Neben Wähler*innen und denen, die Wahlen grundsätzlich und aus Überzeugung fernbleiben, existiert innerhalb der wahlberechtigten Bevölkerung noch eine dritte Gruppe: die Gelegenheitswähler*innen. Wie blicken sie auf das demokratische System und Politik insgesamt? Was motiviert ehemalige Nichtwähler*innen, wieder zur Wahl zu gehen? Was demotiviert sie? Wie werden unterschiedliche Wahlkampfformate wahrgenommen und welche Rolle spielen nicht unmittelbar politische Akteure bei der Mobilisierung von Nicht- und Gelegenheitswähler*innen?
Diesen Fragen geht die vorliegende qualitative Studie "Gelegenheitswähler*innen auf der Spur" mithilfe von Tiefeninterviews und Fokusgruppen in sechs unterschiedlichen Wahlkreisen in Deutschland nach und entwickelt verschiedene Personas von Gelegenheitswähler*innen sowie mögliche Strategien zur Mobilisierung.
Durch andere wissenschaftliche Studien wissen wir, dass Nichtwählen häufig mit geringerem Interesse an Politik, geringem Glauben an die eigene Stimme und geringeren Ressourcen – sowohl finanziell als auch sozial – zusammenhängt. So ergeben sich große Repräsentationslücken – häufig werden bereits marginalisierte gesellschaftliche Gruppen von der Politik nicht vertreten.
Die sich überlagernden Krisen wie die Klimakrise, die Corona-Pandemie, der russische Überfall auf die Ukraine und die Energiekrise liefern neue Aspekte, sodass einerseits neue politische Lager entstehen, andererseits aber auch eine steigende Entpolitisierung zu erwarten ist. Die Motive für die Nichtwahl dürften sich daher erwartungsgemäß verändert haben.
Für die Studie wurde ein qualitativ-explorativer, dreistufiger Forschungsprozess gewählt. Zunächst wurden sechs Online-Tiefeninterviews, daraufhin zwölf Fokusgruppen (mit je sechs bis sieben Teilnehmenden) und abschließend abermals sechs Tiefeninterviews durchgeführt. Die Teilnehmenden wurden aus sechs Wahlkreisen rekrutiert, die exemplarisch für unterschiedliche Entwicklungen in der Wahlbeteiligung bei Bundes- und Landtagswahlen stehen.
Die Bundestagswahl 2021 gilt rückblickend selbst für diejenigen, die Wahlen eher weniger aufgeschlossen gegenüberstehen (also die hier befragte Zielgruppe), als eine außergewöhnliche Wahl. Zunächst begründen die Befragten dies mit der Wechselstimmung nach 16 Jahren Merkel. Darüber hinaus erklären die Befragten sich den leichten Anstieg der Wahlbeteiligung (+0,6 Prozentpunkte gegenüber 2017) mit einer verstärkten Politisierung und Polarisierung in Krisensituationen, zum Beispiel durch die Corona-Pandemie und eine damit einhergehende Politisierung der Wahlberechtigten.
Viele der Teilnehmer*innen empfinden vor Wahlen einen sozialen Druck, der insbesondere von ihrem näheren Umfeld ausgeht. Wenn sie auch nicht zwingend selbst der Wahl eine große Relevanz beimessen, reicht es zumindest bei eher wenig verdrossenen Wahlberechtigten häufig aus, wenn das Umfeld sie an die Wichtigkeit erinnert und motiviert.
Die Teilnehmer*innen der Fokusgruppen wurden nach der Analyse ihrer Nichtwahlgründe und der dahinterliegenden Einstellungen systematisch gruppiert. Insgesamt haben wir sechs verschiedene Gruppen, sogenannte Personas, identifiziert:
Im Rahmen der Fokusgruppen und Interviews wurden unterschiedliche Wahlkampfformate thematisiert. Positiv stach dabei in der Tendenz der Wahlkampf in sozialen Medien hervor. Insbesondere bei den Personas der Zurückgekehrten und der Vergesslichen, aber auch bei den Gleichgültigen, scheint Social-Media-Wahlkampf eine gute Möglichkeit zu sein, um niedrigschwellig (Gleichgültige) zu erinnern, (Vergessliche) auf die Wahl aufmerksam zu machen und Politik in den Alltag der Menschen zu transportieren.
Klassische Infostände in Wahlkämpfen führen insbesondere bei den Vergesslichen und den Zurückgekehrten zu positiven Assoziationen. Sie schätzen die Möglichkeit, sich an den Ständen je nach eigenen Zeitressourcen auszutauschen oder nicht.
Der Tür-zu-Tür-Wahlkampf ist einem Großteil von Gelegenheitswähler*innen nicht bekannt. Viele der in dieser Studie Befragten wundern sich über die Art der Kontaktaufnahme und können sich teils wenig unter dem Format vorstellen.
Unsere Gespräche haben gezeigt, dass auch Gelegenheitswähler*innen und Nichtwähler*innen durchaus den Wunsch haben, mit Politik in Kontakt zu kommen. Sie hinterfragen jedoch mehr als andere den Sinn von Wahlkämpfen und vermuten dahinter vor allem einen Selbstzweck. Mit Ausnahme mancher Vergesslicher und Zurückgekehrter trifft dies auf alle Personas zu. Eine steigende Wahlbeteiligung wird daher nicht nur durch Wahlkämpfe zu erreichen sein – vielmehr verlangen die Nicht- und Gelegenheitswähler*innen (genau wie die meisten anderen Bürger*innen) eine stetige Präsenz. Unabhängig davon wird deutlich, dass Wahlkampfformate je nach Persona unterschiedlich bewertet werden – für Parteien besteht hier die Schwierigkeit, im Rahmen einer vergleichsweise kleinen Gruppe zielgruppengerecht und differenziert zu kommunizieren.
Ansprechpartner in der FES: Jan.Engels(at)fes.de
Hagemeyer, Lennart; Faltas, Charlotte; Faus, Jana
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