtoption?

Diese Fragen müssen Wahlkämpfer zu allen Zeiten bedenken. Allerdings lassen sich Verschiebungen erkennen, wie auf diese Herausforderungen reagiert wird. In der sozial homogeneren Gesellschaft der Nachkriegszeit war vor allem die Mobilisierung der eigenen Klientel wahlentscheidend. Dementsprechend wetteiferten Parteien darum, über ausdifferenzierte Apparate und Vorfeldorganisationen möglichst tiefe Wurzeln in einem bestimmten sozio-kulturellen Milieu zu schlagen. Die Deindustrialisierung hat viele dieser Milieus aufgelöst, und zu massiven Wählerwanderungen zwischen den politischen Lagern geführt. Die Arbeiter und “kleinen Leute“ beispielsweise, ehemals Stammklientel der SPD, wählen heute überwiegend konservativ oder rechtspopulistisch. Die Angestellten im öffentlichen Dienst, früher eine konservative Klientel, wählen heute überwiegend sozialdemokratisch. Während die Wahlbeteiligung von Jahr zu Jahr zurückgeht, steigt die Zahl der Wechselwähler immer weiter an.

Wählerwanderung und Demobiliserungskampagne

Die Parteien reagierten auf diese neue Lage, indem sie weniger auf die Mobilisierung der eigenen Klientel und verstärkt auf die Werbung von ungebundenen Wählern „in der Mitte“ setzten. Die CDU führte diese Strategie bei der letzten Bundestagswahl auf die Spitze: mit einer gezielten Demobilisierungskampagne wurde die Wahlbeteiligung niedrig gehalten, die relativ höhere Mobilisierung der eigenen Klientel plus die Wechselwähler der Mitte sicherten den Wahlsieg. Statt der Vorfeldorganisationen bestimmen nun Fokusgruppen und Umfragen das Geschäft. Die massiven Verwerfungen der elektoralen Landkarten in Amerika (Trump und Sanders Rebellionen) und Europa (Aufstieg der Rechtspopulisten) zeigen jedoch die Grenzen dieser am Reißbrett entworfenen Strategien auf. Was aus taktischen Gründen als kluge Positionierung erscheint, kann als unglaubwürdig oder nicht authentisch wahrgenommen werden. Im schlimmsten Fall verliert eine Partei dann sowohl Stamm- wie auch Wechselwähler.

Allem Gerede vom Ende der Ideologien zum Trotz können sich Parteien also keineswegs beliebig in der politischen Landschaft positionieren, sondern müssen immer ihren eigenen Entwicklungspfad, und wichtiger noch die sozio-kulturelle Lebenswelt ihrer Unterstützer im Blick haben. Diese Lebenswelten sollten weniger als sozio-ökonomische Klassen, sondern eher als Diskursgemeinschaften verstanden werden. Selbstverständlich sind die zentralen Versprechen und historischen Erfahrungen der Lebenswelten, sowie ihre geteilten Werte, Weltbilder und Mythen keineswegs statisch, sondern bewegen sich innerhalb des politischen Diskursraumes. Im Gegensatz zu den manchmal sprunghaften Positionswechseln der Parteien bewegen sich die Lebenswelten aber eher im Schneckentempo von Generationswechseln. Positioniert sich eine Partei aus taktischen Gründen zu weit außerhalb der Lebenswelten ihrer Unterstützer, muss sie mit Mobilisierungsproblemen und Flügelstreit rechnen. Strategisch gesehen bedeutet das, dass die Entwicklungspfade und Lebenswelten bei der Bestimmung der taktischen Spielräume einer Partei berücksichtigt werden müssen. Eine Analyse dieser Opportunitätsbedingungen kann daher hilfreich sein, um die gegenwärtigen Richtungsdebatten in den Parteien besser zu verstehen.

Die drei Dimensionen der Grafik

Die Grafik bildet drei Dimensionen ab. Einmal die programmatische Position der Partei, wie sie von Parteitagen, Programmen und Spitzengremien vertreten wird. Zweitens die Lebenswelt der Kern-Anhänger, die in oft aber nicht ausschließlich milieuspezifischen Diskurs- und Wertegemeinschaften über längere Zeiträume stabil bleiben. Und schließlich die tagesaktuellen Richtungsdebatten, in denen Flügel und Führungspersönlichkeiten die um die Positionierung der Partei ringen. Ziel ist es, die gegenseitigen Abhängigkeiten dieser drei Dimensionen zu verdeutlichen und die potentiellen Verwerfungen anzudeuten, die sich aus dem Spannungsverhältnis der oft über Jahrzehnte stabilen Lebenswelten und den hochdynamischen taktischen Positionierungen einzelner Akteure ergeben.

Im Juni 2016 hatte die Internationale Politikanalyse bereits eine erste Visualisierung der Parteienlandschaft mit dem Ziel veröffentlicht, die Strategiedebatten einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Debatten in den sozialen Medien waren ebenso spannend wie kontrovers und haben uns dazu ermutigt, auch die Parteienlandschaften Schwedens, Kanadas, der Niederlande und Frankreichs zu visualisieren. In den Debatten zeigte sich jedoch auch, dass es hilfreich sein könnte, noch deutlicher zu machen, was genau mit diesem Instrument dargestellt werden kann und soll.

Wie wurden die Grafiken erstellt?

Erstens, die materielle Achse stellt die politischen Gestaltungsvorstellungen, die Primär- und Sekundärverteilung von Gütern, dar. In der angelsächsischen Literatur werden die Pole der materiellen Achse mit „links“ und „rechts“ bezeichnet. Im kontinentalen, vor allem aber deutschen Verständnis werden die Begriffe „links“ und „rechts“ jedoch oft mit Positionen assoziiert, die im hier genutzten Schema als „libertär“ bzw. „autoritär“ auf der kulturellen Achse abgebildet werden. Um diesen Missverständnissen vorzubeugen, werden die materiellen Pole mit „egalitär“ bzw. „elitär“ bezeichnet. 

Zweitens wurde hinterfragt, auf welcher empirischen Basis die Positionen der Parteien bestimmt werden. Die hier verwendeten Diskursanalysen sind jedoch qualitative, keine quantitativen Instrumente. Wem das zu „subjektiv“ ist, der möge sich an den Zweck der Visualisierungen erinnern: Debatten anzustoßen, nicht etwa sie wissenschaftlich zu dokumentieren. 

Drittens wurde häufig angemerkt, dass die Positionen nicht immer mit den Politiken der Parteien in Regierungsverantwortung übereinstimmen. Auch hier zwei Klarstellungen: Was dargestellt wird, sind Diskurse, nicht Politiken. Und wiederum sei daran erinnert, dass hier Momentaufnahmen abgebildet werden. Die Positionen der Parteien im April 2017 unterscheiden sich daher von denen im Juni 2016. Um die Fluidität und Dynamik der Diskurslandschaften noch einmal zu unterstreichen, wurden auch einige historische Positionen eingefügt, welche die Verschiebungen der Parteipositionen noch weiter verdeutlichen. Besonders interessant für die Analyse sind dabei die unterschiedlichen Zeithorizonte der Verschiebungen. Während sich die taktischen Positionierungen von Führungspersönlichkeiten (dargestellt als Pfeile mit Zitaten) im Wochentakt verändern, verschieben sich die strategischen Positionen der Parteien (die kräftigfarbigen Kreise) im Monats- bzw. Jahrestakt von Parteitagen und Wahlen, während die Lebenswelten der Kernanhänger (die blassfarbigen Ellipsen) sich meist nur im Laufe von Jahrzehnten oder Generationen bewegen. Stimmen die taktischen Positionierungen und die Wertewelt der Anhänger nicht überein sind Demobilisierung und Flügelkämpfe bis hin zu Abspaltungen die Folge.  

Weiterhin gilt: die Visualisierungen sollen das Führen von Strategiedebatten erleichtern. Über die exakten Verortungen der Parteien kann man – und sollte man – trefflich streiten.

Die einzelnen Parteien in der Übersicht

Die strategische Lage der SPD

Die SPD ist in den letzten vier Jahrzehnten vom linken in das bürgerliche Lager und zurück gewandert. Mit ihrem Kurs der „Neuen Mitte“ befand sich die Partei außerhalb der kulturellen Lebenswelt ihrer eigenen Klientel, sprich dem Selbstverständnis und den Werten der Basis und der Stammwählerschaft. Historische Wahlniederlagen in den Jahren 2009 und 2013 waren die Folge. In der Großen Koalition hat sich die SPD ein Stück nach links (Mindestlohn, Mietpreisbremse, Rente, Ende der Sparpolitik) und zum libertären Pol („Homo-Ehe“, Frauenquote, Entgeltgleichheit) bewegt. Gleichzeitig signalisiert das Lavieren in der TTIP/CETA Frage, die Unterstützung des harten Austeritätskurses in der Eurokrise sowie das Zurückrudern in der Energiewende, dass weiter „wirtschaftsfreundliche“ Positionen rechts von der Mitte vertreten werden. Der Dialog mit den „besorgten Bürgern“, Vorratsdatenspeicherung und die „Haft im Heimatland“ für ausländische Kriminelle zielen dagegen auf den autoritären Pol. Insgesamt hat sich die SPD jedoch wieder mehr im Zentrum ihrer sozio-kulturellen Lebenswelt positioniert. Auf der kulturellen Achse will die SPD die moderne Gesellschaft gegen den Rückfall in Biedermeier, alten Nationalismus und Chauvinismus verteidigen. Die üblichen Angrenzungsrituale von SPD, Linken und Grünen, etwa über unterschiedliche Vorstellungen zu EU oder NATO, zeigen jedoch, dass ein Linksbündnis (Rot-rot-grün) keinesfalls unumstritten ist. Weiter umstritten ist, ob und wieweit sich die SPD vom eigenen Regierungshandeln absetzen darf, ohne in eine Glaubwürdigkeitsfalle zu geraten.

Mit der Kür von Martin Schulz zum neuen Parteichef und Kanzlerkandidaten hat die SPD die Chance, sich neu zu positionieren. Das Versprechen von Schulz die „Fehler der Agenda 2010 zu korrigieren“ zielt dabei ebenso auf die Stammwählerschaft wie das „Arbeitslosengeld Q“. Schulz setzt dabei die Kurskorrekturen seines Vorgängers Sigmar Gabriel fort, der die SPD Stück für Stück aus der „Neuen Mitte“ zurück in die sozialdemokratische Lebenswelt  geführt hatte. Der „Schulz Effekt“ lässt sich also auch damit erklären, dass der Kandidat nach Jahren der Entfremdung nun wieder die Wertewelt der Kernanhänger anspricht. Mit seinem Abrücken von den Eurobonds („The only interesting thing about bonds is James“) und dem Flirt mit einer Ampel-Koalition signalisiert Schulz jedoch auch, dass er sich Optionen nach allen Seiten offen halten will. Ähnlich wird auf der kulturellen Achse die „Ehe für alle“ mit dem Ruf nach der „elektronischen Fußfessel für Gefährder“ ausbalanciert.  

Die strategische Lage der CDU/CSU

Die Union verbindet seit jeher die global-liberalen und national-sozialen Strömungen des Konservativismus. Die Auseinandersetzung über die vielzitierte „Sozialdemokratisierung“ der CDU findet derzeit eher auf der kulturellen als auf der materiellen Achse statt. Auf der materiellen Achse kehrte die CDU nach dem historischen Ausreißer des neoliberalen Leipziger Parteitages zur Position der Union in der Ära Kohl („Die Rente ist sicher“) zurück, und ist damit wieder näher an die CSU mit ihrem Betreuungsgeld herangerückt. Die Auseinandersetzungen innerhalb der Union verlaufen daher im Moment eher entlang der kulturellen Achse. Angela Merkels „Modernisierung“ gipfelte in der „Willkommenskultur“. Wie weit diese Position von der sozio-kulturellen Lebenswelt der Unionsanhänger entfernt ist, lässt sich an der Reaktion des national-konservativen Flügels ablesen. Der „Flüchtlings-Deal“ mit der Türkei sowie der Asylkompromiss dienten also nicht nur dazu, der AfD den Wind aus den Segeln zu nehmen, sondern auch den Konflikt in der Union beizulegen. Wie der Herausforderung durch die AfD „im eigenen Quadranten“ begegnet werden soll, ist weiterhin umstritten. In der Union plädieren einige dafür, die Kulturkrieger von der AfD durch die Betonung der materiellen Achse („Schwarze Null“, Steuersenkungen, Streichung des Soli, Mindestrente) zu schwächen. Andere, vor allem in der CSU, folgen dem Strauß-Diktum, dass es rechts (sprich autoritär) von der Union keinen Platz für eine demokratische Partei geben dürfe. Mit kulturell konservativen Themen (Vater-Mutter-Kind Familie, Innere Sicherheit) soll der AfD das Wasser abgegraben werden. Ob diese Strategie aufgehen kann, ist offen. Einerseits besteht die Gefahr, mit dem Aufgreifen der Themen die Positionen der AfD hoffähig zu machen. Andererseits hat die Union jahrzehntelange Erfahrung darin, durch ein Zusammenspiel zwischen wirtschaftsliberalen und kulturell-konservativen Flügeln rechtspopulistische Konkurrenten in die Schmuddelecke abzudrängen. Positioniert sich die Union jedoch auf der kulturellen Achse zu weit am autoritären Pol erschwert sie damit eine Koalition mit einer wieder libertäreren FDP oder den Grünen.

Die CDU-Spitze versucht, die Gemüter in den eigenen Reihen zu besänftigen, den Streit zwischen CDU und CSU zu beenden und der Herausforderung durch die nationalautoritäre AfD zu begegnen, ohne damit die Positionierung als „Volkspartei der Mitte“ aufzugeben. Auf dem Parteitag forderte daher Bundesinnenminister Thomas de Maizière „Wir müssen viel mehr abschieben“, und eröffnete aufs Neue die Debatte um die Leitkultur. Führende Christdemokraten rufen nach einem Islamgesetz. Die Kanzlerin wiederum fühlt sich an den Beschluss des CDU-Parteitages, die „doppelte Staatsbürgerschaft abzuschaffen“ nicht gebunden. Es scheint, als habe die CDU ihre frühere Strategie, den Nationalautoritären durch materielle Botschaften den Wind aus den Segeln zu nehmen, zugunsten der von der bayrischen Schwester lange propagierten Konzentration auf kulturelle Themen aufgegeben. Während sich CDU und CSU auf der kulturellen Achse annähern, zielen ihre materiellen Botschaften auf entgegengesetzte Pole. Während die CSU nach einer „familienpolitischen Offensive“ ruft, stellt die CDU Steuerentlastungen in Aussicht.

Die strategische Lage der Grünen

Der lange Marsch durch die Institutionen spiegelt sich in der Wanderung der Grünen vom links-libertären ins bürgerliche Lager. Treibende Kräfte sind hier einerseits die wirtschaftsfreundlichen Kräfte, die das „Grüne Wachstum“ propagieren, andererseits die „Tugendwächter“, denen vorgeworfen wird, mit Veggie-Tagen, Rauchverboten und Tempolimits  eine „Ökodiktatur“ errichten zu wollen. Libertäre Kräfte verstehen die Grünen als die Verkörperung der gesellschaftlichen Modernisierung, deren Rolle es ist, „Homo-Ehe“, Patchwork-Familienbild und Gleichstellung gegen die autoritäre Anfeindungen zu verteidigen. Auf der materiellen Achse verläuft die innerparteiliche Auseinandersetzung zwischen „Green Growth“ und „Degrowth“. In der Frage einer Vermögensabgabe stehen sich unterschiedliche Positionen gegenüber. Unklar ist auch, ob die Grünen noch für eine rot-rot-grüne Koalition zu begeistern sind, oder eher auf ein schwarz-grünes Projekt auf Bundesebene zielen.

Das schwarz-grüne Lager um den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann („Ich bete für die Kanzlerin“) hatte auf dem Parteitag im November 2016 eine Niederlage erlitten. Während Kretschmann einer Vermögenssteuer verhindern wollte, „um den Mittelstand zu schützen“, beschlossen die Delegierten eine „verfassungsfeste, ergiebige und umsetzbare Vermögensteuer für Superreiche". Auf den egalitären Pol zielt auch der Parteitagsbeschluss, bestimmte Hartz IV-Sanktionen abzuschaffen. Mit seiner Warnung, den Doppelpass nicht über Generationen hin zu vererben, liegt der Co-Bundesvorsitzende und Co-Spitzenkandidat Cem Özdemir jedoch weiter auf schwarz-grünem Kurs. Forderungen nach mehr Videoüberwachungen passen dabei zu den Rufen nach mehr Regulierungen und Kontrollen, die von grünen Vordenkern als Weg in die „Öko-Diktatur“ kritisiert werden.

Die strategische Lage der LINKEN

Vor allem im Osten Deutschlands muss sich die Linke der Herausforderung durch die rechtspopulistische AfD stellen. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Provokationen von Wagenknecht und Lafontaine („Ende des Euro“, „Fremdarbeiter“, „Gastrecht“), als Versuche, sich näher an der sozio-kulturellen Lebenswelt der eigenen Klientel zu positionieren. Mit dieser Wanderung der ehemaligen PDS aus dem links-libertären Quadranten in Richtung des national-autoritären Pols läge die Linkspartei im Trend der europäischen Linken, die sich dem Anschlag des globalisiertes Finanzkapitalismus auf die Wohlfahrtssysteme durch den Rückzug in die „nationale Wagenburg“ erwehren wollen. Unklar ist weiterhin, ob sich die Linke für eine rot-rot-grüne Koalition aussprechen wird oder weiter auf Fundamentalopposition setzt.

Wagenknecht legt mit weiteren an die autoritären Wähler gerichteten Provokationen nach. So sah sie bei der Kanzlerin eine "Mitverantwortung für den Berliner Terroranschlag“. Merkel habe mit einer "unkontrollierten Grenzöffnung" und einem "Kaputtsparen" der Polizei den Terror möglich gemacht. Dieser Kurs scheint aber derzeit weder in der Parteiführung noch in der Fraktion mehrheitsfähig zu sein. Vor allem Parteichefin Katja Kipping hat sich offensiv von den autoritären Tönen Wagenknechts distanziert und bekräftigt, dass die Linke sich klar gegen Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit positioniert. Auch der Co-Parteichef Bernd Riexinger hat Wagenknecht öffentlich zurechtgewiesen und aufgefordert, sich an die Programmatik und die Kernaussagen der Partei zu halten. Riexinger ist auch skeptisch gegenüber der Strategie, Wähler von den Nationalisten zurückzuholen: "Wir werden nicht jene gewinnen, die aus nationalistischen Gründen zur AfD gehen“.

Die strategische Lage der FDP

In ihrer neoliberalen Hochphase wurde der bürgerrechtliche Flügel der FDP beinahe völlig ausgelöscht. Mit der starken Betonung der digitalen Bürgerrechte versucht die FDP nun, an dieses verloren gegangene Erbe als Bürgerrechtspartei anzuknüpfen. Intern umstritten ist die Frage, wie mit der Herausforderung durch die AfD umzugehen sei. Einige konservative Landesverbände plädierten dabei für eine eher national-liberale Positionierung, um die Flanke am marktradikalen Pol zu schützen. Die Parteiführung scheint eher auf den klaren Kontrast durch die Betonung libertärer Positionen zu setzen. Damit wäre die FDP einerseits ein wertvoller Bündnispartner für die Union, die sich aus taktischen Gründen weniger libertär aufstellen dürfte. Andererseits ermöglicht die Bewegung weg vom marktradikalen Pol auch eine Ampelkoalition mit der SPD und den Grünen. 

Christian Lindner hat sich mit seiner Forderung, die FDP breiter aufzustellen, durchgesetzt. Neben den klassischen Forderungen nach Steuersenkungen finden sich nun auch die digitalen Bürgerrechte und der Ruf nach dem “Mondfahrprojekt Bildung” im Programm. Mit der „Beta Republik“ Deutschland wirbt die FDP für digitalen Gründermut und Deregulierung. Die leichte Bewegung zum libertären Pol wurde jedoch von Lindner selbst konterkariert, als dieser der Forderung, Fußball-Nationalspieler Mesut Özil solle die Nationalhymne mitsingen, zustimmte. Lindner erklärte zu dem von ihm ironisch als "Özil-Gate" bezeichneten Wirbel, „die Nationalhymne sei ein Symbol des Staates und des Grundgesetzes“, zu dem sich jeder bekennen solle. 

Die strategische Lage der AfD

Wie wichtig die Positionierung einer Partei in ihrer sozio-kulturellen Lebenswelt ist, kann man auch an der AfD beobachten. Innerhalb kurzer Zeit verlor der Gründungsparteichef Bernd Lucke die Kontrolle über die rechts-autoritären Geister, die er rief. Dasselbe Schicksal könnte auch der neuen Parteichefin Frauke Petry ereilen, wenn sich die nativistischen Scharfmacher durchsetzen. Einerseits versucht sich die Partei, mit einem Grundsatzprogramm als feste Größe im deutschen Parteiensystem zu etablieren. Andererseits braucht die Alternative das Spiel mit ihrem Paria-Status, um sich durch ständige, sorgfältig platzierte Provokationen als „Antisystempartei“ zu profilieren. Die AfD hat geschickt verstanden, den Zorn der „Wutbürger“ gegen das „rot-grün verseuchte 68er Deutschland“ zu instrumentalisieren und sich als Projektionsfläche für die Ängste, Sorgen und Befindlichkeiten der „besorgten Bürger“ anzubieten. In dieser Eskalationsspirale driftet die Partei jedoch immer weiter aus dem bürgerlichen Lager an den autoritären Pol. Die neuesten Auseinandersetzungen in der Führungsspitze, wo die „rote Linie“ zum Rassisten, Antisemiten, Identitären und Rechtsextremen zu liegen habe, zeigen, dass diese strukturelle Dynamik nur schwer aufzuhalten sein wird.

Im parteiinternen Machtkampf mit dem völkischen Flügel  war Co-Parteichefin Frauke Petry mit ihrem „Zukunftsantrag“ in die Offensive gegangen. Auf dem Parteitag scheiterte jedoch ihr Vorstoß, die „AfD bis 2021 als realistische Machtoption für die Wähler auf[zu]bauen". Nach ihrer Niederlage sieht Petry die Partei „auf dem falschen Weg“ in die Fundamentalopposition. Bereits im Vorfeld war deutlich geworden, dass sich der nationalliberale Flügel mit der Forderung nach dem Parteiausschluss des rechten Scharfmachers Björn Höcke nicht durchsetzen konnte. Auf dem Parteitag wurde deutlich, dass sich die AfD nicht von den „völkischen“ Positionen abgrenzen will. Mit Forderungen nach „Ausbürgerungen“ und einer „Mindest-Abschiebequote“ positioniert sich die AfD noch weiter am autoritären Rand. Auf der materiellen Achse bewegt sich die Steuersenkungspartei mit ihren Forderungen nach mehr Arbeitslosengeld und Rente ein wenig vom wirtschaftsliberalen Pol weg in Richtung ihrer rechtspopulistischen Gesinnungsgenossen Trump und Le Pen.

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