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Carl Severing (1875-1952): Kämpfer für eine standhafte Demokratie

Gewerkschaftsführer, Redakteur, Abgeordneter im Reichstag und im ersten gewählten Landtag Nordrhein-Westfalens, Reichs- und Staatskommissar, Innenminister Preußens und des Deutschen Reichs in der Weimarer Zeit – Carl Severing hat in seinem Leben einiges erreicht. Abgezeichnet hatte sich das in frühen Jahren nicht unbedingt. Severing, geboren am 1. Juni 1875 in Herford, wuchs in wirtschaftlich und familiär prekären Verhältnissen im westfälischen Arbeitermilieu auf. Sein Vater, ein Zigarrensortierer, litt unter psychischen Problemen und verbrachte zwei Jahre in einer Nervenheilanstalt. Da das Einkommen der Mutter als Näherin nicht ausreichte, musste Severing, der seit 1882 die Armenschule besuchte, nach der Schule arbeiten. Mit der Rückkehr des Vaters verbesserte sich die Lage der Familie jedoch und Severing konnte die Volksschule besuchen.


Gewerkschaftliches und politisches Engagement vor dem Ersten Weltkrieg

Nach dem Abschluss seiner Schlosserlehre wurde Severing Mitglied im Deutschen Metallarbeiter-Verband (DMV). 1896 beteiligte er sich am Streik in den Dürkopp-Werken in Bielefeld. Dieser blieb jedoch ohne Erfolg, Severing verlor seinen Arbeitsplatz und begab sich auf Wanderschaft. Diese führte ihn bis nach Zürich, wo er 1897 Mitglied des Zentralvorstands des Schweizer Metallverbandes wurde. Langfristig führte ihn sein Weg jedoch zurück nach Bielefeld, wo er zum Kopf der Gewerkschaftsbewegung wurde: 1901 wurde er erster Bevollmächtigter des DMV Bielefeld, 1902 Geschäftsführer. Während seiner Amtszeit stieg die Mitgliederzahl um das Sechsfache an. 1906 erreichte Severing eine Arbeitszeitverkürzung für die Bielefelder Arbeiter:innen.

Seit 1893 war Carl Severing Mitglied in der SPD, war zunächst aber wenig politisch aktiv. Das änderte sich jedoch Anfang der 1900er-Jahre. So wurde er 1905 in die Bielefelder Stadtverordnetenversammlung gewählt, der er fast 20 Jahre angehören sollte. 1907 erreichte sein politisches Wirken dann einen vorläufigen Höhepunkt: Er wurde überraschend in den Reichstag gewählt und war damit der erste SPD-Abgeordnete aus Bielefeld und das jüngste Mitglied der SPD-Fraktion. Durch sein reges Engagement in den Ausschüssen gewann er fraktionsintern schnell an Einfluss.

Der erneute Einzug in den Reichstag gelang 1912 jedoch nicht. Severing wurde nun Chefredakteur der sozialdemokratischen Zeitschrift „Volkswacht“ in Bielefeld. In dieser Rolle sprach er sich während des Ersten Weltkriegs für die finanzielle Unterstützung des Kriegs aus und war ein Verfechter der Einheit sowohl in der Partei als auch in der Arbeiter:innenschaft.

Severing und die Weimarer Republik

Nach dem Ende des Weltkriegs konzentrierte sich Severing auf die Innen- und Sicherheitspolitik und war in leitenden Funktionen verantwortlich für die Verteidigung der ersten deutschen Demokratie. Er wurde Mitglied der Nationalversammlung, des Reichstages und des Preußischen Landtages und 1919 Reichs- und Staatskommissar im Ruhrgebiet. Dort war er, eine komplizierte Aufgabe, mit weitreichenden Sozialisierungsforderungen der Arbeiter:innenbewegung konfrontiert, die vor allem den Bergbau verstaatlichen wollten. Mit der Niederschlagung von Aufständen und zugleich Kompromissbereitschaft zeigend versuchte Severing die Lage zu beruhigen. Seine Strategie war es, den Konflikt mit möglichst wenig Gewalt zu deeskalieren. Diese Strategie scheiterte, als die Reichswehr nach dem Kapp-Putsch die „Rote Ruhrarmee“ brutal niederschlug. Severing verlor in der Konsequenz sein Vertrauen in die Armee.

Von 1920 bis 1926 war Carl Severing Innenminister Preußens. Sein zentrales Anliegen war es, den Staat gegen Angriffe auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit standhaft zu machen. Dafür setzte er auf Beamte, die diesem Ideal entsprachen und von denen nicht die Gefahr ausging, dass diese die Demokratie von innen aushöhlen. Dies bedeutete vor allem eine Entfernung derjenigen Beamten aus dem Dienst, die den Kapp-Putsch unterstützt hatten. Der preußische Beamtenapparat wurde deshalb „System Severing“ genannt. Severing bekämpfte als Innenminister auch entschlossen den rechtsextremen Terror der frühen 1920er-Jahre. Er setzte fest darauf, dass der Staat sich selbst verteidigen können muss. Nach den Erfahrungen des Kapp-Putsches lehnte er die Zusammenarbeit insbesondere mit paramilitärischen Organisationen ab. Die Sicherung der Demokratie sollte durch eine republikanisierte Polizei erfolgen. So konnte Severing die Verstaatlichung der zuvor kommunal organisierten Polizei durchsetzen und in Abstimmung mit den alliierten Siegern baute er die Ordnungspolizei auf. Die Republikanisierung der Polizei zeigte aber auch ihre Grenzen, da die Polizeioffiziere zumeist aus der alten kaiserlichen Armee stammten.

Aufgrund seines Kampfes gegen den Rechtsextremismus geriet Severing ins Visier von Hetzkampagnen. Diese setzten ihm zunehmend mental zu, weshalb er 1926 als Innenminister zurücktrat und in Kur ging. Nach seiner Kur wurde er 1928 Reichsinnenminister. In dieser Funktion strich er unter anderem dem nationalsozialistischen Innenminister von Thüringen Wilhelm Frick die staatlichen Mittel und entschied so den anhaltenden Machtkampf für sich. Nach Zerbrechen der Großen Koalition 1930 wurde Severing erneut für zwei Jahre preußischer Innenminister. Dort wurde er 1932 zum Opfer des „Preußenschlags“, mit dem die demokratische Regierung durch eine Notverordnung des Reichspräsidenten von Hindenburg abgesetzt wurde. Die sozialdemokratische preußische Regierung wehrte sich gegen ihre Entlassung, zog erfolglos vor den Staatsgerichtshof, sprach sich jedoch gegen nichtparlamentarische Mittel wie einen Generalstreik aus. Nach Severings Einschätzung wären diese Mittel aufgrund der Weltwirtschaftskrise, der daraus resultierenden Arbeitslosigkeit und der Überlegenheit der preußischen Polizei ohne Wirkung geblieben.

Im Nationalsozialismus

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialist:innen tauchte Severing ab. Er blieb jedoch in Deutschland und schloss sich nicht dem Exilvorstand der SPD an. 1933 wurde er kurzzeitig verhaftet und mit Reiseeinschränkungen versehen. Insgesamt blieb er im Vergleich zu anderen sozialdemokratischen Politiker:innen aber von größeren Schikanierungen oder Verfolgungen verschont. Diese Tatsache überrascht, war er während der Weimarer Zeit wegen seines starken Engagements gegen rechte Kräfte noch eine Hassfigur der Nationalsozialist:innen gewesen. Dass er weitgehend verschont blieb, dürfte daran gelegen haben, dass er sich nicht aktiv im Widerstand engagierte und in der Zivilgesellschaft seiner Heimat Bielefeld weiter starken Rückhalt genoss. So hatte Severing einen Polizeibeamten als Informanten, der ihn 1944 auch vor den Verhaftungswellen nach dem Attentat auf Hitler warnte.

Nach dem Krieg

Nach Kriegsende versuchte Severing sich erneut politisch einzubringen. So wurde er zunächst eine zentrale Bezugsperson für die SPD in Ostwestfalen und auch für die alliierten Besatzungsmächte. Zudem half er beim Neuaufbau der SPD in Nordrhein-Westfalen. Innerhalb der SPD wurde allerdings Kritik laut, weil er sich dem Nationalsozialismus nicht genug wiedersetzt hätte, während andere Parteigenoss:innen verfolgt, inhaftiert oder sogar ermordet wurden. Auch deshalb ging Severings Einfluss nicht mehr über seine Heimatregion hinaus. Dort blieb er allerdings ein wichtiger politischer Faktor: im Oktober 1946 führte er die Bielefelder SPD zu einer absoluten Mehrheit bei den Kommunalwahlen, bei den Koalitionsverhandlungen der ersten Landesregierung Nordrhein-Westfalens saß er mit am Tisch. 1947 zog er als direkt gewählter Abgeordneter in den ersten gewählten Landtag Nordrhein-Westfalens ein. Dort arbeitete er an der Erstellung der Landesverfassung mit. 1952 starb Carl Severing in Bielefeld. Sein Trauerzug wurde von 40.000 Menschen begleitet.

Severing war kein sozialistischer Revolutionär, sondern Befürworter demokratischer Reformen und einer Gleichberechtigung der Arbeiter:innenerschaft innerhalb der bestehenden Gesellschaft. Insgesamt war er ob seines Arbeiterbackgrounds eher ein pragmatischer Praktiker als ein idealistischer Theoretiker. Er bleibt für sein Engagement für eine starke und wehrhafte Demokratie in Erinnerung.


Bildergalerie

Porträt Carl Severing

Carl Severing, 1920.
Sitzende Männer und dahinter stehende Männer

Carl Severing (stehend, 3. v. r.) im Kabinett, 1927.
Carl Severing und andere Männer gehend im Gespräch. Dahinter Menschenmenge

Carl Severing (Mitte) bei einer Kundgebung der Eisernen Front in Regensburg, 1929.
Drei Männer sitzen im Grünen und unterhalten sich

Carl Severing (Mitte) bei einem Kuraufenthalt in Bad Ems, 1929.
Carl Severing steht auf einer Bühne und hält vor einer Menschenmenge eine Rede

Carl Severing spricht auf einer SPD-Kundgebung, 1930.
Menschenmenge vor einem Gebäude

Carl Severing bei der Einweihung des neuen Polizei-Präsidialgebäudes in Duisburg, 1931.
Männer sitzen im Garten um einen Tisch

Walter Menzel, Fritz Hennsler, Carl Severing und Kurt Schumacher (v. l. n. r.) in Severings Garten in Bielefeld, 1949.
Carl Severing und auf dessem Schoß sein Enkelkind Hans Menzel-Severing

Carl Severing mit seinem Enkel Hans Menzel-Severing, 1950.
Carl Severing und andere an einem Tisch sitzend

Otto Braun, Carl Severing und Marie Juchacz (v. l. n. r.), 1950.

Online verfügbare Quellen

Carl Severing: Die gesetzliche Regelung der Tarifverträge, in: Sozialistische Monatshefte, - 14 = 16(1910), H. 3, S. 156-162, Volltext hier.

Carl Severing: Die Sozialpolitik in Preussen, in: Sozialistische Monatshefte. - 1912. - 16 = 18(1912), H. 26, S. 1622-1628, Volltext hier.

Carl Severing: England, Europa und wir, in: Sozialistische Monatshefte. - 1915. - 21(1915), H. 17/18, S. 859-864, Volltext hier.

Carl Severing: Die politische Bedeutung der Gewerkschaftsbewegung, in: Sozialistische Monatshefte. - 1915. - 21(1915), H. 23, S. 1176-1182, Volltext hier.

Carl Severing: Die Auseinandersetzung in der deutschen Sozialdemokratie und die deutschen Gewerkschaften, in: Sozialistische Monatshefte. - 1916. - 22(1916), H. 10/11, S. 547-551, Volltext hier.

Carl Severing: Deutschlands Zukunft und die deutsche Arbeiterklasse, in: Sozialistische Monatshefte. - 1916. - 22(1916), H. 24, S. 1243-1247, Volltext hier.

Carl Severing: Koalitionsfragen, in: Sozialistische Monatshefte. - 1921. - 27(1921), H. 20, S. 1081-1084, Volltext hier.

Carl Severing: Das Ziel des Kampfes, in: Sozialistische Monatshefte. - 1924. - 30(1924), H. 3, S. 151-155, Volltext hier.

Carl Severing: Der Weg aus der Krise, in: Sozialistische Monatshefte. - 1927. - 33(1927), H. 1, S. 1-5, Volltext hier.

Carl Severing: Zurück zur Politik!, in: Sozialistische Monatshefte. - 1931. - 37(1931), H. 1, S. 3-6, Volltext hier.

Carl Severing: Sieg der Idee, in: Sozialdemokratischer Pressedienst, 20.09.1950, H. 219, S. 1, Volltext hier.

Literatur über Carl Severing

Alexander, Thomas, Carl Severing - Sozialdemokrat aus Westfalen mit preußischen Tugenden, Bielefeld 1992.

Alexander, Thomas, Carl Severing - ein Demokrat und Sozialist in Weimar, in: Europäische Hochschulschriften: Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Frankfurt am Main 1994.

Festschrift zu 75 Jahre Carl Severing [Zsgest. von Freunden Carl Severings], Bielefeld 1950.

Lademacher, Horst, Personenbiografie Carl Severing, in: Internet-Portal „Westfälische Geschichte“, online verfügbar unter: https://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet/finde/langDatensatz.php?urlID=1415&url_tabelle=tab_person [zuletzt abgerufen am 25.02.2025].

Landtag Nordrhein-Westfalen, Lebensgeschichte Carl Severing (1875-1952), online verfügbar unter: https://www.landtag.nrw.de/home/der-landtag/geschichte-des-landtags/verfolgungsbiografien/biografien/carl-severing/lebensgeschichte-carl-severing.html [zuletzt abgerufen am 25.02.2025].

Michaelis, Andreas, Carl Severing 1875-1952, in: Lebendiges Museum Online, online verfügbar unter: https://www.dhm.de/lemo/biografie/carl-severing [zuletzt abgerufen am 25.02.2025].

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