Akademie für Soziale Demokratie

Emilia Roig (2021): Why We Matter: Das Ende der Unterdrückung. Berlin: Aufbau Verlag

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Kurzgefasst und eingeordnet von Paula Schweers
Paula Schweers ist Journalistin und Autorin. Sie studierte Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und Europäische Kulturgeschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Derzeit wird sie beim ARTE Magazin und an der FreeTech Academy of Journalism und Technology zur Redakteurin ausgebildet.


buch|essenz

Kernaussagen

Emilia Roig beschreibt in ihrem Buch Why We Matter unterschiedliche Formen von Unterdrückung und intersektionaler Diskriminierung. Sie erklärt auch anhand ihrer eigenen Biografie, wie Rassismus, Sexismus, Klassismus und Queerfeindlichkeit in der Gesellschaft ineinandergreifen. Zentral sind hierbei folgende Aussagen:

  • Das Konzept der Intersektionalität zeigt, dass sich Formen von Diskriminierung und Ungleichheit gegenseitig verstärken. Das bedeutet, dass neben Sexismus beispielsweise auch Homo- und Transfeindlichkeit und Klassismus bekämpft werden müssen, um effektiv dagegen vorzugehen.
  • Dieser Kampf für Gleichberechtigung ist auch ein Kampf gegen die Deutungshoheit einer vermeintlichen Norm, die abweichendes Verhalten sowie andere Lebensformen und Identitäten ablehnt.
  • Die Aufdeckung und Analyse von Diskriminierungen muss mit der Kritik an der kapitalistischen Leistungs- und Ausbeutungslogik einhergehen.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Die Wahl des amerikanischen Präsidenten Donald Trump im Jahr 2016 und der Aufschwung rechtspopulistischer Bewegungen haben eine breite Debatte über die strategische Ausrichtung linker Politik angestoßen. Insbesondere über den Sinn von Identitätspolitik, also die Ausrichtung von Politik an der Berücksichtigung von marginalisierten Gesellschaftsgruppen, wird seitdem auch innerhalb der Sozialen Demokratie kontrovers diskutiert. Im Kern dreht sich die Debatte darum, ob durch einen zu starken Fokus auf Antidiskriminierungpolitik eine Politik der sozialen Gerechtigkeit unmöglich wird. Emilia Roig liefert mit ihrem Buch einen Beitrag zu dieser Debatte. Sie widerspricht diesem Ansatz und ruft stattdessen zu radikaler gesellschaftlicher Solidarität auf.


buch|autorin

Emilia Roig ist Aktivistin und Politikwissenschaftlerin und seit 2017 Gründerin und Direktorin des Center for Intersectional Justice (CIJ) in Berlin.

Das Institut will Gleichstellungs- und Anti-Diskriminierungsarbeit in Deutschland und Europa durch eine intersektionale Perspektive erweitern.

Roig promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Science Po Lyon. Sie lehrte in Deutschland, Frankreich und den USA Intersektionalität, Critical Race Theory und Postkoloniale Studien.


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buch|inhalt

Roig erklärt in ihrem Buch, wie sich die Unterdrückung in unterschiedlichen Bereichen des alltäglichen Lebens, etwa in Ausbildung und Beruf, in der Medizin oder in den Medien, auswirkt. Hierbei greift sie auf Erfahrungen aus ihrer eigenen Biografie sowie auf Texte von Autor_innen aus der kritischen Rassismusforschung und der postkolonialen Theorie zurück. Eine Schlüsselrolle spielt hierbei das Konzept der Intersektionalität von Kimberlé Crenshaw. Im letzten Teil des Buches skizziert sie zudem, wie sich diese Diskriminierungen aufbrechen ließen und wie eine Gesellschaft ohne Unterdrückung aussehen könnte.

Teil 1: Formen der Unterdrückung

Das Konzept der Intersektionalität stellt ein Fundament von Roigs Arbeit dar, welchen sie im ersten Teil des Buches erläutert. Eingeführt wurde der Begriff 1989 von der US-amerikanischen Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw, die die Metapher einer Straßenkreuzung verwendet, um spezifische Formen von struktureller Diskriminierung zu beschreiben, die zuvor weder rechtlich noch politisch ausreichend erfasst wurden.

Der Verkehr auf der metaphorischen Straßenkreuzung kann aus allen Richtungen kommen. Er kann mal in die eine Richtung fließen, mal in die andere. Passiert ein Unfall, kann ein Verkehrsteilnehmer dafür verantwortlich sein oder mehrere, die aus verschiedenen Richtungen kamen. Genauso erklärt Crenshaw Diskriminierung am Beispiel einer schwarzen Frau. Sie kann sexistisch als Frau diskriminiert werden, rassistisch als Schwarze oder gleichzeitig als Schwarze und als Frau. In diesem Beispiel reicht eine alleinige Beschäftigung mit Sexismus ebenso wie die ausschließliche Analyse von Rassismus nicht aus, um die Diskriminierung zu erklären. Gerade durch die Verschränkung beider Formen entsteht schließlich eine besonders prekäre Lage für die Betroffene.

Aus diesen Annahmen leitet Roig ab, dass bei jeder Analyse von Diskriminierung vier Dimensionen in den Blick genommen werden sollten. Sie benennt die individuelle, die institutionelle, die strukturelle und die historische Dimension. Eine zentrale These ist hierbei, dass alle diese Ebenen durch die kapitalistische Leistungs- und Ausbeutungslogik sowie die Auswirkungen des Kolonialismus geprägt sind. So betreffen dessen Folgen nicht nur die politische, soziale und kulturelle Konstellation vieler ehemaliger Kolonien. Auch rassistische und orientalistische Denkmuster und Institutionen in Europa werden hierdurch beeinflusst. Eurozentrismus und Rassismus sind weiterhin allgegenwärtig.

Anhand ihrer eigenen Biografie zeigt Roig dies beispielsweise in Bezug auf das Feld Bildung und die Hindernisse, mit denen sie in der Schule und vor der Aufnahme ihres Studiums konfrontiert war. Sie reflektiert über die oftmals gewundenen Bildungswege, die People of Colour und Menschen mit Migrationsgeschichte aufgrund von strukturellen und institutionellen Hürden, Stereotypen und Vorurteilen nehmen müssen.

In der Debatte rund um sogenannte Identitätspolitik wird häufig das Argument eingebracht, dass auch weiße Menschen als Mehrheitsgruppe Opfer von Unterdrückung und Rassismus sein könnten. Dem stellt sich Roig entschieden entgegen, indem sie aufzeigt, dass in diesem Fall jedoch die Ausübung der Macht durch die gesellschaftliche Mehrheit nicht gegeben ist. Zudem ist in diesen Fällen zumeist auch höchstens eine Dimension, wie zum Beispiel die individuelle Ebene, von Diskriminierung erfüllt und die anderen drei nicht. Aus diesem Grund stellt Roig klar, dass es eine Art umgekehrten Rassismus nicht geben kann.

Teil 2: Lösungsansätze

Das Patriarchat, wie es Roig beschreibt, kann nur von Frauen, Männern und allen anderen Geschlechtern gemeinsam überwunden werden. Das Hinterfragen der binären Geschlechterrollen, auch hinsichtlich stereotyper Männerbilder, ist hierfür unabdingbar. Ebenfalls müssen ungleiche finanzielle Verhältnisse angegangen werden. Eine Aufwertung von Sorgearbeit gegenüber Lohnarbeit sowie die Reform des Steuersystems, das Singles benachteiligt und den ungleichen Verdienst zweier Partner_innen fördert, sind hierbei Bausteine.

Zentral ist zudem die kritische Hinterfragung des oftmals eurozentristischen Wissenssystems, aus dem sich unsere Wahrnehmung der Welt speist. Der Kanon der Texte, die wir lesen, Lehrpläne an Schulen und Universitäten oder die Medien, die wir konsumieren, schließen häufig die Perspektiven marginalisierter Gruppen aus. Diese selektive Wahrnehmung der Welt lässt sich durch eine Vielfalt von Stimmen im Bildungssystem und in den Medien verändern.

Hinter all dem steht die Systemfrage. Deutlich wird, dass die Formen der Diskriminierung erst aufhören können, wenn das sie tragende System des ausbeuterischen Kapitalismus infrage gestellt wird. Hierfür kämpfen auch soziale Bewegungen wie Black Lives Matter. Roig stellt klar, dass sie einen Zwischenschritt in Richtung einer gleichberechtigten Gesellschaft ermöglichen. Bevor die Menschen sich annähern und universalistische Prinzipien hochhalten können, müssen erst die marginalisierten Gruppen Gehör finden und ihre Verletzungen gewürdigt werden.

Hieran anschließend ist das Konzept des strategischen Essentialismus aus der postkolonialen Theorie wichtig. Es wurde in den 1980er-Jahren von dem indischen Literaturkritiker und Theoretiker Gayatri Spivak eingeführt. Es bezieht sich auf eine politische Taktik, bei der Minderheiten und diskriminierte Personen auf der Grundlage einer gemeinsamen geschlechtsspezifischen, kulturellen oder politischen Identität mobilisieren aktiv werden, um ihre Anliegen zu vertreten. Dies schließt die Vielfalt innerhalb der Gruppen nicht aus. Die vorübergehende Gruppenidentität ist ein Weg, um Ziele wie Gleichberechtigung zu erreichen und somit Veränderung anzustoßen.


buch|votum

Emilia Roig liefert mit ihrem Buch eine erfahrungsbasierte Einführung in das Konzept der Intersektionalität, die Debatte um Identitätspolitik und die Formen der Unterdrückung, die Menschen aus marginalisierten Gruppen alltäglich erleben. Zuweilen fokussiert sie sich stark auf den biografischen Aspekt, während theoretische Konzepte etwas zu kurz kommen. Allerdings reflektiert sie diesen Zugang auch und erläutert, dass die kollektiven Erlebnisse von Menschen mit Diskriminierungserfahrungen absichtlich einen sehr großen Teil des Buches einnehmen sollen.

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Verlag: Aufbau Verlage
Erschienen: 15.02.2021
Seiten: 397
ISBN: 978-3-351-03847-2