Die Ostdeutschen haben 1990 zwar dem Beitritt zur Bundesrepublik zugestimmt und wurden somit auf dem Papier zu souveränen Mitgliedern dieser Gesellschaft. Am Zustandekommen der institutionalisierten Muster kultureller Wertsetzung in dieser Republik, also der Grund- und Werteordnung samt ihren vielfältigen gesellschaftlichen Ausprägungen und Verstetigungen, waren sie dagegen nicht beteiligt. Stattdessen hatten sie sich in den Jahrzehnten zuvor – oft als im besten Sinne ‚skeptische Demokraten‘, welche viele von ihnen in mancherlei Hinsicht bis heute geblieben sind – an einer gänzlich anderen Werteordnung abgearbeitet. Nach 1989 waren deren ideelle Prämissen und kulturelle Praktiken indes überwiegend hinfällig. De facto wurden die Ostdeutschen 1990, auch wenn sie mit der Einheit die bundesdeutsche Staatsangehörigkeit erhielten, also keineswegs zu »vollwertigen Partnern in der sozialen Interaktion«. In der Realität waren sie in der Berliner Republik zunächst keine »souveränen Mitglieder« dieser Gesellschaft und konnten nur allmählich zu solchen werden.
Die vielfältigen hieraus folgenden Verächtlichmachungen sind bis heute Gegenstand heftiger, immer wieder neu entfesselter Kritik. Die über diesen Umstand geäußerte Empörung, vor allem durch und unter Ostdeutschen, ist zwar nachvollziehbar; durch sie – so viel lässt sich nach 30 Jahren Erfahrung sagen – ändert sich aber nichts am Status der Ostdeutschen innerhalb dieser Ordnung. Dasselbe gilt für die zwar überdurchschnittliche, aber ambivalente ostdeutsche Elitenrepräsentanz im Politikbetrieb mit Angela Merkel an der Spitze.
Vielleicht wird erst mit noch mehr Abstand erkennbar werden, wie sehr die zunächst rechtspopulistische und bis heute zunehmend rechtsextreme AfD als gesamtdeutsch neu gegründete Partei an historisch gewachsene und nach dem Aufbruch quasi auf den wieder leeren östlichen Straßen liegen gebliebenen Ideen von Basisdemokratie, unmittelbarer Volksherrschaft und Bürgerbeteiligung anknüpfen konnte. Sie inszeniert sich als die einzige derzeit im Bundestag vertretene Partei, die als vermeintlich bürgerbewegte Alternative zum „System der Altparteien“ Volksabstimmungen auf Bundesebene fordert und schon allein damit überdurchschnittlich viele durch den Parteienstaat frustrierte Nichtwähler_innen in Ost und West mobilisieren konnte. Sie verbindet in der Rede vom „solidarischen Patriotismus“ offen das Nationale mit dem Sozialen, verspricht eine Politik „von unten nach oben“ und stößt damit in Ostdeutschland nicht zuletzt deswegen auf weniger Widerspruch als im Westen, weil sich ihre intellektuellen Stichwortgeber diesen Osten in einer Weise als Lebensraum zu eigen gemacht haben, die in der sonstigen bundesdeutschen Parteienlandschaft ihresgleichen sucht.
Mehr noch bleibt ein spezifisch ostdeutscher Überhang, der sich nur erklären lässt, wenn man zwei entscheidende Aspekte dieser jungen Parteigeschichte einbezieht. Da ist erstens die besondere Art und Weise, in der das Führungspersonal der AfD und ihr rechtsintellektuelles Umfeld lokale Protestbewegungen wie Pegida zu kooptieren wussten und in der man sich langfristig auf Ostdeutschland als „Experimentierküche“ eingelassen hat. Diese besondere Art und Weise des Umgangs mit dem Osten verlieh der Behauptung, man sei ‚die‘ politische Alternative, eine einzigartige Mobilisierungskraft und Folgerichtigkeit. Zweitens sind hier einige spezifisch ostdeutsche Demokratievorstellungen bedeutsam, die vor 1989 geprägt und dann im Umbruch mit besonderem Nachdruck verhandelt wurden. Sie sorgten für den nötigen gesellschaftlichen Resonanz- und Toleranzraum, in dem die völkisch-illiberalen Untertöne des von Björn Höcke beschworenen „solidarischen Patriotismus“ bzw. der Rede von der „Partei des gesunden Menschenverstandes“, wie es im AfD-Grundsatzprogramm heißt, als nicht per se anstößig wahrgenommen werden.