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Ben Ansell (2024): Warum Politik so oft versagt

Und warum das besser wird, wenn wir unseren Egoismus überwinden. München: Siedler

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Kurzgefasst und eingeordnet von Michael Dauderstädt.
Michael Dauderstädt ist freiberuflicher Berater und Publizist und war bis 2013 Leiter der Abteilung Wirtschaft- und Sozialpolitik der FES.


buch|essenz

Kernaussagen

Bei der Verfolgung ihrer wichtigsten Ziele wie Demokratie, Gleichheit, Solidarität, Sicherheit und Wohlstand leidet die Politik unter strukturellen Widersprüchen zwischen individuellen Interessen und dem an sich mehrheitlich gewünschten Gemeinwohl. Diese Konflikte lassen sich mithilfe klug gestalteter Institutionen abschwächen oder überwinden.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Ansells Analysen machen die Herausforderungen deutlich, vor denen insbesondere soziale und demokratische Politik bei der Verfolgung ihrer zentralen Ziele steht. Angesichts wachsender Politikverdrossenheit und zunehmender Stärke populistischer Parteien ist größere Klarheit über die Konflikte zwischen den Präferenzen der Menschen und den Bedingungen für langfristigen Wohlstand hilfreich.


buch|autor

Ben Ansell ist Professor für vergleichende Demokratieforschung am Nuffield College der Universität Oxford und Autor zahlreicher Bücher über Bildungspolitik, Ungleichheit, Wohnungsbaupolitik und öffentliche Dienstleistungen.


Ben Ansell: buch|essenz anhören


buch|inhalt

Das Buch umfasst fünf Kapitel zu den Themen Demokratie, Gleichheit, Solidarität, Sicherheit und Wohlstand. In jedem dieser Felder gibt es fundamentale Probleme und Widersprüche, an denen die Politik oft scheitert und wegen derer sie ihre Versprechen nicht halten kann. Politische Ökonomie hilft, diese Konflikte zu verstehen, indem sie das von Eigennutz getriebene individuelle Verhalten der Menschen analysiert, das zu kollektiv schädlichen Ergebnissen wie z. B. dem Klimawandel führt.

Demokratie ohne einheitlichen Volkswillen

Das Volk weiß nicht, was es will. Beim Brexit bspw. votierte zwar eine Mehrheit für den Austritt Großbritanniens aus der EU, man hatte aber keine Vorstellung für die Lösung der komplexen Folgeprobleme. Zwar ist plausibel, dass die Mehrheit zur richtigen Lösung eines Problems neigt. Aber Demokratie bietet keinen Weg, um angesichts unterschiedlicher Wählerpräferenzen akzeptable Entscheidungen zu produzieren. Individuelle Rangordnungen lassen sich nicht zu einem einheitlichen Volkswillen zusammenfassen. Dass Demokratien trotzdem oft relativ stabil sind, liegt daran, dass sich Alternativen als graduelle Optionen auf einer eindimensionalen Achse darstellen lassen. Die bekannteste ist die Links-Rechts-Anordnung. Die Extrempositionen auf dieser Achse reichen von der Forderung nach einer maximalen Besteuerung zur Finanzierung hoher Sozialleistungen bis zum Gegenpol des minimalen Staates. Konkurrierende Parteien gewinnen die meisten Wähler_innen, indem sie gemäßigte Positionen einnehmen. So haben viele Demokratien lange Zeit erfolgreich einen Mittelkurs verfolgt. Inzwischen haben jedoch in vielen Ländern gefährliche Polarisierungstendenzen eingesetzt.

Diese Probleme der Demokratie sind hartnäckig, aber nicht unlösbar. Als Ausweg aus der Demokratiefalle bieten sich Bürgerräte an, in denen die Positionen aller intensiv diskutiert werden, um gemeinsam für alle akzeptable Lösungen zu entwickeln. Mit einem Verhältniswahlrecht, das auch kleinere Parteien an der Macht teilnehmen lässt, ließen sich Polarisierungstendenzen leichter eindämmen als in Mehrheitswahlsystemen. Auch neue, internetgestützte Formen des Meinungsaustausches könnten zu besserem gegenseitigem Verständnis und Toleranz beitragen.

Die Gleichheitsfalle

Die Ungleichheit, vor allem der Vermögen, ist in den letzten 50 Jahren stark angestiegen. Trotzdem setzen sich in Demokratien kaum Politiken durch, die eine stärkere Umverteilung fordern. Obwohl wenigen Reichen eine große Mehrheit relativ ärmerer Menschen gegenübersteht, kommen die Reichen ungeschoren davon oder verbessern ihre Lage noch. Dahinter steht ein doppeltes Konzept von Gleichheit: In demokratischen Rechtsstaaten sind alle Bürger_innen vor dem Gesetz gleich. Sie alle haben die gleichen Rechte, was die Verfügung über ihr Eigentum und ihre Arbeitskraft angeht. Diese rechtliche Gleichheit führt aber nicht zur Gleichheit der sozialen oder wirtschaftlichen Lagen. Vielmehr schützen diese Rechte die Reichen vor Enteignung oder erlauben es ihnen, bei drohender hoher Besteuerung mit Ausweichstrategien wie Arbeitsreduzierung, Auswanderung oder Kapitalflucht zu reagieren.

Extreme Ungleichheit erhöht die Neigung der ärmeren Mehrheit, eine Umverteilung durch Besteuerung des Reichtums zu erreichen. Dabei sehen sie sich aber mit einem Dilemma konfrontiert: Ein hohes Maß an Gleichheit könnte die Motivation senken, den zu verteilenden Wohlstand überhaupt zu erwirtschaften. Ein Ländervergleich zeigt allerdings, dass Ungleichheit und Wohlstand nicht klar korreliert sind. Es gibt sowohl egalitäre reiche als auch ungleiche arme Länder.

Es ist nicht leicht, Ungleichheit auf politischem Wege abzubauen. Obwohl Vermögens- und Erbschaftssteuern nur wenige treffen, sind sie unbeliebt. Viele Menschen fürchten – zu Unrecht – dabei um ihr Eigenheim. In jedem Fall gilt es, möglichst international abgestimmte Besteuerungen anzustreben, um die Steuerflucht zu begrenzen. Transparente Besteuerungssysteme, die klar auf unverdiente Reichtümer abzielen, werden eher akzeptiert. Jenseits der Besteuerung müssen Bemühungen intensiviert werden, die Ungleichheit der am Markt erzielten Einkommen vor Steuern zu verringern. Einen Beitrag hierzu können die Regulierung von Unternehmen, Mindestlöhne, starke Gewerkschaften und eine Bildungspolitik leisten, die nicht allein die Hochschulen, sondern auch die berufliche Ausbildung fördert.

Die schwierige Solidarität

Menschen geraten im Lauf ihres Lebens in Notlagen, in denen sie auf Unterstützung durch andere oder den Staat angewiesen sind. Da diese Situationen – mit Ausnahme des Alters – schwer vorherzusehen sind, neigen viele Menschen dazu, sich nicht selbst dagegen zu schützen, indem sie sparen oder Versicherungen abschließen.

Staatliche Systeme der Solidarität bieten Schutz vor diesen Notlagen. Der Zugang zu diesen Leistungen ist allerdings meist auf Mitglieder der eigenen Nation und wirklich Bedürftige beschränkt. Im direkten Vergleich gibt es große Unterschiede zwischen den Wohlfahrtsstaaten. In den USA und Großbritannien fallen die Leistungen geringer aus als etwa in Skandinavien.

Solidarität hat zwei Probleme: Erstens neigen Menschen zu größerer Solidarität, wenn sie nicht Fremden zukommt. Zweitens leidet Solidarität unter Informationsproblemen. Der Staat kann nicht immer leicht und sicher feststellen, wer wirklich bedürftig ist. Auch muss er befürchten, mit der Absicherung von Risiken ein unvorsichtigeres Verhalten zu begünstigen. Hinzu kommt, dass Leistungen nicht immer ihren intendierten Zweck erreichen. Beispielsweise kann Wohngeld dazu führen, dass Mieten steigen, wodurch die Hausbesitzer und nicht die bedürftigen Mieter die eigentlichen Nutznießer der Unterstützung werden.

Ein viel diskutierter Ausweg ist das bedingungslose Grundeinkommen, kurz BGE. Es ist einfach zu verteilen und bedarf keiner staatlichen Kenntnis der Bedürftigkeit. Das Problem liegt in der Verbindung zu anderen wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, vor allem der Krankenversicherung. Da die Risiken nicht gleich verteilt sind, schützt auch das BGE nicht ausreichend.

Der Wohlfahrtsstaat wird dann akzeptiert, wenn er auch den besser Gestellten nutzt. Das trifft besonders auf das schwedische Modell zu, von dem auch die Mittelschicht profitiert. In den USA funktioniert der Sozialstaat vor allem über Steuererleichterungen, die besonders den reicheren Familien zugutekommen. Diese Vorteile sind jedoch versteckt und ihre Nutznießer sind oft Gegner aller Politiken, die eine direkte Unterstützung an Arme vorsehen.

Sicherheit ohne Tyrannei

Sicherheit ist eine Grundvoraussetzung für Lebensqualität und Wohlstand. Sie hat drei Dimensionen: persönliche, nationale und internationale Sicherheit. Die persönliche Sicherheit innerhalb eines Landes wird durch Polizei und Justiz geschützt. Die nationale Sicherheit wird durch Streitkräfte gesichert, die mögliche Gegner abschrecken und im Ernstfall bekämpfen soll. International gibt es trotz einiger Fortschritte wie UN oder NATO keine übergeordnete Instanz, die wirklich in der Lage wäre, Länder wirkungsvoll zu schützen.

Die heute üblichen Sicherheitsorgane haben sich in ihrer gegenwärtigen Form erst im späten 19. Jahrhundert entwickelt. Sie haben private Systeme und oft unmenschliche Bestrafungen ersetzt. Aber sie leiden darunter, dass mangelnde Kontrolle Übergriffe der Polizei ermöglicht oder gar systematische Einschüchterung und Erpressung der Bürger_innen erleichtern kann. Die Überwachung der Wächter ist das zentrale Dilemma der Sicherheitspolitik.

Aber Ordnung lässt sich auch auf andere Weise herstellen. Wenn gutes Verhalten öffentlich gelobt und schlechtes sanktioniert wird, können soziale Normen helfen, die Sicherheit auch ohne autoritäre Kontrolle und Bestrafung zu verbessern. Allerdings kann ein zu engmaschiges Netz sozialer Kontrolle auch zu Stagnation und Heuchelei führen. Wenn zu viel Ordnung lähmend wirkt, könnte man versuchen, mit liberalen Sicherheitssystemen wie Charter Cities – das sind Städte mit hoher Autonomie – mehr Dynamik zu ermöglichen.

Neue Technologien wie Videoüberwachung und Gesichtserkennung bieten einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen Anarchie und Tyrannei. Sie führen zu regelkonformem Verhalten sowohl bei den überwachten Menschen als auch bei der Polizei, die etwa durch Bodycams oder Videoüberwachung in Polizeistationen kontrolliert werden kann.

Internationale Sicherheit kann angesichts aggressiver Mächte letztlich nur durch starke Bündnisse wie die NATO gewährleistet werden. Trotzdem sind auch vertragliche Regelungen nicht aussichtslos. Während des Kalten Kriegs wurden zahlreiche Rüstungsbegrenzungsabkommen erfolgreich umgesetzt. Auch das Verbot von Chemiewaffen wird weitgehend eingehalten. Nach dem bisher erfolgreichen Modell der gegenseitigen Abschreckung mit Nuklearwaffen könnte man hoffen, dass die erschreckenden Fähigkeiten neuer Waffensysteme ebenfalls friedenssichernd wirken.

Kurzfristige Wohlstandsgewinne zulasten der Zukunft

Der Wohlstand wird meist am Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP, bemessen. Das blendet allerdings viele Aspekte aus: die Wertschöpfung im informellen Sektor, die unbezahlte Arbeit in Familien und Ehrenämtern sowie den Raubbau an unseren natürlichen Lebensgrundlagen, deren Wertverlust eigentlich vom BIP abzuziehen wäre.

Das beeindruckende Wachstum der letzten 200 Jahre beruhte auf technischem Fortschritt und Investitionen, aber auch auf der Ausbeutung des Planeten. Bezeichnenderweise stagnierte die Wirtschaft in jenen Weltregionen, die der europäische Kolonialismus nur als Rohstoffquellen nutzte. Dort hatte die Siedlerbevölkerung keine Institutionen geschaffen, die Demokratie, Eigentumsrechte, Bildung und Modernisierung garantierten.

Langfristiger Wohlstand scheitert oft an fehlender Zusammenarbeit. Menschen neigen dazu, ihren Beitrag zum Gemeinwohl zu unterlassen, wenn sie dessen positive Folgen als Trittbrettfahrer nutzen können, ohne die Kosten der Erzeugung mitzutragen. Die Klimapolitik ist ein typisches Beispiel: Der eigene, schmerzhafte Verzicht auf Emissionen trägt nur minimal zum Klimaschutz bei. Aber wenn sich deswegen alle auf die Selbstbeschränkung der anderen verlassen, scheitert das ganze Projekt.

In der Ökonomie wird dieses Problem auch als Gefangenendilemma beschrieben, bei dem der für beide Seiten optimale Ausgang objektiv in Kooperation besteht. Subjektiv ist diese Option mangels Abstimmungsmöglichkeiten aber unattraktiv. Obendrein sind Kosten und Nutzen einer Zusammenarbeit oft unterschiedlich verteilt. Notwendig wäre ein Kompensationsmechanismus.

Oft dominieren die Anreize kurzfristiger Gewinne. Viele Rohstoffexporteure schöpfen die Erlöse ab, ohne so zu investieren, dass Wohlstand auch nach der Erschöpfung der Ressourcen möglich bleibt. Eine ähnliche Kurzsichtigkeit treibt Spekulationsblasen, bei denen Menschen in Erwartung weiterer Gewinne investieren, um im folgenden Crash alles zu verlieren.

Aber es gibt auch Gegenbeispiele wie den norwegischen nationalen Vermögensfonds, der die Ölgewinne spart und anlegt. Ein anderes Beispiel ist das deutsche System der geduldigen Innovationsförderung durch Bankenfinanzierung, duale Ausbildung und enge Kooperation von Kapital und Arbeit. Für den Klimaschutz wäre eine CO2-Steuer hilfreich, die am besten global gelten sollte.

Ansätze erfolgreicher Politik

Neue Technologien, angeblich freie Märkte oder gar ein starker Führer dürften kaum die Dilemmata der Politik lösen. Vielmehr bedarf es kluger Institutionen, die die Eigeninteressen der Menschen so lenken, dass das langfristige Gemeinwohl keinen Schaden nimmt. Bürgerräte, Verhältniswahlrecht und verbindliche internationale Verträge sind Beispiele solcher Institutionen.


buch|votum

Das Buch greift angesichts der Krisen vieler demokratischer Gesellschaften ein politisch topaktuelles Thema auf. Es zeigt die fundamentalen Konfliktkonstellationen, aufgrund derer gewählte Regierungen nur eingeschränkt dazu fähig sind, gleichzeitig den langfristigen Problemen und den kurzfristigen Wählerpräferenzen Rechnung zu tragen. Dazu sammelt es zahlreiche Beispiele aus der Praxis und beleuchtet sie im Licht verschiedener theoretischer Konzepte, vor allem aus der politischen Ökonomie.

Der Band ist klar in fünf Politikfelder gegliedert, die einheitlich jeweils mit einer historischen Anekdote eröffnet und mit einer Analyse des Politikfeldes und seiner grundlegenden Konflikte sowie mit Auswegen aus den jeweiligen Dilemmata behandelt werden. Die Probleme für die Politik ergeben sich daraus, dass sie die individuellen Interessen nicht ausreichend mit den langfristigen Zielen vereinbaren kann. Diese Interessen werden in der Tradition der klassischen Ökonomie als individuelle Nutzenmaximierung definiert. Diese inzwischen eher überwundene Sichtweise wird aber nur partiell hinterfragt, wenn Vorschläge für andere institutionelle Arrangements gemacht werden.

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Verlag: Siedler
Erschienen: 24.04.2024
Seiten: 480
ISBN: 978-3-8275-0185-1

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