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Macht und Profit ohne Verantwortung

Die Auftragsvergabe an Subunternehmer als Geschäftsmodell und ihre schädlichen Auswirkungen auf Arbeitsmigrant_innen – ein Interview mit Prof. Dr. Silvia Borelli.


Im vergangenen Jahr haben Sie ein Briefing zu der Frage veröffentlicht, wie Arbeitsvermittlungen und die Auftragsvergabe an Subunternehmen sich auf Drittstaatsangehörige auswirken. Was bedeutet Auslagerung an Subunternehmen – und was macht sie für Unternehmen so attraktiv?


Nach Untersuchungen des Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) ist die Auslagerung ein Geschäftsmodell, das Unternehmen die Möglichkeit eröffnet, Macht und Profite von Risiken und Verantwortlichkeiten zu trennen, um die Arbeitskosten zu senken. Unternehmen können sich dafür entscheiden, ihre Produktion ganz oder teilweise an Vertragsfirmen auszulagern. Diese Vertragsfirmen können die Tätigkeiten, mit denen sie beauftragt wurden, ihrerseits an andere Vertragsfirmen auslagern. Dieses „Outsourcing“ kann weiter fortgesetzt werden, bis am Ende sehr lange Untervergabeketten entstehen.

Doch welchem Zweck dienen diese langen und komplexen Untervergabeketten? In vielen Fällen vereinbaren das führende Unternehmen und der beziehungsweise die Hauptauftragnehmer die Konditionen für das Erbringen der Dienstleistung oder die Güterproduktion, während die Risiken und Verpflichtungen des Arbeitsgebers über die langen und komplexen Untervergabeketten an nachgelagerte Subunternehmer weitergereicht werden. Damit sie die von dem führenden Unternehmen vorgegebenen Anforderungen erfüllen können, halten diese Subunternehmen oft die arbeitsrechtlichen Vorschriften nicht ein.

 

Um welche Art von Firmen handelt es sich bei den Subunternehmen in solchen Untervergabeketten?


Wir habe in zahlreichen Fallstudien festgestellt, dass einige Subunternehmer schlicht sogenannte „tank companies“ sind. Das sind Firmen, die Billigarbeitskräfte bereitstellen, keine Sozialabgaben abführen und dazu genutzt werden, um durch falsche Rechnungen die Umsatzsteuerlast des führenden Unternehmens zu mindern. Manche Untervergabeketten werden durch „Briefkastenfirmen“ verlängert, die keinerlei Geschäftstätigkeit ausüben und nur dazu dienen, diese Ketten zu verschleiern.

 

Welche negativen Auswirkungen hat die Untervergabe an Subunternehmen? Und gibt es Vorstöße zur Regulierung dieser Praxis?


Nach unseren Recherchen hat die Vergabe an Subunternehmen in vielen Fällen ausgesprochen negative Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen sowohl für Drittstaatsangehörige als auch für EU-Bürgerinnen und EU-Bürger. Sie resultieren in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen, weil die Beschäftigten leicht entlassen werden können, führen zu schlechteren Arbeitsbedingungen und bringen für die Beschäftigten eine höhere gesundheitliche Gefährdung und höhere Sicherheitsrisiken mit sich.

Ein weiteres Problem, mit dem von „tank companies“ und Briefkastenfirmen unter Vertrag genommene Beschäftigte konfrontiert sind, hat mit der verhältnismäßig kurzen Lebensdauer solcher Unternehmen zu tun: Nach ein paar Jahren verschwinden diese Firmen, und ihr Kapital wird ins Ausland (oft in Steuerparadiese) transferiert. Weil es keine Durchgriffshaftung gibt, haftet die Unternehmensleitung dieser Firmen in der Regel nicht für begangene Arbeitsrechtsverstöße und kann ungehindert eine neue Firma gründen. Die Beschäftigten, die von der alten Firma in die neue Firma übernommen werden, verlieren an die Dauer der Betriebszugehörigkeit geknüpfte Ansprüche und andere Leistungen. Dieser Vorgang wiederholt sich immer aufs Neue in einem Kreislauf, der sich unendlich fortsetzt.

Hinzu kommt, dass durch Untervergabe die Arbeitnehmer_innengemeinschaften fragmentiert werden und die gewerkschaftliche Organisierung erschwert wird, weil die in die Untervergabe eingebundenen Beschäftigten bei unterschiedlichen Arbeitgebern angestellt sind und für sie unterschiedliche Tarifvereinbarungen, mitunter auch unterschiedliche einzelstaatliche Gesetze gelten.

Aus diesen Gründen fordern viele Gewerkschaften auf nationaler und europäischer Ebene sowie etliche Mitglieder nationaler Parlamente und des Europäischen Parlaments eine Regulierung der Unterauftragsvergabe, um die negative Auswirkungen dieser Praktiken für die Beschäftigten und für die Gewerkschaftsarbeit zu unterbinden.

 

Warum ist die Untervergabe besonders für Drittstaatsangehörige ein Problem?


Drittstaatsangehörige sind bei dem Versuch, eine Arbeitserlaubnis in einem EU-Mitgliedstaat zu bekommen, oft auf die Unterstützung durch Arbeitsvermittlungen angewiesen, weil die Beantragungsverfahren vielfach mühsam sind. Bei diesen Arbeitsvermittlungen handelt sich oft um Subunternehmen, die in einem EU-Mitgliedstaat ansässig und in lange und undurchsichtige Untervergabeketten eingebunden sind. Drittstaatsangehörige, die von solchen Subunternehmen oder Arbeitsvermittlungen rekrutiert und als Arbeitskräfte zu Firmen in einen anderen EU-Mitgliedstaat geschickt werden, sind als sogenannte „entsandte Drittstaatsangehörige“ besonders schutzlos. Diese entsandten Drittstaatsangehörigen, die in der EU arbeiten, sind doppelt abhängig von ihrer Arbeitsvermittlungsagentur, weil ihre Aufenthaltserlaubnis in dem EU-Mitgliedstaat nur so lange Bestand hat wie die Entsendung durch die Agentur besteht. Dementsprechend hat die EU-Kommission festgestellt: „Entsandte Arbeitnehmer_innen, die Drittstaatsangehörige sind, sind generell vermehrt Opfer missbräuchlicher Praktiken wie Entsendebetrug, Arbeitsrechtsverstößen, prekären Arbeitsverhältnissen oder irregulären Abführung oder Nichtentrichtung von Sozialabgaben“. Häufig akzeptieren sie eine niedrigere als die ihnen zustehende Vergütung, die allerdings trotzdem noch deutlich höher ist als der Verdienst, den sie in ihrem Herkunftsland erzielen können.

 

Mit welchen Maßnahmen können die Arbeitnehmer_innen- und Sozialrechte der Drittstaatsangehörigen geschützt werden?


Mit Hilfe von Untervergabeketten können Firmen verschleiern, wer der tatsächliche Arbeitgeber ist und wem also die damit verbundenen Pflichten und Verantwortlichkeiten gegenüber den Arbeitnehmer_innen obliegen. Im ersten Schritt muss daher bestimmt werden, wer der tatsächliche Arbeitgeber des betreffenden Arbeitnehmenden ist. Der Europäische Gerichtshof hat in der Rechtssache AFMB entschieden, dass der materielle oder faktische Arbeitgeber (also derjenige, bei dem die Kontroll- und Weisungsbefugnis über die Arbeitnehmendenen liegt) Vorrang haben sollte vor dem formalen Arbeitgeber. Das bedeutet: Das Bauunternehmen, das einen entsandten Arbeitnehmenden beschäftigt hat die tatsächliche Weisungsbefugnis über den Arbeitnehmenden, trägt die Lohnkosten und ist faktisch befugt, den Arbeitnehmenden auszuwählen oder zu entlassen und nicht das Subunternehmen, das lediglich im Arbeitsvertrag des Beschäftigten als Arbeitgeber angegeben ist. Andernfalls würde die Kontroll- und Weisungsbefugnis von den Verpflichtungen des Arbeitgebers hinsichtlich des Schutzes der Arbeitnehmenden entkoppelt. Wenn ein Unternehmen, das nur formal in den Arbeitsvertrag aufgenommen wurde, als realer Arbeitgeber gelten könnte, würde das Arbeitsrecht seinen verpflichtenden Charakter einbüßen und wäre dem Gutdünken des Arbeitgebers anheimgestellt. Schließlich hängen in vielen Fällen die arbeitsrechtlichen Bestimmungen und die Tarifvereinbarungen davon ab, wer der Arbeitgeber ist. Manche Regelungen gelten zum Beispiel nur für Arbeitgeber, die in bestimmten Wirtschaftszweigen tätig sind, die eine bestimmte Anzahl von Beschäftigten haben, einen bestimmten Umsatz erzielen oder in einer bestimmten Rechtsform gegründet wurden.

 

Haben Sie darüber hinaus Empfehlungen, wie den Problemen im Zusammenhang mit der Unterauftragsvergabe entgegengewirkt könnte und wie die Rechte von Arbeitnehmer_innen aus Drittstaaten und anderen Beschäftigten in Untervergabeketten gestärkt werden könnten?


Das Hauptproblem, das durch die Vergabe an Subunternehmen entsteht, ist die Entkopplung von Machtbefugnissen und Profiten von den Risiken und Verantwortlichkeiten. Um diesem Hauptproblem entgegenzuwirken, sollten direkte Beschäftigungsverhältnisse gefördert werden und derjenige als Arbeitgeber definiert werden, der die Weisungs- und Kontrollbefugnis über den Arbeitnehmenden ausübt. Außerdem sollten die Möglichkeiten, Beschäftigung auszugliedern, eingeschränkt und die Untervergabeketten verkürzt werden. Darüber hinaus wäre es gut für die Arbeitnehmer_innenrechte, wenn für alle in die Untervergabekette eingebundenen Unternehmen eine gesamtschuldnerische Haftung eingeführt würde.

Ein weiteres Problem, das in Angriff genommen werden muss, ist die Ungleichbehandlung von Arbeitnehmer_innen in den Untervergabeketten. Deshalb gilt es die Bestimmungen zu stärken, mit denen dafür gesorgt werden soll, dass in allen Teilen der Untervergabeketten die gleichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gelten (dass zum Beispiel in der gesamten Kette die nationalen Tarifvereinbarungen zur Anwendung kommen). Um die Beschäftigungsstabilität zu erhöhen, müssen die auf den Arbeitnehmer_innenschutz abzielenden Sozialklauseln im öffentlichen Vergaberecht durchgesetzt werden, wenn ein neuer Subunternehmer den Auftrag übernimmt oder die ausgeschriebene Dienstleistung erbringt.

Nicht zuletzt sollten in allen Teilen der Untervergabekette die Gewerkschaften und Arbeitnehmer_innenvertretungen unterstützt werden. Das würde die Rechte der Arbeitnehmer_innen auf Unterrichtung und Anhörung stärken und die Untervergabeketten transparenter machen. Zugleich würde es dazu beitragen, dass Arbeitnehmer_innenvertretungen an dem gesamten Verfahren zur Erfüllung der Sorgfaltsplicht beteiligt werden, den die EU-Richtlinie über unternehmerische Sorgfaltspflichten für nachhaltige Lieferketten (Corporate Sustainability Due Diligence Directive – CSDDD) vorschreibt, um die Arbeitnehmer_innenrechte entlang der gesamten Untervergabekette zu stärken.
 


Über die Autorin

Silvia Borelli ist Professorin für Arbeitsrecht an der Universität of Ferrara. Sie gehört dem Redaktionsausschuss der Zeitschriften Lavoro e Diritto und Rivista giuridica del lavoro an, die beide Mitglieder in der International Association of Labour Law Journals sind. Sie ist Mitglied des Academic Network on the European Social Charter and Social Rights. Sie wirkte an zahlreichen Forschungsprojekten auf nationaler und europäischer Ebene mit – unter anderem an dem EGB-Projekt Sicherung der Arbeitnehmerrechte in Untervergabeketten, an dem Projekt Cross-border Social Fraud/Abuse in Social Security (Grenzüberschreitender Sozialversicherungsbetrug/Sozialversicherungsmissbrauch) der Europäischen Föderation der Bau- und Holzarbeiter (EFBH) und an dem Projekt Mapping the Rules on Entsendung und Short-term Migration of Third Country Nationals (Ausarbeitung des Regelwerks für die Entsendung und Kurzzeitmigration von Drittstaatsangehörigen) des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (ETUI).

Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautorin spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.

Redaktion

Tobias Beylat
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