In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hatten Eliten ein gutes Image. Ihnen wurden hohe Qualifikationen, besondere Fähigkeiten zur Führung und ein hohes Leistungsvermögen zugeschrieben. In der westlichen Welt setzte sich sogar die Überzeugung durch, Eliten seien in Demokratien unverzichtbar und mit den ausgleichenden Tendenzen des modernen Sozialstaats in Einklang zu bringen. Im Zeitalter der Globalisierung sind die Eliten allerdings mehr und mehr in Verruf geraten. In der aktuellen Debatte werden politische Eliten von rechten Populisten im Namen des »wahren« Volkes als abgehobene Akteure präsentiert, die nur egoistische Interessen verfolgten. Linke Antikapitalisten machen in den Eliten, die ökonomisch von der Globalisierung profitieren, ebenso wie in den »Superreichen« jene Kräfte aus, die der Verwirklichung ihrer Gerechtigkeitsideale entgegenstünden.
In der politisch-sozialen Sprache verbinden sich mit dem Begriff der Elite also Fragen nach der Organisation von Herrschaft und weitreichende Vorstellungen über soziale Ordnungen und politische Zukunftsentwürfe. Insofern stellen Eliten auch für die Geschichtswissenschaft ein vielversprechendes Forschungsfeld dar. In diesem Zusammenhang wird der Begriff der Elite – ähnlich wie in der Soziologie – als analytische oder beschreibende Kategorie verwendet. Demnach wären Eliten als Gruppen von meist der Oberschicht angehörenden Menschen zu verstehen, die – auf unterschiedlichen Ebenen von Staat, Gesellschaft, Politik oder Kultur – Leitungsfunktionen übernehmen und bestimmend in Entscheidungsprozesse eingreifen. Eine Sozialgeschichte der Eliten verspricht insofern Erkenntnisse über die grundlegenden sozialen Strukturen der Gesellschaft, die Verteilung und Legitimation von Macht und die politischen Partizipationschancen in den Prozessen des gesellschaftlichen Wandels seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert.
Auf der jährlichen Tagung des Archivs für Sozialgeschichte (AfS), die aufgrund der aktuellen Umstände der Corona-Pandemie in diesem Jahr als Online-Format veranstaltet wird, werden zahlreiche Beitragsideen in 15-minütigen Präsentationen vorgestellt, um Fragen und Forschungsperspektiven für das Rahmenthema von AfS 61 (2021) zu entwickeln. Teilnahme im Einzelfall und nur nach Anmeldung möglich.
Begrüßung, Vorstellungsrunde und Moderation
Philipp Kufferath, Bonn
Einführung: Eliten und Elitenkritik als Forschungsfeld
Thomas Kroll, Jena
Eliteverständnisse. Eine historisch-soziologische Kritik des Elitenbegriffs
Peter Imbusch, Wuppertal
Moderation: Ute Planert, Köln
„Verwässerte“ Elite? Prosopographische Untersuchung der neuen Aristokraten in Ungarn
Tamás Szemethy, Budapest
Italian Elites under Napoleonic Rule: A Turning Point
Valentina Dal Cin, Venedig
Europa in der Toskana. Soziale und kulturelle Praktiken transkultureller Eliten im Gabinetto Vieusseux in Florenz (1820–1861)
Annika Haß, Paris/Frankfurt am Main
Moderation: Anja Kruke, Bonn
Die Gesandten der Deutschen Bundesversammlung (1815–1866). Eine zwischenstaatliche Funktionselite zwischen Kritik und Integration
Marko Kreutzmann, Jena
Privilegierte Außenseiter? Polnische Mitarbeiter und Delegierte bei der International Labour Organisation (ILO), 1919–1950
Natali Stegmann, Regensburg
Elitenherrschaft im Zeitalter der „Massendemokratie“. Der Civil Service und die politische Kultur Großbritanniens im 20. Jahrhundert
Nikolai Wehrs, Konstanz
Moderation: Kirsten Heinsohn, Hamburg
„Eine neue Ordnung der Führungskräfte“ Über Legitimationsstrategien technischer Eliten im Umfeld des faschistischen Parti populaire français (1936–1942)
Jakob Fesenbeckh, Paris/Heidelberg
›Unverführbare‹ Verführer. Rhetorik als Elitenkompetenz in der frühen BRD
Lukas Rathjen, Zürich
Moderation: Friedrich Lenger, Gießen
Getting Rid of their Ties. The Long-term Evolution of Elite Networks and Profiles in the Three Largest Swiss Cities, 1890–2020
Michael A. Strebel/Baptiste Antoniazza/André Mach, Lausanne
Recruitment of University Professors. The Top of the Hungarian Elite of Knowledge during the Interwar Period
Zsuzsanna Kiss, Budapest
Ehreliten? Ehrenbürger, Ehrendoktoren und Honorarkonsuln in Berlin von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Olga Sparschuh, München
Moderation: Dietmar Süß, Augsburg
Elitenwechsel auf dem Lande. Strukturelle Brüche und subkutane Kontinuitäten in der Sowjetischen Besatzungszone und DDR, 1945–1990
Arnd Bauerkämper, Berlin
Elitenbildung zwischen Neukonstruktion und Professionalisierung. Diplomaten der DDR 1949–1990
Björn Hofmeister, Berlin
Elitenwechsel und Demokratisierungsprozess. Probleme der vergleichenden Elitenforschung Ostmitteleuropas
Helmut Fehr, Bubenreuth
Moderation: Meik Woyke, Hamburg
Unternehmensberater. Aufstieg und Fall einer ökonomischen und sozialen Elite, 1970er- bis 2000er-Jahre
Alina Marktanner, Köln
Die Besteuerung von Eliten in Demokratie und Diktatur
Marc Buggeln, Augsburg
Szene-Eliten. Selbststilisierung, soziale Praxis und postmoderne Ästhetisierung am Beispiel des Norwegian Black Metal (1984–1994)
Marco Swiniartzki, Jena
Abschlussdiskussion und nächste Schritte
Das Archiv für Sozialgeschichte wird herausgegeben von
Prof. Dr. Kirsten Heinsohn
Prof. Dr. Friedrich Lenger
Prof. Dr. Thomas Kroll
Dr. Anja Kruke
Dr. Philipp Kufferath
Prof. Dr. Ute Planert
Prof. Dr. Dietmar Süß
Dr. Meik Woyke
In der Reihe Einzelveröffentlichungen aus dem Archiv für Sozialgeschichte werden Aufsätze aus den Rahmenthemen publiziert.
In der ReiheBeihefte zum Archiv für Sozialgeschichte erscheinen vorwiegend Quelleneditionen mit Dokumenten zur Geschichte der Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung sowie zur Zeitgeschichte.