100 Jahre FES! Mehr erfahren

Tarifverhandlungen für Geschlechtergerechtigkeit

Tarifverhandlungen können Geschlechtergerechtigkeit zum Motor tiefgreifender Veränderungen in der Arbeitswelt machen. Internationale Stimmen zeigen: Erst wenn Gleichstellung zur zentralen Säule gewerkschaftlicher Politik wird, lassen sich faire Löhne, geteilte Sorgearbeit und Schutz vor Gewalt durchsetzen – und Gewerkschaften zugleich stärken.

Tarifverhandlungen können ein entscheidendes Instrument sein, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen aller Beschäftigten, von Frauen und Männern, zu verbessern. Gleichwohl zeigt der jüngste Globale Rechtsindex 2025 des Internationalen Gewerkschaftsbunds (IGB), dass in 80% aller Länder weltweit das Recht von Beschäftigten auf Tarifverhandlungen missachtet wird. Im Rahmen unserer neuen globalen Diskussionsreihe “Building gender-just trade unions” (“Zum Aufbau geschlechtergerechter Gewerkschaften”) haben wir gemeinsam mit internationalen Referent:innen Mittel und Gelegenheiten erörtert, wie sich die Frage der Geschlechtergerechtigkeit – ungeachtet des besorgniserregenden globalen Trends – zu einem Kernelement von Tarifverhandlungen und -verträgen machen lässt.
 

Geschlechtergerechtigkeit ist kein nachgeordnetes Anliegen!

Chidi King, Leiterin der Abteilung für Gender, Equality, Diversity, and Inclusion bei der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, führte aus, warum Gewerkschaften Geschlechtergerechtigkeit zur Priorität machen sollten. Angesichts eines weltweit sinkenden gewerkschaftlichen Organisationsgrads seien Gewerkschaften gefordert, neue Mitglieder zu gewinnen und Beschäftigte zu organisieren. Damit dies gelingen könne, müssten sie ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, die Interessen aller Beschäftigten zu vertreten, insbesondere jener, die die größte Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt erfahren. Wenn Tarifforderungen diese Wirklichkeiten nicht widerspiegelten, werde es für die Gewerkschaften noch schwieriger, relevante Akteure zu bleiben und für die Mehrheit der Beschäftigten zu sprechen.
 

Wie kommt Geschlechtergerechtigkeit in Tarifverhandlungen zum Ausdruck? Indem sie einen Wandel in den betrieblichen Machtverhältnissen bewirkt…

Die Aufnahme konkreter „Gender-Klauseln“ in Tarifabkommen sei ein erster Schritt, um die Probleme weiblicher Beschäftigter in den Blick zu nehmen. Allerdings unterstrich King die Notwendigkeit, einen umfassenderen Ansatz zur Stärkung von Geschlechtergerechtigkeit in Tarifverhandlungen zu entwickeln. Im Rahmen von Tarifverhandlungen könnten strukturelle Veränderungen in der Organisation von Arbeit und Leben umgesetzt und dadurch Ungleichheiten beseitigt werden. Dies könne beispielsweise besondere Bestimmungen zur gemeinschaftlichen Verantwortung für Sorgearbeit, zum Mutterschutz, zum Gender Pay Gap, usw. beinhalten. Denn klar sei: Solange Frauen beim Arbeitslohn benachteiligt seien, gebe es für Väter keinen Anreiz, in Elternzeit zu gehen. Stattdessen sei dies dann Aufgabe der Mütter, da für Familien so ein geringerer wirtschaftlicher „Verlust“ entstehe. In diesem Zusammenhang stellte King die Frage: “Was spricht eigentlich gegen eine Überprüfung der Arbeitsorganisation selbst, um es endlich allen zu ermöglichen, Arbeit und die Verantwortung für eine Familie miteinander in Einklang zu bringen und mehr Raum für Freizeit- und andere Aktivitäten außerhalb der Arbeit zu haben?” Wenn die Gewerkschaften die Frage der Geschlechtergerechtigkeit nicht zu einer zentralen Säule ihrer Tarifpolitik machten, verpassten sie die Gelegenheit, die betriebliche Arbeitsorganisation grundlegend zu verändern und eine Arbeitswelt zu schaffen, die tatsächlich für alle funktioniere, für Frauen und Männer, und natürlich auch für marginalisierte Bevölkerungsgruppen.
 

…und auch die Gewerkschaften transformiert

Die aktive Beteiligung von Frauen in der Gewerkschaftsbewegung sei wiederum entscheidend, um Fragen der Geschlechtergerechtigkeit in Tarifverhandlungen größeres Gewicht zu verleihen. Dabei gehe es nicht lediglich um Förderprogramme für weibliche Führungskräfte, sondern vielmehr darum, Gewerkschaften wirklich inklusiv und demokratisch zu gestalten und die Kultur politischer Organisationen zu verändern. Die Mitwirkung von geschulten und erfahrenen Frauen in Tarifkommissionen bzw. Verhandlungsteams wäre ein Signal einer solchen Transformation, und es wäre zudem die Voraussetzung für erfolgreiche Tarifverhandlungen über Fragen der Geschlechtergerechtigkeit.

Rose Omamo, Vizepräsidentin des IGB Afrika, merkte an, dass der fortgesetzte Aufbau pluralistischer Tarifkommissionen und Verhandlungsteams auch vom politischen Willen der führenden Funktionäre abhänge. Zudem forderte sie, dass geschlechtsspezifisch aufgeschlüsselte Daten verfügbar gemacht werden sollten, damit sie zur Entwicklung von Argumenten und Tarifforderungen zur Geschlechtergerechtigkeit genutzt werden könnten. “Wenn das Geschlecht in den Daten unsichtbar bleibt, dann können die entsprechenden Anliegen auch nicht in die Tarifforderungen einfließen!”

María Fernanda Alfonso, Gender-Sekretärin bei SINDESENA, der Gewerkschaft der Öffentlichen Beschäftigten beim Nationalen Berufsbildungsdienst SENA in Kolumbien, verwies auf die intergenerationellen Herausforderungen und hob die dringende Notwendigkeit hervor, Tarifforderungen zu entwickeln, die die biographischen Besonderheiten und konkreten Forderungen junger Frauen aufgreifen, um deren Rechte zu schützen und zu stärken.

“Geschlechtergerechtigkeit ist weder zweitrangig noch optional, sondern notwendig, um einen inklusiveren und gerechteren gesellschaftlichen Dialog im arabischen Raum zu fördern. Es ist an der Zeit, dass Frauen zu echten Partnerinnen bei der Aushandlung politischer Entscheidungen werden, nicht nur, um ihre Rechte geltend zu machen, sondern auch, um eine gerechtere und würdevollere Gesellschaft für alle zu schaffen.”

Aisha Hamouda, Präsidentin des Frauenkomitees des Arabischen Gewerkschaftsbunds (ATUC)
 

Wichtige Erfolge am Verhandlungstisch

Die Mobilisierung und Arbeit gewerkschaftlich organisierter Frauen hat dazu geführt, dass zentrale Themen an den Verhandlungstisch gelangten, darunter Lohn- und Chancengleichheit,

die Bekämpfung von Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz, die Anerkennung geschlechtsbasierter Ungleichheiten bei der Verantwortung für die Sorgearbeit sowie die Einbringung von Vorschlägen zur Lösung eben dieser Probleme, wie etwa bezahlte Elternzeit und die Einrichtung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz.

Aisha Hamouda hob insbesondere die Bedeutung der ILO-Konvention 190 zu Gewalt und Belästigung hervor, die heute Bestandteil mehrerer bereits unterzeichneter Tarifabkommen in verschiedenen arabischen Ländern sei. Dies habe, etwa in Tunesien, zur Einführung von Präventions- und Schutzmechanismen und -maßnahmen geführt, die ein sicheres Arbeitsumfeld gewährleisten sollen. Der ATUC begrüße zudem die Einführung der neuen “Tawq” App, eines innovativen Instruments, welches Frauen ermögliche, risikofrei Beschwerden einzureichen und ihre Fälle elektronisch zu dokumentieren. Auf dieser Grundlage werde gewerkschaftlichen Strukturen die Nachverfolgung entsprechender Fälle erleichtert.

Laut Rose Omamo war die Priorisierung von Geschlechtergerechtigkeit in Tarifverhandlungen und die Entwicklung einer langfristigen Verhandlungsstrategie eine bewusste, strategische Entscheidung der afrikanischen Gewerkschaftsbewegung. So sei es gelungen, Schutzmechanismen gegen Belästigung und Gewalt in Tarifabkommen festzuschreiben, ebenso wie Bestimmungen zu Stillzeiten und zur geteilten Verantwortung für Sorgearbeit.

Aus Sicht von María Fernanda Alfonso ist es entscheidend gewesen, eine kritische Masse zu organisieren, die den Wandel vorantreibe. Nicht zuletzt durch gesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Druck seien in den Tarifverhandlungen im öffentlichen Sektor Kolumbiens substanzielle Erfolge erzielt worden: Bezahlter Krankenstand für Frauen, die Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt geworden sind, Regelungen und Instrumente zur Förderung einer geteilten Verantwortung für die Sorgearbeit, sowie die Anerkennung von Rechten bezüglich Menstruationsgesundheit und -hygiene.

Rashim Bedi, Koordinatorin der indischen Gewerkschaft Selbstständiger Frauen SEWA (Self-Employed Women's Association), betonte, dass im informellen Sektor oder für selbstständige Arbeiter:innen oftmals zunächst ein Tarifgebiet geschaffen werden müsse, da es keine eindeutigen oder mehrere Arbeitgeber gebe. In einem solch diversen, unübersichtlichen Kontext gründe SEWA dann Zonen des sozialen Dialogs, an denen zwei, drei oder viele Parteien beteiligt sein können. Der Aufbau von Arbeiterkooperativen und anderer kollektiver Organisationen habe Beschäftigte überdies in die Lage versetzt, eigenständig direkte Verhandlungen mit ihren Arbeitgebern zu führen, in denen sie höhere Einkommen, Verbesserungen bei Arbeitssicherheit und -schutz sowie die Ausweitung ihrer betrieblichen Rechte und Freiheiten erreichen konnten.

Die Diskussion hat deutlich gemacht, dass die Priorisierung von Geschlechtergerechtigkeit als Kernanliegen in Tarifverhandlungen eine politische Entscheidung ist, die das Leben von Beschäftigten, aber auch die Gewerkschaften selbst, transformieren kann. Dazu braucht es Willen, Vorbereitung und Schulung, kollektive Strategien, Bündnisse, sowie einen strukturellen Blick auf die Arbeitsbeziehungen und die sozialen Verhältnisse.

 

Viviana Barreto ist Projektmanagerin des Regionalen Gewerkschaftszentrums in Lateinamerika und der Karibik mit Sitz in Montevideo, Uruguay.

Zentrale Genderkoordinatorin

Dr. Stefanie Elies

030 26935-7317
Stefanie.Elies(at)fes.de

 

Redaktion

Dorina Spahn

030 26935-7305
dorina.spahn(at)fes.de

Besuchen Sie uns auch auf Facebook und Instagram @gendermatters_fes

 

nach oben