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Der Weg einer Heimarbeiterin in Pakistan

„Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich einmal die Stimme der Heimwerkerinnen sein würde“, sagt Fozia Hanif, eine stille, aber entschlossene Frau aus einem kleinen Dorf im Norden der Provinz Sindh in Pakistan. Heute ist sie eine der Führungsfiguren einer wachsenden Bewegung pakistanischer Heimarbeiterinnen, die sich organisieren, mobilisieren und ihr Leben durch kollektives Handeln verändern.

Khairpur ist berühmt für seine Dattelfarmen und sein Kunsthandwerk, aber das ist nur ein Teil seiner Geschichte: Es ist die große Zahl der zumeist unsichtbaren Heimarbeiterinnen wie Fozia und die anderen Frauen ihres Dorfes, die den Bezirk am Laufen halten. Laut offiziellen Arbeitsmarktzahlen gibt es 4,4 Millionen Heimarbeiter:innen in Pakistan, während inoffizielle Quellen sogar von 20 Millionen ausgehen, davon 12 Millionen Frauen (Khattak, 2023). Die verfügbaren Daten zeigen auch, dass die Heimarbeit im Jahr 2013-14 erstaunliche 3,8% des Bruttoinlandsprodukts ausmachte. Angesichts des bedeutenden Anstiegs der Zahl an Heimarbeiter:innen dürfte deren wirtschaftliche Bedeutung inzwischen aber noch größer sein. Die meisten Heimarbeiter:innen verfügen über keinerlei soziale Sicherheit und verdienen deutlich weniger als den Mindestlohn. Beispielsweise zeigt ein Bericht der Weltbank von 2025, dass die meisten Heimarbeiter:innen in den Provinzen Belutschistan und Khyber Pakhtunkhwa weniger als 10.000 Pakistanische Rupien (35$) im Monat verdienen – deutlich weniger als der Mindestlohn in der Provinz, der sich auf 37.000 Rupien/$130 bzw. 36.000 Rupien/$127 beläuft.

Trotz jüngster politischer Entwicklungen, die zur Verabschiedung von Gesetzen zum Schutz von Heimarbeiter:innen in allen Provinzen führten, wird diese Gruppe an Arbeitskräften noch immer häufig vernachlässigt (Regierung von Belutschistan, 2023; GoKP, 2021; Regierung von Punjab, 2023; Regierung von Sindh, 2018). Grund dafür ist die schwache Durchsetzung der Gesetze, aber auch die Tatsache, dass viele Arbeiter:innen sich ihrer Rechte nicht bewusst sind und diese folglich auch nicht in Anspruch nehmen. Und der Zugang zu wichtigen Informationen und Infrastruktur ist in entlegenen Gebieten wie Fozias Dorf bekanntlich noch geringer als in den Städten.

Um diesen Problemen entgegenzuwirken, führt das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Pakistan Aufklärungsveranstaltungen über die Rechte von Heimarbeiter:innen und über Gewerkschaften durch und bietet in Zusammenarbeit mit lokalen Regierungsinstitutionen und Partnern wie Bhittai Social Watch and Advocacy (BSWA) Schulungsworkshops für Arbeiter:innen und Heimarbeiter:innen an. In diesem Zusammenhang konzentriert sich die FES hauptsächlich auf Sindh, die erste Provinz, die 2018 ein Gesetz über Heimarbeiter:innen verabschiedete.

 

Wie viele Frauen in ihrem Dorf wusste Fozia zu Beginn ihres Wegs nur wenig über Gewerkschaften. Die Idee, dass sich Frauen in ihrem Dorf gemeinsam organisieren könnten, war für sie völlig neu. Nachdem sie an einer Veranstaltung der FES teilgenommen hatte, sah sie zum ersten Mal das Potenzial von Gewerkschaften und die Möglichkeit, dass diese nicht nur ein Begriff, sondern ein Werkzeug für Würde, Schutz und Ermächtigung sein könnten.

„Bevor wir eine Gewerkschaft hatten, fühlte ich mich völlig machtlos“, erinnert sich Fozia.  „Es gab keine Bühne, von der man sprechen konnte, niemanden, der zuhörte, und keine Möglichkeit, unsere Probleme ans Licht zu bringen.”

Die Eintragung der Gewerkschaft der Heimarbeiterinnen war ein Wendepunkt, nicht nur in ihrem Leben, sondern auch im Leben vieler anderer Frauen in ihrem Umfeld. Mit Unterstützung der FES bot die Gewerkschaft eine Rechts- und Organisationsstruktur, die den Frauen unter der pakistanischen Arbeitsgesetzgebung Anerkennung verschaffte. Und sie gab den Frauen noch etwas viel Tiefergehendes: Selbstvertrauen.

„Dieser Moment machte mir Mut. Ich begann, daran zu glauben, dass unsere Stimmen wichtig waren und dass wir gemeinsam für unsere Rechte kämpfen konnten.”

 

Das Eintragungsverfahren war mühsam, und Fozia musste dafür zwei Mal nach Karachi fahren, rund 500 km von ihrem Zuhause entfernt, denn in ihrer Region gab es noch keine Stellen zur Registrierung einer Gewerkschaft. Außerdem drohte der soziale Druck von verärgerten Ehemännern, Familien im Dorf und anderen Mitgliedern der Gemeinschaft, die Heimarbeiterinnen davon abzubringen, sich der Gewerkschaft anzuschließen und so mehr wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erlangen. Fozia erklärt, dass die Heimarbeiterinnen in den Dörfern „nicht den Mut hatten, den Mund aufzumachen. Nicht zu Hause, und schon gar nicht in der Öffentlichkeit“, bis die Gründung der Gewerkschaft endlich abgeschlossen war. Trotz all dieser Hindernisse ließ sich Fozia niemals einschüchtern, setzte sich weiter für die Gewerkschaft ein und motivierte immer mehr Heimarbeiterinnen, sich ihr anzuschließen.

Seither hat die Gewerkschaft Dutzenden von Frauen Zugang zu wirtschaftlichen Chancen und einer beruflichen Ausbildung gewährt und ihnen bewusst gemacht, welche Rechte sie haben. Frauen, die früher praktisch zu Hause eingesperrt waren, beteiligen sich nun aktiv an Entscheidungsprozessen in ihren Familien und Gemeinden. Sie prangern Kinder- und Zwangsehen an, fördern die Bildung für Mädchen und fordern eine bessere Gesundheitsversorgung.

„Wie sind nicht mehr unsichtbar. Wir werden gesehen, gehört und respektiert. Nicht nur von der Gesellschaft, sondern auch zu Hause”, sagt Fozia.

 

Eine der greifbarsten Veränderungen war die Fähigkeit der Frauen, sich Gehör zu verschaffen und zu verhandeln – Verbesserungen und Fähigkeiten, die sie zuvor nie erlangen konnten. Durch die Gewerkschaft sind sie nun in Kontakt mit Käufern und anderen Akteuren, beteiligen sich an Tarifverhandlungen und setzen sich für eine faire Behandlung und faire Löhne ein.

„Früher haben wir geschwiegen, jetzt sind wir stark“, bekräftigt Fozia. „Nun kennen wir unsere Rechte, und wir haben keine Angst sie einzufordern.”

Die Wirkung der Gewerkschaft geht über die Frauen selbst hinaus. Fozias Kinder und Enkel sind Zeugen ihrer Veränderung. „Sie sehen mich bei Verhandlungen mit Käufern und sehen, wie ich bei öffentlichen Foren spreche und andere Frauen organisiere. Das ist das Beispiel, das ich der nächsten Generation geben möchte“, sagt sie stolz. Sie geht mit gutem Beispiel voran und glaubt, dass ihr Weg „zu Hause zu einem kulturellen Wandel geführt hat. Die jüngere Generation schätzt nun Werte wie Gleichheit, Bildung und menschenwürdige Arbeit.“ 

 

Als nächsten Schritt plant die Gewerkschaft, mit Unterstützung von BSWA das Entwicklungszentrum für Frauen in Sadar-ji-Bhatyoon im Tehsil Kingri, Distrikt Khairpur, auszubauen. Es soll zu einer modernen Einrichtung werden, wo die Frauen Schulungen erhalten, ihre Fähigkeiten weiterentwickeln und Rechtskenntnisse erwerben können. Zu den künftigen Initiativen dort gehören kurze Schulungsprogramme, eine Berufsausbildung und Seminare über Arbeitsrecht. Damit will man mehr Frauen aus ländlichen Gegenden erreichen, die noch nicht über ihre Rechte und Ansprüche wie beispielsweise Meldekarten, Sozialleistungen und rechtliche Absicherung Bescheid wissen.

Da viele Gruppen von Kunsthandwerkerinnen, die bereits in der Gegend tätig sind, keinen Zugang zu Unterstützungsnetzwerken und formeller Anerkennung haben, plant die Gewerkschaft, Kontakt mit ihnen aufzunehmen, sie zu organisieren und zu ermächtigen. So soll der im Heimatdorf erzielte Erfolg wiederholt und der „kulturelle Wandel“ sowie die Rechte von Heimarbeiterinnen in der gesamten Provinz und darüber hinaus verbreitet werden.

Dieses Pilotprojekt der FES Pakistan wird künftig auch auf andere Verwaltungseinheiten des Distrikts Khairpur ausgeweitet werden. Ziel ist, es auf die gesamte Provinz und irgendwann auf das gesamte Land zu skalieren. Die Gewerkschaft hat auch die Gründung eines Verbandes von neun Heimarbeiterinnen-Gewerkschaften ins Auge gefasst, und Fozia ist überzeugt, dass die Erfüllung dieses Traums zum Greifen nah ist. 

„Wir glauben, dass wir mit der anhaltenden Unterstützung der FES Pakistan eine Zukunft gestalten können, in der jede Heimarbeiterin gesehen, unterstützt und gefeiert wird.”


Diese Web-Story ist Teil des kontinuierlichen Engagements der FES Pakistan für die Unterstützung von Frauen in Gewerkschaften, die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter, menschenwürdige Arbeit und demokratische Teilhabe.  

 

Autoren:

Abdullah Dayo, Programmberater, FES Pakistan

Momin Malik, Praktikant, FES Pakistan

 

Dieser Beitrag erschien im Original am 28.07.2025 in englischer Sprache auf asia.fes.de


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