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Archiv der sozialen Demokratie

 

Kompromiss statt Konfrontation: Das Gothaer Programm 1875

Vor 150 Jahren endete auf dem Gothaer Parteitag eine langjährige Konfrontation zweier sozialdemokratischer Arbeiterbewegungen mit der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei.

Ende der 1860er Jahre: Nicht nur Argumente fliegen, sondern auch Fäuste. Die beiden rivalisierenden politischen Arbeiterbewegungen – der 1863 unter Führung von Ferdinand Lassalle gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) und die 1869 in Eisenach gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) – lieferten sich keineswegs nur Auseinandersetzungen in Wort und Schrift. Im ADAV etwa war die sogenannte Knüppelgarde von Wilhelm Tölcke aktiv, um Veranstaltungen zu sprengen und den Gegner zu terrorisieren. Auch die SDAP war keineswegs zimperlich: In Fürth mussten 1869 nach einer Versammlung Polizisten ADAV-Anhänger „auf ihr Zimmer begleiten, um sie vor Tätlichkeiten zu schützen“. Hier brach sich ein Männlichkeitskult Bahn, der sich politisch kanalisiert austoben konnte.

In unterschiedlichen Vorstellungen und Ideen über die Umgestaltung der Gesellschaft, Politik und Wirtschaft lagen die Ursachen dieser gewalttätigen Auseinandersetzungen. So lehnte zum Beispiel der ADAV die Gründung von Gewerkschaften ab und war auf seine Führungsfigur Lassalle ausgerichtet. Die SDAP dagegen war dezentral organisiert und unterstützte die entstehende internationale Gewerkschaftsbewegung. Dennoch fanden beide Bewegungen vor 150 Jahren zusammen. Zwischen dem 22. und 27. Mai 1875 veranstalteten sie in Gotha einen gemeinsamen Parteitag, der schließlich in der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) mündete.

Sechs Jahre zwischen den Prügelabenteuern und der Vereinigung sind eine lange Zeit. Doch um grundsätzliche politische Differenzen zu überbrücken, kann eine solche Zeitspanne auch zu kurz sein. Von daher waren äußere Einflussfaktoren für das Zustandekommen des Vereinigungsparteitags im thüringischen Gotha mitentscheidend.

Die Gründung des Nationalstaats

Drei Aspekte waren dabei zentral. Zum ersten war mit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 eine Tatsache geschaffen worden, die vorangegangene Grabenkämpfe zwischen ADAV und SDAP durch die Macht des Faktischen aus der Welt schaffte. Denn darüber, wie ein geeinter, demokratisch verfasster Nationalstaat in seiner äußeren Gestalt aussehen sollte, gab es grundlegend unterschiedliche Vorstellungen. Der ADAV favorisierte eine sogenannte „kleindeutsche Lösung“ unter Vorherrschaft Preußens.

Auf der anderen Seite wiederum erhofften sich die Vertreter der SDAP eine großdeutsche Lösung, also einen deutschen Nationalstaat unter Einbezug des (deutschsprachigen) Österreichs. Die Hoffnung war, so eine Übermacht Preußens eindämmen zu können. Die Protagonisten der SDAP, August Bebel und Wilhelm Liebknecht, entwickelten und verbreiteten dabei einen Preußenhass, der selbst Karl Marx und Friedrich Engels zu weit ging.

Mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs und seinen nun gegebenen Grenzen wäre ein Fortführen dieser Debatte eine theoretische Übung ohne Belang geworden. Das erste Hindernis für eine Annäherung war aus dem Weg geräumt worden.

Geteilte Verfolgungserfahrung und fehlender Wahlerfolg

Zum Zweiten mussten sowohl der ADAV als auch die SDAP erleben, dass beide gleichermaßen und zunehmend unter politischer Verfolgung durch die staatlichen Behörden zu leiden hatten. Und nichts schweißt mehr zusammen als ein gemeinsamer Feind. August Bebel und Wilhelm Liebknecht von der SDAP wurden im Leipziger Hochverratsprozess von 1872 zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt. Im Juni 1874 wurden in Berlin ADAV-Mitglieder verhaftet und verurteilt sowie der Berliner ADAV aufgelöst.

Schließlich konnten beide Strömungen trotz Verfolgung zwar einen Aufwärtstrend in ihren Mitgliederzahlen und bei ihren Wahlergebnissen verzeichnen (der Stimmanteil beider sozialistischen Parteien stieg bei den Reichstagswahlen von 1871 und 1874 von 3,2 auf 6,8 Prozent). Doch gemeinsam statt in Konkurrenz war der Sache der Arbeiterbewegung mehr gedient und die Erfolgsaussichten stiegen.

An der Basis hatten mit dem Verschwinden gegenseitiger körperlicher Attacken und der gemeinsamen Erfahrung der Verfolgung die Barrieren längst zu bröckeln begonnen. Beide Parteispitzen sondierten Möglichkeiten einer Vereinigung. Eine gemeinsame Kommission sollte über Satzung und Programm einer gemeinsamen Partei diskutieren.

Pragmatismus siegt

Ausgeschlossen von diesen Vorverhandlungen war eine der späteren Leitfiguren der vereinigten Sozialdemokratie – August Bebel. Er saß wegen Majestätsbeleidigung in Haft. Frustriert schrieb er an Friedrich Engels aus dem Gefängnis, dass er über den Einigungsprozess „kein endgültiges Urteil“ habe, „denn ich bin außer aller Kenntnis, ich weiß nur, was die Zeitungen berichteten“.

Von dem, was Bebel erfuhr, war er nicht überzeugt. Zu viele Ideen von Lassalle waren ihm noch in den Entwürfen. Deshalb formulierte er sogar im Gefängnis einen programmatischen Gegenentwurf, schickte ihn aber nicht ab. Denn Bebel war auch politischer Realist und Pragmatiker: „Sie dürfen nicht vergessen“, schrieb Bebel an Friedrich Engels schon im Mai 1873, „dass die Lassalleschen Schriften tatsächlich – das lässt sich nicht wegdiskutieren – durch ihre populäre Sprache die Grundlage der sozialistischen Anschauung der Massen bilden.“

So lief denn auch der Gothaer Parteitag im Mai 1875 friedlich ab und scharfe Kontroversen wurden vermieden. 56 Delegierte der SDAP und 74 des ADAV versammelten sich im Gothaer „Tivoli“. Bebel überließ auf Seiten der SDAP Wilhelm Liebknecht die Bühne, der das Referat über die Programmfrage hielt. Der für das Referat aus Perspektive des ADAV vorgesehene Wilhelm Hasselmann verzichtete auf einen eigenen Beitrag und zeigte so die Übereinstimmung mit dem Programm.

Programmatisch konnte der ADAV Ferdinand Lassalles (zu der Zeit längst widerlegtes) ehernes Lohngesetz, wonach der Lohn nie über das Existenzminimum steigen könne, prominent platzieren. Auf organisatorischer Ebene setzte sich die SDAP durch, indem sie eine zentralistische Struktur, wie sie bisher im ADAV dominiert hatte, im Parteiaufbau verhinderte.

Kritik durch Karl Marx

Karl Marx kritisierte das Gothaer Programm von 1875 scharf als „durchaus verwerfliches und die Partei demoralisierendes Programm“. Kapital- und Ausbeutungsverhältnisse wurden zwar im Programm benannt, aber eben nicht im Sinn von Marx. Satz für Satz, manchmal Wort für Wort nahm Marx das Programm auseinander: Er kritisierte falsche Prämissen wie „Die Arbeit ist die Quelle allen Reichtums und aller Kultur“, bemängelte Verkürzungen oder verfälschende Zitate aus den Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation oder die unklare Verwendung von Begriffen wie jenen des „Arbeitsertrags“.

Doch nicht nur an den ökonomischen Grundlagen des Programms ließ Marx kein gutes Haar. Auch im praktischen Teil des Programms, das Aufgaben für eine Umgestaltung der Gesellschaft formulierte, sah Marx nur fehlgeleitete Vorstellungen Lassalles am Werk:  „Doch das ganze Programm, trotz alles demokratischen Geklingels, ist durch und durch vom Untertanenglauben der Lassalleschen Sekte an den Staat verpestet […]“.

Marx‘ Kritik war die eines Theoretikers im fernen Londoner Exil, der auf seine Sichtweise beharrte. Die konkreten politischen Bedingungen in der Zeit nach 1871 konnte er hervorragend ausblenden. Entsprechend verlief das Schicksal seiner Kritik: Die Empfänger seines Schreibens aus den Reihen der ehemaligen SDAP hielten die Kritik unter Verschluss.

Programmatik für alle

Insgesamt war das verabschiedete Gothaer Programm eher eine Mischung und Verbindung aus den Ideen von Lassalle und Marx, die mit schlagwortartiger Verkürzung die Klassenstruktur der Gesellschaft allgemeinverständlich machen wollte: „In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Kapitalistenklasse; die hierdurch bedingte Abhängigkeit der Arbeiterklasse ist die Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen.“ Das waren für die Mitglieder der neuen Partei und ihre Wähler Sätze, die sie nachvollziehen und unterschreiben konnten. Gleiches galt für die politischen wie die gesellschaftlichen Forderungen nach freier Meinungsäußerung, Einführung einer progressiven Einkommenssteuer oder Verbot der Sonntagsarbeit.

All diese Forderungen ließen sich unter den bestehenden Machtverhältnissen nicht umsetzen. Überhaupt ist die Bedeutung des Gothaer Parteitags vor allem in dem organisatorischen Zusammenschluss zweier politischer Arbeiterbewegungen zu sehen, die trotz unterschiedlicher Sichtweisen eine gemeinsame Basis fanden. Das war durchaus auch eine wichtige Grundlage, um die nur drei Jahre nach dem Gothaer Parteitag einsetzende Verfolgung unter dem sogenannten Sozialistengesetz zu überstehen. Die SAP und ihr Programm wurden denn auch erst 1890/91 von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und dem Erfurter Programm abgelöst.

Jürgen Schmidt, Karl-Marx-Haus Trier

 

Weiterführende Literatur:

Programm und Organisationsstatuten der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, beschlossen auf dem Vereinigungskongreß in Gotha 1875, in: Dieter Dowe/Peter Klotzbach (Hg.), Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, Bonn 2004, S. 164-170.

Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms (Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei), in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Berlin 1987, Bd. 19, S. 11-32 sowie Marx-Engels-Gesamtausgabe MEGA, Berlin 1985, Bd. I/25, S. 3-25.

Jürgen Schmidt: August Bebel. Kaiser der Arbeiter. Eine Biografie, Zürich 2013.

Thomas Welskopp: Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000.


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