Digitalisierung: Big Democracy soll Big Tech und Big State überwinden

Blogbeitrag von Francesca Bria


Dieser Beitrag ist Teil der Blogreihe zum #DigiCap-Kongress vom 15. bis 19. November 2021 Digitale Agenda für Europas Wirtschaft: – demokratisch • nachhaltig • gerecht.


Die EU muss durch eigene technologische Innovationen als globale Wirtschaftsmacht relevant bleiben. Für Europa bedeutet der Innovationswettbewerb jedoch auch, dass wir unsere Stärken, Grundsätze und Werte einbringen müssen, um sicherzustellen, dass die Digitalisierung wirklich nachhaltig und demokratisch ist.

 

Bei der gegenwärtigen digitalen Transformation unserer Gesellschaften müssen wir uns der langfristigen politischen und sozialen Herausforderungen bewusst sein, die dieser Wandel mit sich bringt – angefangen mit der Macht der Monopole, über die Notwendigkeit einer neuen Steuer für digitale Plattformen und Regeln für den Handel, bis hin zu zunehmender Arbeitslosigkeit und Prekarisierung der Arbeit aufgrund von Automatisierung sowie Fragen über bürgerliche Freiheiten und Demokratie.

Zentrale Aufmerksamkeit gebührt dabei Fragestellungen im Zusammenhang mit den Rechten von Bürger_innen und Arbeitnehmer_innen, mit digitaler Privatsphäre und Daten-Governance. Wir sollten in der Lage sein, die binäre Logik zu durchbrechen, die uns immer nur zwei Szenarien für die Zukunft des Digitalen präsentiert: Big State – das chinesische Modell, ein Überwachungsstaat nach Orwellschem Vorbild, oder Big Tech – der Überwachungskapitalismus des Silicon Valley. Big State nimmt den Menschen ihre persönlichen Freiheiten, wohingegen Big Tech Datenmonopole schafft, die irgendwann die Kontrolle über kritische Infrastrukturen wie das Gesundheits- oder Bildungswesen erlangen. Beides ist keine Option für eine demokratische Welt.

Europa sollte über die Modelle von Big Tech in den USA und Big State in China hinausgehen und den Weg zu einer „Big Democracy“ ebnen: einer neuen Art von digitalem Humanismus, der Innovation und Dynamik mit der kompromisslosen Verteidigung von Autonomie, Demokratie und Nachhaltigkeit verbindet. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir eine ehrgeizige Regulierung, eine digitale Industriestrategie und ein pragmatisches politisches Programm, wie wir die digitale Revolution in Richtung sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit lenken können.

Die Tech-Regulierung der EU geht in die richtige Richtung und es zeichnet sich ein internationaler Konsens über die Notwendigkeit der Regulierung von Big-Tech-Unternehmen ab. Vor einigen Wochen beeindruckte die Facebook-Whistleblowerin Francis Haugen Gesetzgeber der EU, der USA und des Vereinigten Königreichs mit ihren Enthüllungen; außerdem wurde die gegen Google wegen Kartellverstoß, nämlich dem Missbrauch seiner marktbeherrschenden Stellung durch Bevorzugung eigener Dienste, verhängte Geldbuße in Höhe von 2,42 Milliarden Euro gerichtlich bestätigt. Zusammen setzt das weltweit starke Impulse für die Regulierung digitaler Plattformen. Es ist offensichtlich, dass die Big Tech alleine nicht mit all der Macht umgehen können, die sie angehäuft haben.

Das EU-Gesetz über digitale Märkte (DMA) und das Daten-Governance-Gesetz (DGA) sind ein guter Schritt nach vorn, um die Marktdominanz von Big Tech durch die Stärkung des Wettbewerbs- und Kartellrechts einzudämmen. Marktdominanz ist heute ein echtes Problem. Für Big Tech ist die Pandemie ein Schock, aber anders als für uns alle ist es für sie ein positiver Schock. Die großen digitalen Akteure, die GAFAM (Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft) aus den USA und ihr chinesisches Pendant, die BAT-Konzerne (Baidu, Alibaba und Tencent), haben zusammen einen Börsenwert zwischen 9 und 10 Billionen Dollar (8-9 Billionen Euro) erreicht und US-Technologieaktien sind mehr wert als der gesamte europäische Aktienmarkt. All dies hat zu einer in der jüngeren Geschichte noch nie dagewesenen industriellen Konzentration geführt. Wenn fünf Unternehmen die digitale Wirtschaft besitzen, kann sie dann wirklich für uns alle funktionieren?

Wir müssen sicherstellen, dass die Entwicklung des digitalen Kapitalismus nicht zu unumkehrbaren Formen der wirtschaftlichen Konzentration führt. Um dies zu verhindern, müssen wir schneller handeln und dabei ehrgeiziger sein als bisher, denn nach zwanzig Jahren Vorherrschaft von Big Tech sehen wir uns jetzt in einer Notlage: Der Wettbewerb ist zerstört, die digitalen Riesenplattformen handeln extrem schnell und schaffen große und neue Probleme für die Wirtschaft, die Umwelt und die Gesellschaft, die wir nur schwer in den Griff zu bekommen scheinen.

Das DMA ist in seiner aktuellen Form zu eng gefasst, da es auf den Erkenntnissen früherer Kartellfälle beruht, wir aber nicht wissen, was auf neuen Märkten wie der digitalen Gesundheit, der digitalen Versicherung und dem digitalen Zahlungsverkehr geschehen wird. Darüber hinaus muss das DMA auch die Fusionskontrolle miteinbeziehen, um das Problem von „Killer-Akquisitionen“ zu adressieren, da wir beobachten können, dass Marktbeherrschung und Marktmacht das Ergebnis von Firmenübernahmen sind. Die GAFAM haben in den letzten zwanzig Jahren rund eintausend Unternehmen übernommen und weltweit wurde keine einzige dieser Fusionen von einer Wettbewerbsbehörde blockiert.

Die Regulierungsbehörden haben die Macht zu handeln, aber sie scheinen manchmal zu langsam zu sein – auf Aufholjagd und eingeschüchtert von der Lobbymacht der digitalen Giganten, die jährlich rund 97 Millionen Euro für Lobbyarbeit in der EU ausgeben. Wir sollten überwachen, wie sie die Regulierungsbehörden beeinflussen, und sicherstellen, dass unabhängige Meinungen berücksichtigt werden.

Um wirklich etwas zu verändern, sollten wir jedoch den Blick auf das Ziel gerichtet halten und uns diesen nicht von anderen Ansätzen verstellen lassen, wie z.B. der massenhaften Moderation von Inhalten, die nur Symptome bekämpfen und die Gefahr bergen, dass sie die Aufmerksamkeit von den eigentlichen Ursachen der Big-Tech-Dominanz ablenken: Letztere muss durch die Korrektur eines wettbewerbsfeindlichen Geschäftsmodells, das die digitalen Rechte der Nutzenden und Bürger_innen beschneidet, angegangen werden. Die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts ist wichtig, aber wir müssen noch weiter gehen und eine echte digitale Industriestrategie mit umfangreichen (öffentlichen und privaten) Investitionen entwickeln, um Europas technologische Souveränität zurückzugewinnen.

Europa braucht seine eigenen digitalen Champions, die in der plattformbasierten Digitalisierung wettbewerbsfähig sind, die Kontrolle über ihre technologischen Lösungen übernehmen und künftige kritische Dienste und Anwendungen in den Bereichen Energie, Mobilität, Deep Tech und Klimawandel entwickeln können. Europa muss Alternativen zu den chinesischen Monopolen in der Technologieproduktion und den amerikanischen Monopolen in den Bereichen geistiges Eigentum, digitale Technologien und Zahlungssysteme aufbauen. Dies bedeutet, dass Deep-Tech-Start-ups gefördert und Forschungszentren, Universitäten, Start-ups und Unternehmen durch einen effektiven Technologietransfer miteinander verbunden werden müssen.

Was noch fehlt, sind der Zugang zu Kapital und größere EU-weite Risikokapitalmärkte – mit einem voll funktionsfähigen Binnenmarkt und einer paneuropäischen Regulierungslandschaft, um so die Nachfrage nach einheimischen Technologieprodukten anzukurbeln, die so konzipiert sind, dass sie sich gut in die lokalen Steuer-, Arbeits- und Lizenzierungsvorschriften einfügen. Dazu könnte auch die Entwicklung demokratischer Daten-Governance-Modelle gehören, wie z.B. Datentreuhänder, auch „Data Trusts“ genannt, mit denen Daten in anonymisierter Form im Namen des Allgemeinwohls weitergegeben werden können um, zum Beispiel in Städten eingesetzt, Herausforderungen wie Klimawandel, Umweltverschmutzung und nachhaltige Mobilität zu bewältigen. Die heutige Standardlösung, bei der solche Daten in die nicht nachhaltigen, die Privatsphäre verletzenden Geschäftsmodelle von Technologieplattformen einfließen, ist nicht mehr tragbar.

Das bedeutet, dass wir die kritischen Technologien, die wir brauchen, entweder selbst in Europa herstellen – oder wir müssen in der Lage sein, den langfristigen Zugang zu ihnen aus verschiedenen Quellen zu gewährleisten. Die Europäische Union hat einen ehrgeizigen 2-Billionen-Euro-Plan vorgelegt, um sich von der durch Corona verursachten Wirtschaftsflaute zu erholen und wird mindestens 20 Prozent der für die Covid-Fazilität für Konjunkturbelebung und Resilienz vorgesehenen 672,5 Mrd. Euro in kritische Technologien und Infrastrukturen investieren, nämlich in Ultrabreitbandnetze, 5G, Cloud Computing, KI, Mikroprozessoren und Cybersicherheit.

Mit dem europäischen Cloud-Gesetz will sich die EU das Ziel setzen, bis 2030 mindestens 20 Prozent der weltweiten Halbleiterproduktion in Europa anzusiedeln, um so ihre souveränen Produktionskapazitäten zu erhöhen; außerdem sollen mehr staatliche Beihilfen zur Finanzierung neuer Chiphersteller und grüner Projekte gewährt werden.

Davon hängt auch die Zukunft der grünen Energie in Europa ab, zusammen mit der Umstellung auf erneuerbare Energiequellen. Dies ist eindeutig eine Frage der Souveränität für Europa. Um als Smart Power handlungsfähig zu sein, muss Europa seine strategische Autonomie als Bündnis stärken, angefangen mit unseren Fähigkeiten in den Bereichen Verteidigung, Technologie und Wissenschaft bis hin zur Rolle des Euro in der neuen digitalen Welt.

Europa und gleichgesinnte demokratische Partner haben die Chance, einen fortschrittlichen globalen Weg für eine digitale Gesellschaft vorzugeben, indem sie auf internationaler Ebene handeln, einschließlich verbindlicher internationaler Regelungen zu Kartellrecht, Besteuerung, digitalem Datenschutz, demokratischer Daten- und KI-Governance, Cybersicherheit und Nachhaltigkeit.

Wir sollten sicherstellen, dass wir in der Lage sind, die massiven Investitionen aus dem Instrument NextGenerationEU strategisch in den Aufbau unserer eigenen technologischen, wissenschaftlichen und unternehmerischen Fähigkeiten und in ein spezifisches europäisches Innovationsmodell zu lenken, das unsere digitale Zukunft gestalten wird. Das europäische digitale Modell sollte einen klaren Schwerpunkt auf den Schutz von Bürger_innen, Arbeitnehmer_innen und Umwelt legen. Es sollte auf Open-Source-Technologie, Datenübertragbarkeit und -austausch sowie die Privatsphäre wahrenden Standards und Protokollen beruhen und dabei Kartellrecht und Datenschutz, algorithmische Transparenz und Rechenschaftspflicht miteinander verbinden.

In diesem Kampf für Europa sollte es um demokratische Autonomie gehen – darum, die Digitalisierung wirklich nachhaltig und inklusiv zu gestalten und Innovation im Interesse der Allgemeinheit, der Datensouveränität der Bürgerinnen und Bürger, ihrer Autonomie und ihrer verfassungsmäßig garantierten Rechte zu verteidigen.


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Francesca Bria ist Präsidentin des italienischen Nationalen Innovationsfonds.

 


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