Social Protection Floor - Soziale Sicherung für alle

Wie können wir Staaten bei der Umsetzung dieses Ziels auf die Finger schauen? Michael Cichon kennt Antworten.

Die neue, interaktive Social Protection Floor Infografik finden Sie hier.

Millionen von Menschen erfahren im Corona Virus eine Bedrohung für ihre Gesundheit und ihren Job. Die Situation zeigt, dass Systeme sozialer Absicherung lebensnotwendig für Individuen, aber auch für Gesellschaften als Ganzes sind.

Schon im Jahr 2012 hatten sich die ILO-Mitgliedstaaten geschlossen für die Einführung von universellen und rechtsbasierten Sozialen Basisschutzsystemen (Social Protection Floors) ausgesprochen. Trotzdem fehlt es vor allem in Ländern des Globalen Südens häufig an grundlegender Gesundheitsversorgung und einem Mindestmaß an Einkommenssicherheit. Um die Defizite, aber auch die Fortschritte der einzelnen Staaten besser messen und einschätzen zu können, hat die FES gemeinsam mit der Global Coalition for Social Protection Floors 2015 ein Instrument entwickelt: Den Social Protection Floor Index (SPFI). Dieser wird fortlaufend aktualisiert und erscheint 2020 zum ersten Mal in Form einer interaktive Karte. Diese bietet einen globalen Überblick und macht den Index für die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen und Gewerkschaften leichter zugänglich.

Dazu sprachen wir mit Michael Cichon, einem Autor und Entwickler des SPFI. Nach langjähriger Tätigkeit im Sekretariat der ILO, einer Station beim International Council on Social Welfare und einer Honorarprofessur an der Maastricht Graduate School of Governance (UNU MERIT), arbeitet Michael Cichon heute als unabhängiger Ökonom.

Das Interview führte Laura Lepsy.

 

Wie entstand die Idee, einen Social Protection Floor Index zu entwickeln?

Im Juni 2012 nahm die Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) die Recommendation 202 betreffend sozialer Basisschutzsysteme (Social Protection Floors) an. Recommendation 202 (R.202) bietet den Mitgliedsstaaten Orientierung dazu, wie sie soziale Basisschutzsysteme für alle im Rahmen einer Gesamtstrategie errichten können, die auch darauf zielt noch höhere Standards sozialer Sicherung auf so viele Menschen wie möglich auszuweiten. Als Mitglieder der ILO sollten alle Länder diese Empfehlung berücksichtigen, wenn sie ihr nationales Basisschutzsystem entwickeln. R. 202 war ein globaler sozialpolitischer Meilenstein für das Erreichen von universeller sozialer Absicherung.  Dieses Ziel wurde weiter dadurch gestärkt, dass Social Protection Floors im Jahr 2015 in die UN Ziele für nachhaltige Entwicklung mitaufgenommen wurden. R. 202 überlässt jedoch die Überwachung der Umsetzung nationalen Mechanismen. Die Globale Koalition für Soziale Basisschutzsysteme (Global Coalition for Social Protection Floors) entschied sich schnell nach der Verabschiedung von R.202, dass die Zivilgesellschaft eine aktive Rolle bei der Überwachung spielen und ihr eigenes Überwachungsinstrument entwickeln sollte. Daher setzte sich die Globale Koalition in den Jahren 2014/2015 mit Forscher_innen der Graduate School of Governance der UN Universität Maastricht zusammen, um einen Überwachungsindex für die Umsetzung nationaler Basisschutzsysteme auszuarbeiten.

Was ist die politische Relevanz des Social Protection Floor Index?

Regierungen müssen ständig daran erinnert werden, dass sie versprochen haben soziale Sicherung für Alle innerhalb des nächsten Jahrzehnts zu erreichen. Daher bedürfen die Ernsthaftigkeit und die Effektivität ihrer Maßnahmen ständiger kritischer – möglicherweise gar skeptischer – Überwachung. Die effektive Überwachung des Fortschritts hin zu universeller sozialer Sicherung braucht wiederum mächtige und objektive Instrumente. Der SPFI Index wurde als einfaches und robustes Überprüfungswerkzeug für zivilgesellschaftliche Organisationen und andere interessierte Gruppen konzipiert.

Was misst der Social Protection Floor Index und wie funktioniert er?

Der SPF Index ist ein zusammengesetzter Gesamtindex, der nationale Lücken sozialer Sicherung in einem einzigen Wert zusammenführt. Er kann genutzt werden

  1. um zu zeigen wie groß das gegenwärtige Problem in der sozialen Sicherung ist, aber auch
  2. um die Entwicklung von Lücken in der sozialen Sicherung über die Zeit zu überwachen.

Der Wert entspricht der geschätzten Menge an Ressourcen, die benötigt würde, um Lücken in Bezug auf die Mindesteinkommenssicherheit und essentielle Gesundheitsversorgung zu schließen. Die Einkommenssicherheits-Lücke (Income Security Gap) zeigt die Gesamtmenge an Ressourcen, die gebraucht würde, um das Einkommen aller armen Menschen in einem Land auf ein nationales oder internationales Armutsniveau zu heben. Die Lücke in Bezug auf die Gesundheitsversorgung (Health Gap) wird berechnet als das mögliche Defizit, das sich ergibt, wenn man die nationalen Gesundheitsausgaben mit einem Niveau von Ausgaben vergleicht, die ein Gesundheitssystem mit ausreichendem Personal und adäquater interner Ressourcenverteilung garantieren würde. Die Menge an Ressourcen, die gebraucht wird um Lücken sozialer Sicherung zu schließen, werden als prozentualer Anteil des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausgedrückt. Diese einfache Messweise erlaubt einen Vergleich mit den Gesamteinnahmen, dem BIP oder dem Verhältnis von Steuern zum BIP. Im Gegensatz zu jedem anderen zusammengesetzten Index der ausschließlich Zahlen enthält, handelt es sich hier um einen Indikator der spricht, das heißt, einen Indikator mit wirklicher Bedeutung. Er signalisiert Regierungen und Gesellschaften das Mindestmaß von staatlichen Einnahmen oder Steuereinkommen, das investiert werden muss, um die nationalen Lücken sozialer Sicherung zu schließen.

Im ersten Bericht von 2016 wurden Indexergebnisse für 2012 gemessen; anschließend wurden auch Ergebnisse für die Jahre 2013 und 2015 veröffentlicht. Was ist der Mehrwert von diesen aktualisierten Daten? Welche Entwicklungen lassen sich ausmachen?

Um die Entwicklungen zu universeller sozialer Sicherung aufzuzeigen, müssen Daten über einen längeren Zeitraum betrachtet werden. Sonst können Trends nicht vernünftig identifiziert werden. Nur in der Langzeitbetrachtung können wir sicherzustellen, dass Trends sich klar herausbilden und Indexveränderungen nicht bloß willkürliche Dateneffekte sind. Dies ist der Grund warum es so wichtig ist, dass die Indexberechnungen alle zwei Jahre wiederholt werden. Dies ist ein relativ kosteneffektives Unterfangen, da Daten, die vom Index verwendet werden, lediglich nationalen Ursprung haben, von der OECD, der Weltbank oder der Weltgesundheitsorganisation kommen. All diese Daten sind öffentlich verfügbar.

Die Indexergebnisse legen nahe, dass die meisten Länder dazu fähig wären Soziale Basisschutzsysteme zu etablieren. Allerdings zeigen die Daten auch, dass für einige Länder Soziale Basisschutzsysteme nicht ausschließlich mit nationalen Ressourcen zu erreichen wären. Was könnte getan werden, um auch in diesen Ländern ein Mindestniveau von sozialer Sicherung zu erreichen?

Die Indexergebnisse zeigen, dass es nur etwa ein Dutzend Entwicklungsländer gibt, die sich unmöglich durch eigene Mittel soziale Basisschutzsysteme leisten können. R. 202 sieht vor, dass ILO-Mitgliedsstaaten, die keine ausreichenden nationalen Ressourcen besitzen, internationale Hilfe zur Finanzierung von Sozialen Basisschutzsystemen in Anspruch nehmen können. Es wäre eine gute, systemische und zielgenaue Investition für die internationale Entwicklungszusammenarbeit, nationale Soziale Basisschutzsysteme zeitweise zu unterstützen. Internationale Unterstützung sollte in Form von passenden nationalen Investitionen stattfinden und sollte an glaubwürdige Maßnahmen, die auf den Aufbau von zeitnaher Selbst-Hilfe abzielen, geknüpft sein.

Könnte ein internationales Finanzierungsinstrument hilfreich sein und wie könnte es aussehen?

Idealerweise sollte es einen Global Fund for Social Protection geben. Die ILO hat diese Idee 2002 zum ersten Mal betrachtet. Später wurde sie vom ehemaligen UN Sonderberichterstatter Olivier de Schutter und von Magdalena Sepúlveda weiterentwickelt[1]. Man könnte versuchen, Regierungen davon zu überzeugen, einen solchen Fonds aufzusetzen. Dies wurde davor auch schon im Fall des Global Fund to Fight AIDS, Tuberculosis and Malaria gemacht. Dieser Fonds schüttet momentan etwa 4 Milliarden US $ jährlich aus. Unser Social Protection Floor Index zeigt, dass wir einen Fonds von dieser Größe oder besser noch von ungefähr doppelter Größe bräuchten, um ein Dutzend armer Länder zu unterstützen, um glaubwürdige Schritte hin zu einem vollständigen Sozialen Basisschutzsystem zu machen und Millionen von Menschen aus Armut und Elend zu ziehen.

In einer Zeit jedoch, in der sich nationaler Egoismus, oder schlimmer Nationalismus, und soziale Gleichgültigkeit auf dem Vormarsch befinden und der Multilateralismus an Boden zu verlieren scheint, ist das Interesse an einem weiteren großen Fonds eher begrenzt. Das ist der Grund aus dem ich glaube, dass wir – das heißt die Zivilgesellschaft – einfach einen solchen Fonds anschieben sollten, indem wir globale Bürger einbinden, die zu einem echten sozialen Wandel beitragen wollen. Wir würden etwa 1% des Einkommens der 2000 Milliardäre dieser Welt brauchen, um ein Drittel des Fondsaufkommens zu erhalten und wir bräuchten 1% des Einkommens von etwa 16 Millionen Menschen mit einem mittleren Einkommen, um die anderen zwei Drittel des Fonds zu füllen.

Michael Cichon, 13. März 2020

 

[1] Für mehr Informationen siehe: De Schutter, O. & Sepúlveda, M. (2012) Underwriting the Poor: A Global Fund for Social Protection


Ansprechpartnerin

Sarah Ganter
Sarah Ganter
+49 30 26935-7430
FES@COP28

FES@COP28

Klimagerechtigkeit und Just Transition bei der Weltklimakonferenz 2023 in Dubai: Berichte und Einschätzungen weiter

Fokus Zeitenwende der Friedrich-Ebert-Stiftung: Eine neue Ära

Fokus Zeitenwende der Friedrich-Ebert-Stiftung: Eine neue Ära

Das Portal beschäftigt sich mit dem Veränderungsprozess, den Deutschland und Europa gegenwärtig durchlaufen. Er wird auch als Zeitenwende bezeichnet weiter

Die ganze Wirtschaft im Blick?
Blog zum W7-Prozess

Die ganze Wirtschaft im Blick?

Perspektiven für eine gendergerechte globale Wirtschaft und Arbeitswelt in post-Corona-Zeiten. weiter

Position

Unsere sechs Botschaften für die Internationale Klima- und Energiepolitik weiter