»Bildung« ist ein ebenso zentraler wie schillernder Begriff der Gegenwart. Sie wird als eine wichtige ökonomische und nationale Ressource verstanden, durch Lehrpläne und Abschlüsse garantiert und formalisiert, aber auch als ein Prozess zur Persönlichkeitsbildung und zur Aneignung von Wissen und Kompetenzen angesehen. Häufig werden ihr hohe Ziele zugeschrieben, soll sie doch entscheidend dazu beitragen, gesellschaftliche Missstände zu beseitigen und eine gerechtere und harmonischere Gesellschaftsordnung zu verwirklichen. Der »Index der menschlichen Entwicklung« der Vereinten Nationen benennt die Bildungsdauer daher neben der Lebenserwartung und dem Einkommen als zentrales Kriterium für Wohlstand. Zugleich kann »Bildung« in dynamischen Gesellschaften als stetige Aufforderung zur (Weiter-)Qualifikation und Eigenverantwortung erfahren werden. »Lebenslanges Lernen« kann dabei positiv als Bereicherung erlebt, aber auch mit Leistungsdruck, Auslese und Situationen des Scheiterns in Verbindung gebracht werden.
Was genau »Bildung« ist, welche gesellschaftliche Bedeutung ihr zukommt und wie sie politisch gestaltet werden soll, ist dabei umstritten. »Bildung« stellt ein sehr deutsches Reizwort dar, das oftmals eine Verständigung darüber erschwert, worüber überhaupt gestritten wird. Die Verworrenheit der aktuellen, von sozialwissenschaftlicher Expertise dominierten Debatten lässt eine erneute historische Beschäftigung mit Fragen der Bildung lohnend erscheinen, um mit einer historischen Tiefenschärfe Abstand zu gewinnen und dabei die Sicht auf aktuelle Debatten zu schärfen. Vor diesem Hintergrund will das Archiv für Sozialgeschichte die Rolle von Bildung im historischen Wandel der vergangenen beiden Jahrhunderte neu vermessen. Welche Rolle spielte Bildung in den gesellschaftlichen und politischen Transformationen der vergangenen beiden Jahrhunderte? Wie gestalteten soziale Bewegungen und politische Regime Bildung aus? Welche Errungenschaften, aber auch welche Widersprüche und Probleme zogen Bildungsreformen nach sich?
Auf der jährlichen Tagung des Archivs für Sozialgeschichte (AfS), die von der Friedrich-Ebert-Stiftung als Online-Format veranstaltet wird, werden zahlreiche Beitragsideen in 15-minütigen Präsentationen vorgestellt, um Fragen und Forschungsperspektiven für das Rahmenthema von AfS 62 (2022) zu entwickeln. Teilnahme im Einzelfall nach Anmeldung möglich.
Begrüßung, Vorstellungsrunde und Moderation
Philipp Kufferath, Bonn
»Bildung« als sozial- und kulturgeschichtliches Forschungsfeld
Till Kössler, Halle an der Saale
Moderation: Dietmar Süß, München
Charakter-Bildung: ein bürgerliches Konzept sozialer Distinktion und seine ambivalente Geschichte. Ein deutsch-britischer Vergleich
Daniel Gerster, Hamburg
Der Beitrag von Bildungsgebühren und Stipendien zur Bewahrung der sozialen Exklusivität in Einrichtungen der höheren Bildung in Deutschland und den USA im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Thomas Adam, Arkansas
»weder auf Reichthum noch auf Armuth sehen«. Elementarschulzugang im Gebiet der frühindustrialisierten Nordostschweiz
Gabi Wüthrich, Zürich
Moderation: Meik Woyke, Hamburg
Bildung zwischen Ökonomisierung und sozialpolitischem Auftrag: Gesellschaftliche Ungleichheit als Herausforderung der Erwachsenenbildung (1945–1990)
Anja Grabuschnig, Graz/Lisbeth Matzer, München
Qualifizierung für die Marktwirtschaft: Berufliche Weiterbildung, Arbeitsmarktpolitik und deutsch-deutsche Transformation nach der Wiedervereinigung
Benno Nietzel, Bielefeld
Politische Bildung und Weimarer Demokratie. Die Reichszentrale für Heimatdienst und Volkshochschulen 1918–1933
Pierre Schmuck, Freiburg im Breisgau
Moderation: Thomas Kroll, Jena
Bildungsreform, Autonomie, Kirchen und Professionalisierung – Die professionelle Autonomie der Lehrer höherer Schulen in Ungarn im 19. Jahrhundert
János Ugrai/Márkus Keller, Budapest
»Study Abroad« in the Long 19th Century: Modernization, War, and Higher Education in Global Context
Memtimin Semet, Frankfurt an der Oder
Moderation: Friedrich Lenger, Gießen
Lehrer*innenbildung und soziale Bewegungen in Zürich. Wissensverflechtungen und Alltagspraktiken in Konflikten um Bildungsreformen 1950-1980
Andrea De Vincenti/Norbert Grube/Andreas Hoffmann-Ocon, Zürich
Aneignungen des Bildungsbegriffes durch Jugendliche in den 1960er- und 1970er-Jahren
Sandra Funck, Göttingen
Egalisierung von Teilhabe? Sozialliberale Bildungsreformen und die Gesellschaftsgeschichte der Demokratie im Westdeutschland der 1960er bis 1980er-Jahre
Phillip Wagner, Halle an der Saale
Moderation: Kirsten Heinsohn, Hamburg
Emanzipation, Verständigung, Integration. Sprachbildung für »Gastarbeiter:innen« in der Bundesrepublik (1974–1990)
Sylvia Kesper-Biermann, Hamburg
Auf Integrationskurs? Konkurrierende Bildungskonzeptionen und third spaces im Einwanderungsland Deutschland von den 1960er- bis zu den 1980er-Jahren
Stephanie Zloch, Dresden
Moderation: Anja Kruke, Bonn
Die Bildung der ›Bildungsfernen‹. Hauptschüler:innen als Zielgruppe von Schul- und Gesellschaftsreformen in der Bildungsreformära der 1960er- und 1970er-Jahre und den PISA-Debatten um 2000
Sandra Wenk, Halle an der Saale
Bildung als Humankapital? Die OECD als »graue Eminenz« der Bildungspolitik
Rainer Bölling, Düsseldorf
Moderation: Till Kössler, Halle an der Saale
Akkreditierung + Finanzierung = Verwissenschaftlichung? Evangelikale Bildungskonzeptionen und -praktiken in den USA nach 1945 am Beispiel der Life Sciences und der Psychologie
Stefanie Coché/Stephan Monissen/Sophia Egbert, Gießen
Die »vierte Säule des Bildungssystems« und die Logik des Markts. Weiterbildung als Zukunftsversprechen und Verteilungsproblem in den 1970er-Jahren
Franziska Rehlinghaus, Göttingen
Moderation: Philipp Kufferath, Bonn
Abschlussdiskussion und nächste Schritte
Geschäftsführender Herausgeber
Forschungsberichte und Rezensionsanfragen
Abteilung
Das Archiv für Sozialgeschichte wird herausgegeben von
Dr. Claudia Gatzka
Prof. Dr. Kirsten Heinsohn
Prof. Dr. Friedrich Lenger
Prof. Dr. Thomas Kroll
Dr. Anja Kruke
Dr. Philipp Kufferath
Prof. Dr. Ute Planert
Prof. Dr. Dietmar Süß
Dr. Nikolai Wehrs
Dr. Meik Woyke
In der Reihe Einzelveröffentlichungen aus dem Archiv für Sozialgeschichte werden Aufsätze aus den Rahmenthemen publiziert.
In der ReiheBeihefte zum Archiv für Sozialgeschichte erscheinen vorwiegend Quelleneditionen mit Dokumenten zur Geschichte der Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung sowie zur Zeitgeschichte.