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Paula Thiede und der Kampf um gewerkschaftliche Gleichberechtigung im Kaiserreich

In die Gewerkschaften konnte die Frauenbewegung lange nicht nachhaltig vordrängen. Patriarchale Strukturen und männlich geprägte Berufsbilder standen dabei im Weg. Paula Thiede sticht deshalb als erste Frau an der Spitze einer Gewerkschaft heraus.

Die Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts war anfangs eher bürgerlich geprägt. Als Konsequenz daraus führten Sozialistinnen wie Clara Zetkin die Abspaltung einer proletarischen Frauenbewegung herbei. Mit dem „Verein zur Wahrung der Interessen der Arbeiterinnen“ entstand auch eine Interessensvertretung von Arbeiterinnen.

Zutritt zu Gewerkschaften erhielten Frauen jedoch nur sehr langsam und begrenzt. Der Arbeitskampf war lange eine Männerdomäne und Arbeiterinnen, die sich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzten, nahmen viele nicht als Mitstreiterinnen, sondern als Konkurrenz wahr. Bezeichnend dafür ist, dass der Streik als zentrale Aktionsform auf Männer zugeschnitten war. Wer wie viele Frauen im 19. Jahrhundert gar nicht, besonders prekär oder in quasi unverzichtbaren Berufen arbeitete, konnte nur unter erschwerten Bedingungen streiken.

In Berlin kam in den 1890er-Jahren eine Gegenbewegung auf. Die gewerkschaftliche Organisation der Buchdruck-Hilfsarbeiterinnen schaffte es, sich im Gewerkschaftskampf zu etablieren. 1898 vereinigten sie sich mit den männlichen Arbeitern zum „Verband der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiter und -arbeiterinnen Deutschlands“ (VBHi). Im Mittelpunkt dieser Bewegung stand Paula Thiede, die die erste Vorsitzende des Verbandes war – und das als Frau.

Sozialdemokratie und Frauenbewegung

1878 veröffentlichte August Bebel „Die Frau und der Sozialismus“. Damit schaffte es der Kampf für die Gleichberechtigung von Mann und Frau in den sozialdemokratischen Mainstream. 1891 wurden die Forderungen nach geschlechtlicher Gleichberechtigung und dem Wahlrecht für Frauen im Parteiprogramm der SPD festgeschrieben. Das hieß aber nicht, dass diese Forderungen jetzt weit oben auf der Agenda gestanden hätten. Im Gegenteil, noch über die Jahrhundertwende hinaus hielt sich bei vielen Arbeiter: innen die Überzeugung, dass die Erwerbstätigkeit von Frauen ein „kapitalistisches Übel“ sei, dass es abzuschaffen gelte. Männliche Arbeiter sahen ihre Arbeitsplätze durch erwerbstätige Frauen in Gefahr. Dazu kamen traditionelle Rollenbilder, nach denen es die „Wesensbestimmung“ der Frau sei, sich um die Familie und den Haushalt zu kümmern. Manche forderten sogar ein Arbeitsverbot für Frauen.

Selbst führende weibliche Figuren in der sozialistischen Bewegung wie Rosa Luxemburg sahen die „Frauenfrage“ nicht als hervorgehobene Herausforderung, sondern als Teilaspekt der notwendigen sozialen und politischen Veränderungen an. So lag es an den Frauen, die explizit in der Frauenbewegung aktiv waren, die entsprechenden thematischen Schwerpunkte selbst zu setzen. Für die proletarische Frauenbewegung war es also ein dreifacher Kampf – für die allgemeinen Forderungen der Arbeiter:innenbewegung, für frauenpolitische Belange innerhalb der Arbeiter:innenbewegung und für die Beteiligung an Auseinandersetzungen innerhalb von Partei und Bewegung.

Gewerkschaften als Männerdomäne

Bereits seit Ende der 1860er-Jahre gab es erste Gewerkschaften, die Frauen die Mitgliedschaft ermöglichten. Teils entstanden auch reine Frauengewerkschaften. Weil viele männliche Arbeiter Angst vor einer wachsenden Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt hatten, kam es aber nicht zu einer flächendeckenden Öffnung der Gewerkschaften. Patriarchale Strukturen waren eine zusätzliche Barriere für weibliche Gewerkschaftsmitglieder, um aktiv an Aktionen teilzunehmen oder führende Positionen zu übernehmen.

Außerdem erschwerten vielerorts die Vereinsgesetze das gewerkschaftliche Engagement von Frauen. Bis 1908 war es Frauen verboten, sich in politischen Vereinen und Parteien zu engagieren. Es war umstritten, ob die Gewerkschaften unter dieses Verbot fielen. Deshalb nahmen vor allem die politisch orientierten Gewerkschaften Frauen aus Vorsicht nicht auf. Dementsprechend entfaltete auch der Beschluss des Halberstädter Gewerkschaftskongress von 1892, nach dem Arbeiterinnen die Mitgliedschaft in Gewerkschaften ermöglicht werden sollte, wenig Wirkung: Zur Jahrhundertwende hatten gerade einmal 19 der 55 freien Gewerkschaften weibliche Mitglieder.

Frauenarbeit war lange politisch und gesellschaftlich beschränkt worden, was zur Folge hatte, dass sich eine „Berufstradition“ erst noch herausbilden musste und es den Arbeiterinnen dadurch erschwert wurde, überhaupt ein Arbeits- und Klassenbewusstsein zu entwickeln. Außerdem waren viele Frauen aus familiären Gründen oder aufgrund fehlender Qualifikationen – weil ihnen die Weiterbildung verwehrt wurde – nur temporär beschäftigt, was ein dauerhaftes Engagement in einer Gewerkschaft zusätzlich behinderte. Zusätzlich zu diesen äußeren Beschränkungen vertraten aber auch viele Frauen selbst ein traditionelles Rollenbild und wurden deshalb nicht politisch aktiv.

Dennoch gelang es Arbeiterinnen einzelne Erfolge zu erzielen. In der Diskussion über sinkende Geburtenraten in den 1910er-Jahren setzten sie durch, dass sich die SPD und die Gewerkschaften nicht mehr gegen einen „Gebärstreik der Frauen“, sondern gegen einen „staatlichen Gebärzwang“ aussprachen. International waren es deutsche Gewerkschafterinnen, die die Einführung des internationalen Frauentages forcierten.

Ausnahmen bestätigen die Regel

Während sich die meisten Gewerkschaften gegen eine Einflussnahme der Arbeiterinnen wehrten, nehmen die Gewerkschaften der Buchdruck-Hilfsarbeiter:innen in Berlin einen Platz als Vorreiterinnen im Kampf um die gewerkschaftliche Gleichberechtigung ein. Stellvertretend dafür steht Paula Thiede, eine Buchdruck-Hilfsarbeiterin aus Berlin, die 1898 als erste Frau weltweit Vorsitzende einer gemischtgeschlechtlichen Gewerkschaft wurde.

Die Buchdruck-Hilfsarbeiter:innen waren weniger qualifiziert als die Gehilf:innen und hatten deshalb eine schlechtere Stellung, was sich auf die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung auswirkte. Ihr Kampf drehte sich deshalb im Kern stets darum, im Vergleich mit den Gehilf:innen nicht als „Arbeiter:innen zweiter Klasse“ abgestempelt zu werden. Außerdem gab es in diesem Berufsfeld eine geringe geschlechtsspezifische Identifikation, somit entstand der Gleichheitsgedanke organischer als in anderen Berufsmilieus. Ein Aufbrechen stereotypischer Rollenbilder war leichter (was nicht heißt, dass sie nicht existierten). 1890 gründete sich der Verein der Arbeiterinnen an Buch- und Steindruckschnellpressen, in dem Paula Thiede 1891 Mitglied wurde.

Thiede war in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung: Sie zeichnete sich dadurch aus, dass sie Geschlecht und Klasse im gewerkschaftlichen Kampf als zusammenhängende Faktoren herausstellte und nicht als Gegensätze. Dies sollte ihr gewerkschaftliches Engagement prägen. In diesem wurde sie auch von ihrem Ehemann Wilhelm bestärkt. Das ist deshalb hervorzuheben, da der Widerstand der Ehemänner häufig ein zentraler Grund war, wieso Frauen nicht gewerkschaftlich aktiv wurden. In der Regel wurde auch von Arbeiterinnen erwartet, alleine für Familie und Haushalt zu sorgen, während der politische Raum dem Mann zugeschrieben wurde.

Der große Erfolg von Paula Thiede war es, die geschlechtlich getrennten Gewerkschaftsverbände der Hilfsarbeiter:innen im Buchdruck zusammenzuführen. Startpunkt dafür war der Streik im Buchdruckgewerbe im Jahr 1896: Die Hilfsarbeiter und Hilfsarbeiterinnen forderten gemeinsam einen 9-Stunden-Tag, der für die Gehilf:innen bereits eingeführt worden war.

Die erste Gewerkschaftschefin

Nach dem erfolgreichen Ende des Streiks machte Paula Thiede es sich zur Aufgabe, die Verbände zu einen, um den Arbeitskampf gemeinsam bestreiten zu können. Dagegen gab es zunächst vermehrt Widerstände – nicht nur von männlicher Seite. Auch die Arbeiterinnen waren sich nicht einig, ob eine Vereinigung nicht zu früh käme. Gründe dafür könnten gewesen sein, dass einige Frauen die organisatorische Trennung befürworteten, um die Unabhängigkeit von den Männern zu wahren. Des Weiteren wurde befürchtet, dass die Frauen in einer gemeinsamen Gewerkschaft untergehen könnten. Thiede konnte sich letztendlich durchsetzen und wurde 1898 Vorsitzende des VBHi. Dabei war nicht nur eine Frau an der Spitze einer Gewerkschaft ein Novum, der VBHi war auch der erste Verein, in dem sich Frauen und Männer gemeinsam und (formal) gleichberechtigt organisierten.

Ausgehend von Berlin versuchten Thiede und ihre Mitstreiterinnen Gleichberechtigung und die intersektionale Verflechtung von Klasse und Geschlecht im Verband zu etablieren. Das größte Hindernis waren dabei die starken Ortsverbände, die von Männern geführt wurden, die sich ihre Positionen nicht von Frauen nehmen lassen wollten. Thiede musste ihren Posten als Vorsitzende zwischenzeitlich sogar abgeben.

Als sie 1902 erneut gewählt wurde, setzte sie sich dafür ein, dass ihre Stelle zu einer hauptamtlichen Beschäftigung wurde. Insgesamt machte sie sich dafür stark, Frauen im Verband aktiv zu fördern, Verantwortung zu übernehmen. Dies führte dazu, dass die Gewerkschafterinnen des VBHi vermehrt auch in politische Ämter drängten. Zudem wirkte sich das Empowerment auf die Mitgliederzahlen aus: bei Thiedes Amtsantritt zählte der Verband rund 1.300 Mitglieder, bis 1914 hatte sich diese Zahl mehr als verzehnfacht. Die Verteilung der Mitgliederzahlen macht aber auch deutlich, wieso der VBHi als Positivbeispiel für weibliches Gewerkschaftsengagement hervorsticht: die Frauen waren im Verband stärker vertreten, was wiederum auf das Berufsumfeld zurückzuführen ist. Die vergleichsweise geringe männliche Dominanz erleichterte Frauen die Teilhabe am Arbeitskampf.

Jonas Flöck

 

Quellen und Literatur

Fuhrmann, Uwe: Feminismus in der frühen Gewerkschaftsbewegung (1890-1914) – die Strategien der Buchdruckerei-HilfsarbeiterInnen um Paula Thiede, in: Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung, Bd. 199, Bielefeld 2021.

Fuhrmann, Uwe: Gewerkschafterinnen in der Erinnerungskultur der Gewerkschaften. Arbeitspapier aus der Kommission »Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie« 10. März 2020, https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=8855.

Ihrer, Emma: Die Arbeiterinnen im Klassenkampf. Anfänge der Arbeiterinnen-Bewegung, ihr Gegensatz zur bürgerlichen Frauenbewegung und ihre nächsten Aufgaben, Hamburg 1898.

Losseff-Tillmanns, Gisela: Frauenemanzipation und Gewerkschaften, Wuppertal 1978.

Nave-Herz, Rosemarie: Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland, Hannover 1997.

Wolff, Kerstin: Die Frauenbewegung organisiert sich. Die Aufbauphase im Kaiserreich, in: Bundeszentrale für politische Bildung online, 08.09.2008, https://www.bpb.de/themen/gender-diversitaet/frauenbewegung/35256/die-frauenbewegung-organisiert-sich/.


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