Akademie für Soziale Demokratie

Stephanie Kelton (2020): The Deficit Myth. Modern Monetary Theory and the Birth of the People’s Economy. New York: PublicAffairs

Zur Verlagsseite

Kurzgefasst und eingeordnet von Michael Dauderstädt
Michael Dauderstädt ist freiberuflicher Berater und Publizist und war bis 2013 Leiter der Abteilung Wirtschaft- und Sozialpolitik der FES.


buch|essenz

Kernaussagen

Die Modern Monetary Theory MMT räumt mit den traditionellen Fehlinterpretationen der Rolle von Geld, Schulden und Defiziten auf. Diese moderne Geldtheorie ist eine neuere Richtung in den Wirtschaftswissenschaften, die das Geld, Steuern und Staatsschulden ganz anders interpretiert als klassische oder liberale Theorien. In entwickelten Volkswirtschaften mit eigener Währung kann der Staat beliebig viele Maßnahmen finanzieren. Die Grenzen staatlicher Ausgaben liegen nur bei einer möglichen Inflation, wenn die so verursachte Nachfrage die Produktionsmöglichkeiten der Wirtschaft übersteigt.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Das Buch eröffnet progressiver Politik analytisch und argumentativ große Spielräume. Es geht aber auch kritisch mit der Sozialdemokratie ins Gericht, wenn sie sich von den Mythen der traditionellen Ökonomie (Defizit- und Schuldenangst) blenden lässt oder glaubt, die Besteuerung der Reichen (die aus anderen Gründen sehr sinnvoll ist) sei notwendig, um wünschenswerte staatliche Ausgaben zu finanzieren.

Verlag: PublicAffairs
Erschienen: 2020
Seiten: 336
ISBN-13: 9781541736184

buch|autorin

Stephanie Kelton, Ph.D., ist Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Stony Brook Universität in New York. Sie hat den prominentesten US-amerikanischen „Sozialdemokraten“, Bernie Sanders (Senator für Vermont; bewarb sich 2016 und 2020 um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten), zu wirtschaftspolitischen Themen beraten. Kelton gilt als führende Vertreterin der modernen Geldtheorie MMT.


Stephanie Kelton: buch|essenz anhören


buch|inhalt

Das Buch umfasst acht Kapitel, wobei die ersten sechs weitverbreitete ökonomische Mythen entlarven. Die beiden letzten widmen sich den wahren Problemen, vor denen die USA (und die Welt) stehen und möglichen Lösungen.

Der Staat schafft das Geld, er muss es daher nicht einnehmen

Der Staat (die Münze und die Zentralbank) produziert das Bargeld. Er prägt Münzen, druckt Papiergeld und schafft Buchgeld durch Gutschriften auf Bankkonten. Während Haushalte, Unternehmen und untere Staatsebenen (z. B. Gemeinden und Länder) Geld einnehmen oder leihen müssen, um Ausgaben zu tätigen, kann der Staat es einfach schaffen. Mit diesem vom Staat geschaffenen Geld können dann Haushalte und Unternehmen ihre Steuern bezahlen. Die Steuerpflicht zwingt die Gesellschaft, Leistungen für den Staat zu erbringen, die der Staat für das Gemeinwohl braucht (z. B. Infrastruktur, Sicherheit, Bildung, Gesundheit). Der Staat ist nicht auf geldliche Einnahmen angewiesen, aber auf die Arbeit und Ressourcen, die er braucht, um seine Aufgaben zu erfüllen.

Nicht alle Staaten sind gleich unabhängig bei der Geldschaffung. Die USA haben erst 1972 die Golddeckung abgeschafft, also die Verpflichtung, Dollars gegen Gold zu einem festen Kurs einzutauschen. Die Golddeckung beschränkt die Geldmenge, die der Staat schaffen kann. Moderne Staaten haben „Fiatgeld“, das frei vermehrbar ist. Aber nicht alle Staaten sind so geldpolitisch souverän. Viele Länder des globalen Südens haben sich in Fremdwährungen verschuldet, die sie nicht mit selbst geschaffenem Geld begleichen können. Auch in der Eurozone haben die einzelnen Länder keine Währungssouveränität, wie etwa Griechenland in der Eurokrise schmerzhaft spüren musste.

Es ist also ein Irrtum, dass der Staat seine Ausgaben nur in dem Maß tätigen kann, wie er Einnahmen durch Steuern oder den Verkauf von Anleihen erzielt. Das heißt nicht, dass Steuern überflüssig wären. Sie haben andere wichtige Funktionen (z. B. die privaten Ausgaben zu lenken). Staatliche Haushaltsdefizite schaffen Einkommen bei Haushalten und Unternehmen. Sie waren oft zu niedrig, wie eine hohe und andauernde Arbeitslosigkeit zeigt.

Trotzdem kann der Staat nicht ohne problematische Folgen beliebig viel Geld ausgeben. Zu hohe Defizite sind an einem Anstieg der Inflation zu erkennen. Sie signalisiert, dass der Staat auf zu viele Ressourcen (z. B. Arbeit) zugreifen will. Die so entstehende Knappheit treibt die Preise nach oben.

Jobgarantie statt Inflationsangst

Der Staat soll sich nicht um das Defizit kümmern, sondern seine Politik danach ausrichten, ob die Wirtschaft eher Arbeitslosigkeit oder Inflation aufweist. Die traditionelle, von früheren ökonomischen Theorien geprägte Politik neigte zu sehr zur Sparpolitik und nahm unnötige Arbeitslosigkeit in Kauf.

Die Zentralbank unterstellte die Existenz einer sogenannten natürlichen Arbeitslosigkeit; einer Arbeitslosenrate, die die Inflation nicht beschleunigt. Wenn diese Arbeitslosenrate erreicht war, so die Annahme, führe jede expansive Politik nicht zu mehr Beschäftigung, sondern beschleunige die Inflation. Obwohl diese Rate de facto nicht zu messen war und tatsächlich trotz seit 2012 immer weiter sinkender Arbeitslosigkeit die Preise nicht schneller stiegen, erhöhte die Zentralbank die Zinsen.

Auch die Fiskalpolitik war meistens auf die Vermeidung oder Beschränkung von Schulden und Defiziten fixiert, statt das Ziel einer möglichst niedrigen Arbeitslosigkeit zu verfolgen. Sie sollte zwar die Inflation im Auge behalten, aber nicht um den Preis vieler Arbeitsloser und verschenkten Wohlstands.

Die moderne Geldtheorie MMT empfiehlt als eine bessere Politik eine staatliche Jobgarantie. Sie bietet jedem Arbeitswilligen einen Arbeitsplatz zu einem ordentlichen Mindestlohn (z.B. 15 $/Stunde) an, vorzugsweise in kommunalen Dienstleistungen. Die Finanzierung muss aber vom Zentralstaat kommen, da nur er Geld schaffen kann, während die Gemeinden lediglich Geldnutzer sind.

Die Ausgaben für ein solches Programm steuern die Wirtschaft automatisch zur Vollbeschäftigung. Bei ohnehin niedriger Arbeitslosigkeit fallen kaum Ausgaben an, bei hoher entsprechend starke, wodurch die Nachfrage und die Konjunktur stabilisiert werden.

Schreckgespenst Staatsschulden

Staatsschulden werden fast immer als Problem betrachtet: Schuldenuhren ticken; Pro-Kopf-Schulden täuschen den Bürger_innen vor, sie hätten hohe Zahlungsverpflichtungen; allgemein wird von der Belastung künftiger Generationen gesprochen. Fragt man aber danach, ob Staatsanleihen abgeschafft werden sollen, fürchten die meisten Menschen Vermögensverluste. Denn sie (bzw. Banken und Versicherungen in ihrem Auftrag) halten Ersparnisse in Form von Staatspapieren.

Im Fall der USA hält China einen beachtlichen Teil der Staatsschulden. Aber auch das ist keine Bedrohung. Chinas Forderungen entstanden aus chinesischen Exportüberschüssen, die in US-Dollar bezahlt wurden, für die China Staatsanleihen kaufte. Deren Verkauf durch China würde nur bedeuten, dass China dann wieder Dollars hält, auf die es keine Zinsen bekommt.

Amerikanische Staatsschulden sind risikofrei – im Gegensatz zu griechischen Staatsschulden oder privaten Schulden. Auch die Zinsbelastung ist kein Problem. Die Zentralbank hat es in der Hand, die Rendite der Staatspapiere zu bestimmen. Allerdings können diese Zinszahlungen die Einkommensverteilung verschlechtern, da die entsprechenden Vermögen vor allem von Reichen gehalten werden.

Die USA haben mehrfach in ihrer Geschichte die Staatsschulden durch mehrjährige Haushaltsüberschüsse abgebaut. Diese Phasen staatlicher Sparsamkeit endeten regelmäßig in tiefen Rezessionen. Das kann nicht überraschen: Wenn der Staat spart, müssen private Haushalte oder Unternehmen Schulden machen. Da sie – im Gegensatz zum Staat – dies nicht unbegrenzt tun können, müssen sie früher oder später in den Sparmodus wechseln, um ihre Bilanzen zu sanieren. Das reduziert die Nachfrage und löst Krisen aus.

Haushaltsdefizite fördern Wachstum

Traditionelle Ökonomen befürchten, dass staatliche Kreditaufnahme private Investitionen verdrängt. Sie unterstellen, es gäbe in einer Volkswirtschaft eine bestimmte Masse an Ersparnissen, um die der Staat und die private Wirtschaft (Haushalte und Unternehmen) konkurrieren. Das Geld, das der Staat zur Finanzierung seiner Defizite nutzt, stehe dann privaten Investoren nicht mehr zur Verfügung, was das Wachstum schwäche.

Diese Sichtweise ist verkehrt. Haushaltsdefizite des Staates erhöhen die der Privatwirtschaft zur Verfügung stehende Geldmenge. Umgekehrt nehmen Haushaltsüberschüsse des Staates, also wenn mehr Steuereinnahmen als Ausgaben anfallen, der privaten Wirtschaft Geld weg. Die Kreditaufnahme des Staates ersetzt in der Vermögensbilanz der privaten Haushalte nur Bargeld durch Staatsanleihen.

Staatsanleihen vergibt der Staat über sogenannte Primärhändler (das sind in der Regel die größten Geschäftsbanken) an private Investoren. Der Preis einer Anleihe mit einem bestimmten Zinssatz und ihre Rendite stehen in einem spiegelbildlichen Verhältnis. Je höher der Preis bzw. Kurs, desto niedriger die Rendite. Die Zentralbank kann aber den Kurs bestimmen, indem sie – potenziell unbegrenzt – Anleihen zu einem bestimmten Preis kauft.

Nur in Ländern mit beschränkter monetärer Souveränität (z. B. in der Eurozone oder Ländern, die sich in Fremdwährungen verschulden) gilt, dass der Staat mit privaten Investoren konkurriert. Da diese Staaten nicht selbst Geld schaffen können, sind sie darauf angewiesen, dass die Kapitalmärkte ihre Anleihen kaufen und dabei die Rendite bestimmen. Damit werden Schuldenkrisen (wie 2010 in Griechenland) möglich.

Eine Handelspolitik für realen Wohlstand

Donald Trump sah Handelsbilanzdefizite als eine Bedrohung für die USA. In der Tat haben viele amerikanische Arbeiter_innen ihre Jobs verloren, weil die Produktion ins Ausland verlagert oder von billigen Importen verdrängt wurde.  Allerdings waren auch viele andere Faktoren mindestens ebenso bedeutsam. Aber letztlich bedeuten Importüberschüsse, dass das Inland über mehr Güter und Dienstleistungen, also realen Wohlstand, verfügt.

Die USA haben das Privileg, dass die Welt ihre Währung, den US-Dollar, als Bezahlung für diese Güter und Dienstleistungen akzeptiert. Die Sonderstellung des Dollar resultiert aus der wirtschaftlichen Dominanz der USA seit dem 2. Weltkrieg. Das 1944 geschaffene Weltwährungssystem, genannt Bretton-Woods-System, etablierte einen Gold-Dollar-Standard, der die Möglichkeit einschränkte, Handelsbilanzdefizite zu finanzieren. Mit der Auflösung des Systems 1972/73 sind die Freiräume gewachsen.

Aber diese Freiräume differieren stark von Land zu Land. Vor allem arme Entwicklungsländer sind auf Dollars angewiesen, um wichtige Importe zu finanzieren. Ihre Exporte bestehen meist aus Rohstoffen oder Billigwaren, die von niedrigen Löhnen abhängen. Die internationalen Institutionen, vor allem der Internationale Währungsfonds (IWF), haben diese Länder gedrängt, diese Produktionsstruktur beizubehalten. Wirklich erfolgreiche Länder wie China haben sich dagegen entwickelt, indem sie ihre Industrie in Bereiche höherer Wertschöpfung  sozusagen veredelt haben.

Eine Handelspolitik, die nicht finanzielle Bilanzen, sondern realen Wohlstand zum Ziel hat, muss dagegen Sozial- und Umweltstandards durchsetzen. Jobgarantien in allen Ländern müssen alternative Beschäftigungsmöglichkeiten anbieten, um handelsbedingte Arbeitslosigkeit zu vermeiden.

Der Sozialstaat ist finanzierbar

Der US-amerikanische Wohlfahrtsstaat hat vor allem drei große Programme: die Rentenversicherung (Social Security) und die zwei Gesundheitsfürsorgeprogramme, Medicaid für Arme und Medicare für Ältere. Sie berechtigen die jeweiligen Zielgruppen zu staatlichen Leistungen, sogenannten Entitlements. Konservative und neoliberale Politiker_innen und Fachleute sehen in diesen ausgabenstarken Programmen eine Gefahr für die finanzielle Nachhaltigkeit. Angesichts des demografischen Wandels halten sie vor allem die Altersvorsorge nicht für finanzierbar.

Den berechtigten Menschen wird Anspruchsdenken vorgeworfen. Diverse Reformen sollen die Rechtsansprüche auf Leistungen einschränken (z. B. Erhöhung des Renteneintrittsalters). Häufig wird auch eine Privatisierung der Systeme gefordert. Selbst progressive Politiker_innen (z. B. der demokratische Präsident Obama) konnten sich dieser Panikmache nicht entziehen und haben an Reformen zur finanziellen „Sanierung“ mitgewirkt.

Tatsächlich kann der Staat die notwendigen Ausgaben für diese Programme unbeschränkt tätigen, da er das dafür nötige Geld selbst schaffen kann. Selbst der konservative Notenbankchef Alan Greenspan bestätigte in einer Anhörung vor dem Senat, dass diese Programme sicher seien und ihre Finanzierung nicht gefährdet sei.

Die moderne Geldtheorie MMT sagt aber nicht, dass eine grenzenlose Expansion der Ausgaben, z. B. für Gesundheit, gänzlich unproblematisch ist. Aber das Problem ist nicht die Finanzierung. Der möglicherweise limitierende Faktor ist die reale Verfügbarkeit von Ressourcen wie medizinisches Personal, Krankenhäuser oder Medikamente. Sie gilt es sicherzustellen, statt die Empfangsberechtigten zu verleumden und falsche Finanzierungsprobleme zu erfinden.

Die wirklich bedrohlichen Defizite

Die falsche Fixierung auf fiskalische Defizite lenkt von den realen Defiziten ab, die den Wohlstand gefährden.

Amerika fehlt es an guter Arbeit. Von den vielen Jobs, die seit der Finanzkrise entstanden sind, sind zu viele prekär und schlecht bezahlt. Eng damit verbunden ist das amerikanische Spardefizit. Die meisten Haushalte haben zu geringe Einkommen und zu hohe Ausgaben, um Ersparnisse bilden zu können. Das Gesundheitsdefizit hat dazu geführt, dass die USA trotz überdurchschnittlicher Ausgaben eine niedrigere Lebenserwartung als vergleichbare Länder haben. Hohe Studiengebühren sind verantwortlich für das Bildungsdefizit und massive Verschuldung der Studierenden.

Die Infrastruktur in den USA bedarf massiver Investitionen. Die Klimakrise bedroht schon jetzt die USA deutlich. Um die Klimaziele zu erreichen, müssen ebenfalls umfangreiche Transformationsprogramme durchgeführt werden.

Die Einkommensungleichheit bedroht auch die Demokratie. Arme Menschen wählen kaum noch, während die Reichen über viele Wege verfügen, ihre Interessen in der Politik durchzusetzen. Im Ergebnis begünstigt das Steuersystem die Wohlhabenden und die Arbeitsmarktpolitik das Kapital.

Eine Volkswirtschaft für das Volk

Die moderne Geldtheorie MMT beschreibt, wie die Geldwirtschaft heute funktioniert und was daher möglich ist. Sie eröffnet Spielräume für eine Politik für die Menschen, die nicht von falschen Defizitängsten geprägt ist. Amerika kann sich Programme leisten, die gute Arbeit, Bildung und Gesundheitsvorsorge für alle sowie eine moderne und klimagerechte Infrastruktur liefern. Die einzige wirkliche Grenze für all dies ist nicht das Geld, sondern die Verfügbarkeit realer Ressourcen wie Arbeit, Kenntnisse, Anlagen und Rohstoffe.


buch|votum

Das Buch legt klar dar, dass Schuldenbremsen Unsinn sind und progressive Politik daran nicht scheitern darf und soll. Obwohl es stark auf die USA fokussiert ist, gelten die meisten Analysen und Empfehlungen auch für andere Länder mit vergleichbarer Wirtschaftsordnung. Für die Eurozone mit ihrer supranationalen Geld- und nationalen Fiskalpolitik muss die moderne Geldtheorie MMT allerdings angepasst werden. Um die gleichen Gestaltungsspielräume zu haben, müsste der EU-Haushalt erheblich gestärkt werden.

Zur Verlagsseite

nach oben