Kernaussagen
Die verbesserte Landwirtschaft im Mittelalter, später die industrielle Revolution und heute die künstliche Intelligenz – im Laufe der Geschichte wurde der technologische Wandel stets als Haupttriebkraft für das Gemeinwohl angesehen. Doch die Fortschrittsgewinne fielen und fallen nur wenigen zu, und die Technologie ist von den Zielen und Obsessionen der Mächtigen geprägt. Sie verhilft ihnen zu noch mehr Reichtum, sozialem Ansehen und Einfluss und bedroht heute sogar die demokratischen Errungenschaften.
Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie
Wie die Autoren unterstreichen, kommt die technologische Entwicklung nur dann allen Menschen zugute, wenn sie dafür kämpfen. Die Soziale Demokratie steht an ihrer Seite. Sie trägt dazu bei, günstige politische und institutionelle Rahmenbedingungen zu schaffen und den Gewerkschaften den Rücken zu stärken.
In insgesamt elf Kapiteln wird eine sehr detaillierte Technologiegeschichte über das zurückliegende Jahrtausend vorgelegt. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen des letzten Jahrtausends werden dabei als Ergebnis der Auseinandersetzung über die Ausrichtung und Nutzung von Technologie dargestellt. Untersucht wird, wer und warum gewann oder verlor. Da der Fokus des Buchs auf Technologie liegt, bezieht sich der Großteil der Untersuchung auf jene Weltregionen, in denen die wichtigsten und folgenreichsten technologischen Veränderungen stattfanden. In den Schlusskapiteln werden die sozialpolitischen Implikationen der jüngsten Entwicklungen in der künstlichen Intelligenz und die damit verbundenen Gefahren für die Demokratie diskutiert.
Unter dem Fokus der Kontrolle über die jeweiligen Technologien, wird der Bogen von der Entwicklung der Landwirtschaft in Westeuropa und China über die industrielle Revolution in Großbritannien und den Vereinigten Staaten bis zum Siegeszug der digitalen Technologien in den Vereinigten Staaten und China geschlagen. Je nach gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen schlagen die verschiedenen Länder unterschiedliche Wege ein. Die Einführung von Technologien in den führenden Ländern wirkt sich auch auf die übrige Welt aus, wo die Technologie mal freiwillig und mal gezwungenermaßen übernommen wird.
An den historischen Beispiele der Kanalbauten von Suez und Panama wird deutlich, wie wirkungsvolle Visionen auf Abwege geraten und manchmal auch den Charakter von Obsessionen annehmen können. So steht der Erfolg französischer Ingenieure beim Bau des Suezkanals in auffälligem Gegensatz zu dem spektakulären Fehlschlag, den sie erlitten, als sie dieselben Ideen in Panama umzusetzen versuchten. Ferdinand de Lesseps überzeugte tausende Investoren und Ingenieure von dem – wie sich erweisen sollte unrealistischen – Vorhaben, in Panama einen Kanal auf der Höhe des Meeresspiegels anzulegen. Der Fehlschlag kostete mehr als 2000 Menschen das Leben und trieb viele mehr in den finanziellen Ruin. Dies ist ein warnendes Beispiel: Verheißungsvolle Visionen, die oft auf vergangenen Erfolgen beruhen, können zu verheerenden Katastrophen führen. Gegenkräfte wie wirkmächtige politische Institutionen und eine umfassende Beteiligung verschiedener Gesellschaftsgruppen können dem übermäßigem Eigennutz und allzu eigennützigen Obsessionen indes Grenzen setzen.
Eingehend rekapitulieren die beiden Autoren die Entwicklung der landwirtschaftlichen Technologien von den Anfängen der ortsgebundenen Landwirtschaft in der Jungsteinzeit bis zu den einschneidenden Veränderungen in der Organisation des Grundbesitzes sowie der Produktionstechniken im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. In diesen umwälzenden Epochen finden sich keine Belege für eine automatische Sogwirkung von Produktivitätszuwächsen. Die landwirtschaftlichen Übergangsphasen erhöhten zumeist Reichtum und Macht kleiner Eliten, während die Landarbeiter kaum profitierten. Den Bauern mangelte es an politischem und gesellschaftlichem Einfluss, und die Technologie entwickelte sich entsprechend der Vision einer kleinen Elite. Im Falle des mittelalterlichen Europas führte die verkrustete Ständegesellschaft nur zu begrenzten technologischen Fortschritten und zudem sehr einseitig verteilten Wohlfahrtsgewinnen.
Die industrielle Revolution brach diese Verkrustungen auf und leitete eine der wichtigsten wirtschaftlichen Umwälzungen in der Weltgeschichte ein. Die Literatur zur industriellen Revolution ist umfangreich, aber der neuen Vision aufstrebender Mittelschichten, Unternehmer und Geschäftsleute wird oft keine ausreichende Beachtung geschenkt. Deren Ansichten und Bestrebungen hatten ihren Ursprung in institutionellen Veränderungen, die ab dem 16. und 17. Jahrhundert der Bevölkerung in der Mitte der englischen Gesellschaft wachsenden Einfluss sicherten. Es mag sein, dass die industrielle Revolution von den Bestrebungen neuer Gesellschaftsgruppen angetrieben wurde, die versuchten, ihren Wohlstand zu erhöhen und ihre soziale Position zu verbessern. Indes: Ihre Vision war alles andere als förderlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es wird untersucht, wie es zu den Veränderungen der politischen und wirtschaftlichen Ordnung kam und warum sie wesentlich zur Entwicklung einer neuen Vorstellung davon beitrugen, wer die Natur auf welche Art unterwerfen konnte.
Auch die erste Phase des technologischen Fortschritts der industriellen Revolution verlief nicht ohne Opfer. Erläutert wird, inwiefern diese Entwicklung das Ergebnis einer ausgeprägten Automatisierungstendenz und des fehlenden Einflusses der Arbeiter auf die Entscheidungen über Technologien und Löhne war. Die Industrialisierung hatte negative Auswirkungen nicht nur auf die wirtschaftliche Lage, sondern auch auf die Gesundheit und die Bewegungsfreiheit der Bevölkerungsmehrheit. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu einer Entspannung dieser bedrückenden Lage, als sich die gewöhnlichen Menschen zusammenschlossen, um wirtschaftliche und politische Reformen zu erzwingen. Die hiermit erwirkten gesellschaftlichen Veränderungen lenkten die technologische Entwicklung in eine andere Richtung und trieben die Löhne in die Höhe. Dies war nur ein kleiner Schritt zu allgemeinem Wohlstand, den die westlichen Länder auch erst nach einer sehr langen und umkämpften technologischen und institutionellen Reise erlangten. Zudem besserten sich die Verhältnisse nur für jene, die ausreichend politischen Einfluss hatten – bis auch Frauen wirtschaftliche Chancen erhielten, dauerte es sehr viel länger. In den meisten Kolonien wurden die Lebensbedingungen nicht besser, vielmehr verschlechterten sie sich deutlich.
Erbitterte Auseinandersetzungen über die Richtung von technologischer Entwicklung, Lohnfestsetzung und korrigierende politische Interventionen trugen wesentlich dazu bei, die Grundlagen für die Phase des spektakulären Wirtschaftswachstums im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg zu schaffen. In den ersten drei Jahrzehnten nach 1945 erlebten die Vereinigten Staaten und andere Industrieländer einen Boom, von dem der Großteil der Bevölkerung profitierte. Die wirtschaftliche Entwicklung ging mit anderen gesellschaftlichen Fortschritten einher, darunter die Ausweitung des Bildungs- und Gesundheitswesens und der Anstieg der Lebenserwartung. Diese Fortschritte erklären, wie und warum der technologische Wandel nicht nur zur Automatisierung der Arbeit führte, sondern auch den Arbeitskräften neue Möglichkeiten eröffnete. Gezeigt wird darüber hinaus, dass diese Entwicklung in einen institutionellen Rahmen eingebettet war, der einander ausgleichende Kräfte förderte.
Unter dem Titel „Digitaler Schaden“ der Gegenwart wird der Frage nachgegangen, wie die kapitalistischen Industriegesellschaften vom Weg abgekommen sind und das in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte Modell des geteilten Wohlstands aufgegeben haben. Entscheidenden Einfluss auf diese Kehrtwende hatte, dass die Technologie nicht länger in den Dienst der Entwicklung neuer Tätigkeiten und Möglichkeiten für die Arbeitskräfte gestellt wurde. Vielmehr wurde sie eingesetzt, um die Arbeit zu automatisieren und die Arbeitskosten zu senken. Diese Neuausrichtung war keineswegs unvermeidlich; vielmehr war sie das Ergebnis einer Kombination aus mangelnden staatlichen Vorschriften auf der einen Seite und fehlenden Beiträgen sowie einem zu geringen Druck seitens der Arbeitskräfte bzw. ihrer Vertretungsorganisationen auf der anderen Seite. Diese gesellschaftlichen Trends trugen zur Aushöhlung des geteilten Wohlstands bei.
Nach 1980 entwickelte sich die nächsten Phase, die von digitalen Technologien und künstlicher Intelligenz geprägt ist. KI wird den Trend zu wachsender wirtschaftlicher Ungleichheit noch verstärken. Anders als von vielen führenden Köpfen der Technologiebranche behauptet, sind die bisher verfügbaren KI-Technologien für die meisten menschlichen Tätigkeiten nur von beschränktem Nutzen. Der Einsatz von KI zur Überwachung des Arbeitsplatzes verschärft die Ungleichheit und verringert darüber hinaus die Macht der Beschäftigten. Noch schlimmer ist, dass die gegenwärtige Entwicklung von KI Jahrzehnte des wirtschaftlichen Fortschritts in den Entwicklungsländern bedroht, indem sie die Automatisierung in alle Welt exportiert. All das ist vermeidbar. Statt sich auf Maschinenintelligenz zu fixieren, wäre es besser, nach Maschinennützlichkeit zu streben und darauf abzuzielen, die Maschinen in den Dienst der Menschen zu stellen und die Fähigkeiten der Arbeitskräfte durch sie zu ergänzen.
Diese KI dominierten technischen Umwälzungen ziehen gravierende politische Problemen nach sich, die durch die massenhafte Datensammlung und -nutzung unter Einsatz von künstlicher Intelligenz entstehen. So ermöglicht KI eine umfassende Überwachung der Bürger_innen durch Staaten und Unternehmen. Hinzu kommt, dass auf Werbeeinnahmen beruhende Geschäftsmodelle, die durch KI ermöglicht werden, die Verbreitung von Desinformation und Extremismus fördern. Die gegenwärtige Entwicklung von KI ist weder für die Wirtschaft noch für die Demokratie gut, und leider verstärken diese beiden Probleme einander wechselseitig.
Schließlich skizzieren die Autoren den Rahmen für eine zukünftige wirtschaftlich, sozial und demokratische Neuausrichtung der Technologieentwicklung. Es werden Vorschläge formuliert, wie die zuvor beschriebenen negativen Trends und rückgängig gemacht werden können. Sie entwickeln ein Muster für die Neuausrichtung des technologischen Wandels. Es gilt, das Narrativ umzuschreiben, Gegenkräfte aufzubauen und technologische sowie ordnungspolitische Werkzeuge zu entwickeln, mit denen die technologische Entwicklung gesellschaftlich ausgewogen gestaltet werden kann. Marktanreize, Subventionen und Unterstützung für die Entwicklung arbeitnehmerfreundlicher Technologien, Steuerreformen, Umschulungen, Programme für Dateneigentum und Datenschutz, Zerschlagung von Tech-Konzernen und Steuern auf digitale Werbung können dazu beitragen, die technologische Entwicklung in eine andere Richtung zu lenken.
Acemoglu und Johnson blicken weit in die Geschichte zurück und verbinden kenntnisreich historische Exkurse über verschiedene Länder mit ökonomischen und politischen Debatten. Der Grundthese der Autoren zufolge hängt die Frage, ob die breite Bevölkerung Anteil an Wohlstandszuwächsen hat, von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen ab. Diese vor einem US-amerikanischen Hintergrund formulierte Sichtweise ist im Kontext der europäischen Technikdebatte zwar nicht neu. Wer die 500 Seiten liest, wird aber mit interessantem Detailwissen und neuen Denkhorizonten belohnt: Alle wollen die Digitalisierung als eine der zentralen Zukunftssäulen des Wohlstands begreifen. Die Autoren machen deutlich, was es hierbei zu beachten gilt. Die ökologischen Implikationen der Technologiegeschichte bleiben aufgrund des vorwiegend gesellschaftspolitischen Fokus weitgehend unbeachtet.
Zur Verlagsseite