Bildung und Wissenschaft

„Hinter jedem Schülerverhalten steckt eine Botschaft“

Interview mit dem Schulberater, Psychologen und Bindungsexperten Dr. Claus Koch über Pandemie-Folgen, Unterrichtsstörungen und den Umgang mit Kindern, die Systeme sprengen

Friedrichs Bildungsblog: Coronakrise und Lockdown haben nachweislich mit dazu beigetragen, dass mehr Kinder und Jugendliche psychische Probleme haben. Ist das aus Ihrer Sicht ein Übergangsphänomen oder rechnen Sie mit Langzeitfolgen?

Die Folgen der Pandemie mit Schulschließungen, sozialer Distanz und Vereinsamung werden nicht von heute auf morgen vorbei sein. Repräsentative Untersuchungen wie die des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf haben ergeben, dass sich bei etwa einem Drittel der Jugendlichen während der Pandemie psychische Probleme gezeigt haben, zum Beispiel Angststörungen, Panikattacken, depressives Verhalten, Kopf- und Bauchschmerzen oder Essstörungen. In der zweiten Untersuchung vom Frühjahr dieses Jahres gingen die Zahlen zwar etwas zurück, sind aber immer noch auffällig hoch – bei etwa 28 Prozent. Meine Prognose: Es wird ab diesem Herbst wohl wieder zu Störungen des normalen Schulbetriebs kommen.

 

Im Schulbarometer der Robert-Bosch-Stiftung gaben Lehrkräfte an, Motivations- und Konzentrationsprobleme bei Schülerinnen und Schülern zu beobachten – aber auch deutlich mehr aggressives und weniger soziales Verhalten. Überrascht Sie das?

Ich wäre sehr vorsichtig mit dem Etikett „aggressiv“. Ist es schon aggressiv, wenn Kinder in einer Übergangsphase von der Pandemie in den Alltagsbetrieb der Schulen in den Pausen miteinander raufen oder schneller aufbrausen, wenn sie mit der neuen Situation nicht klarkommen? Wenn sie zum Beispiel einfach empfindlicher auf die für sie ungewohnte Nähe anderer reagieren? Ich finde nicht. Wenn sie auf andere Kinder losgehen, ist das natürlich eine andere Sache. Pauschal von einer Zunahme aggressiven Verhaltens zu sprechen, ist falsch. Und vor allem lohnt es sich immer, nach den Gründen für solche Auffälligkeiten zu suchen.

 

Den Umgang mit so gennannten Unterrichts-Störern nennen Lehrkräfte nicht erst seit Corona als eine der größten Belastungen ihres Berufs. Sind sie weniger stressresistent als früher oder haben sich die Kinder und Jugendlichen verändert?

Mir gefällt schon der Begriff des „Störers“ nicht. Und bei allem Respekt gegenüber den Lehrerinnen und Lehrer, die gerade in der Corona-Zeit sehr viel Stress hatten: manche neigen dazu, grundsätzlich den Schüler oder die Schülerin als Stör-Quelle auszumachen. Darüber vergessen sie, dass auch die Umstände eine Rolle spielen, die dazu führen. Lehrkräfte sollten ebenso ihren möglichen Anteil an Unterrichtsstörungen reflektieren. Wenn Lehrkräfte zum Beispiel angeben, dass aus ihrer Sicht 80 Prozent der Kinder und Jugendliche Motivationsprobleme haben, dann ist die wichtigste Frage für mich: Woran liegt das?  

 

Was glauben Sie?

Zum Beispiel daran, dass Schulen und Lehrkräfte in erster Linie dazu angehalten werden, die Lernrückstände aufzuholen, um den Leistungsstand vor der Pandemie wieder zu erreichen. Das ist wichtig, aber viele Kinder und Jugendlichen merken: sie können das gar nicht schaffen. Ein anderes Beispiel ist motorische Unruhe, gerade bei jüngeren Kindern. Sie haben Zeit gebraucht, um nach der sozialen Isolation im Homeschooling wieder in die schulischen Abläufe reinzukommen. Es ist übrigens sehr schade, dass die neu gemachten, positiven Erfahrungen der Kinder nach der Rückkehr in den Regelbetrieb meistens ignoriert wurden: nämlich nicht mehr starr im 45-Minuten-Korsett unterrichtet zu werden, sondern flexibler zu lernen und sich mehr bewegen zu dürfen.

 

Sie arbeiten in Schulen, die Probleme mit Unterrichtsstörungen haben. Was raten Sie den betroffenen Lehrerinnen und Lehrern?

In der Regel sind es nur ein oder zwei Kinder in einer Klasse, die aber - das gebe ich zu - den ganzen Laden durcheinanderbringen können. Man muss aber differenzieren. Es gibt kleine Störungen wie Dazwischenrufen, mit dem Tischnachbarn quatschen, absichtlich vom Stuhl fallen. Das ist harmlos. Aber dabei zeigt sich schon ein Prinzip, das auch bei schwerwiegenderen Störungen zugrunde liegt: es geht immer darum, dass Kinder und Jugendliche Aufmerksamkeit suchen und eine Reaktion herausfordern. Hinter jedem Verhalten, auch wenn es nach außen vielleicht verrückt wirkt, steckt ein Sinn, eine Botschaft. Es passiert nicht einfach aus Zufall.

 

Wie können Lehrerinnen und Lehrer reagieren?

Über sehr kleine Störungen sollten sie am besten hinwegsehen. Denn sobald der Adressat der Störung, also die Lehrkraft, nicht reagiert, läuft sich das meistens tot. Bei etwas größeren Störungen hilft das nicht. Allerdings warne ich vor den Reaktions-Klassikern „Hör sofort damit auf!“ oder „Es reicht jetzt!“. Die bringen leider gar nichts. Besser sind Botschaften, in denen ich das Kind frage: Gibt es einen Grund, warum Du das machst? Kann ich etwas tun, damit Du wieder zuhören kannst? Das wirkt wie ein Zauberspruch, denn die Kinder merken: jetzt muss ich selbst aktiv werden. Anstatt Befehle zu erteilen, gibt die Lehrkraft die Handlungsmöglichkeit an das Kind zurück.

 

Das hört sich in der Theorie gut an. Aber das klassische Gegenargument lautet: wenn Lehrerinnen und Lehrer sich darauf einlassen, ist die Hälfte der Unterrichtszeit schon rum.

Das Argument, ich bekomme meinen Lehrplan nicht durch, greift zu kurz. Denn wenn Lehrerinnen und Lehrer nicht adäquat auf gravierende Unterrichtsstörungen reagieren, verlieren sie am Ende sehr viel mehr Zeit. Besser ist es, den Kindern und Jugendlichen zu vermitteln, ich beachte euch. Das setzt allerdings voraus, dass ich ein vertrauensvolles und respektvolles Verhältnis zu meiner Klasse habe. Im therapeutischen Setting nennen wir das „spürende Begegnung“, also nicht nur wahrnehmen, was ein Kind tut oder sagt, sondern mit Empathie entdecken, was zum Beispiel sein Gesicht spiegelt, etwa Einsamkeit oder Traurigkeit.

 

Lehrkräfte sind aber keine Therapeutinnen oder Therapeuten.

Das stimmt. Aber für Empathie braucht man doch keine therapeutische Ausbildung! Das Lernen funktioniert nachgewiesener Weise am besten bei Lehrkräften, die nicht nur den Schüler und seine Leistung sehen, sondern das ganze Kind. Diese pädagogische Beziehungskompetenz müsste in der Lehrerausbildung insgesamt eine größere Rolle spielen, denn auch das kann man lernen.

 

Gilt das für alle Lehrerinnen und Lehrer?

Natürlich spielt auch die Persönlichkeit eine Rolle. Lehrerinnen und Lehrer, die jeden Morgen mit Angst vor die Klasse treten, bringen oft schlechte Erfahrungen aus ihrer eigenen Kindheit mit. Wenn sie selbst Herabwürdigungen, Hilfslosigkeit und wenig Selbstwirksamkeit erfahren haben, dann werden sie von Unterrichtsstörungen besonders getriggert. Es kränkt sie massiv, wenn Kinder sie offenbar nicht ernst nehmen.

 

Aber auch erfahrene und gut geschulte Pädagoginnen und Pädagogen scheitern, wenn Schülerinnen und Schüler Grenzen überschreiten. 

Bei schwerwiegenden Unterrichtsstörungen brauchen Lehrerinnen und Lehrer Hilfe, ganz klar. Das ist etwa dann der Fall, wenn Kinder trotz guter pädagogischer Intervention permanent auffällig sind, Vereinbarungen nicht einhalten und Angebote ausschlagen. Das sind Schülerinnen und Schüler, in die sich Lehrkräfte nicht mehr einfühlen können und deshalb beginnen, an ihren pädagogischen Fähigkeiten zu zweifeln. Das ist ein Teufelskreis.

 

Zum Beispiel?

An einer Grundschule im Saarland war ich zu einer kollegialen Fallbesprechung eingeladen. Als Beobachter merke ich in der Regel sehr schnell, wie es um das Klassenklima steht. Normalerweise beachten mich die Kinder kaum. In diesem Fall kam das betreffende Kind, aber sofort auf ich mich zu, nannte seinen Namen, um mir zu zeigen: „Ich bin da, nimm mich wahr!“ Dann rannte der kleine Junge in der Klasse umher, obwohl der Unterricht längst angefangen hatte. Er nahm anderen ihre Sachen weg oder verließ einfach das Klassenzimmer. Er hatte eine Schulbegleiterin, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgte und der er trotzdem immer wieder entwischte. Die Lehrerin fühlte sich vollkommen machtlos. Ein Systemsprenger.

 

Was unterscheidet Systemsprengerinnen und -sprenger von anderen auffälligen Kindern?

Das sind in der Regel schwer traumatisierte Kinder und Jugendliche, die beispielsweise Gewalt beziehungsweise sexualisierte Gewalt erfahren haben. Sie haben eine so genannte desorganisierte Bindung, weil die wichtigste Bezugsperson sie nicht schützt oder sie sogar selbst bedroht. Diese Kinder können gar keine Bindungen aufbauen, weil sie immer vom Schlimmsten ausgehen. Sie halten deshalb soziale Systeme wie die Schule nicht aus, wie eben dieser Junge aus dem Saarland, der permanent auf der Flucht war. Es können aber umgekehrt auch Kinder sein, die völlig isoliert und in sich gekehrt sind, sich niemals beteiligen, die zusammenzucken, wenn sie aufgerufen werden. Die Angst, auf einen anderen Menschen zuzugehen, steht ihnen buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Mit beiden Varianten sind Lehrkräfte überfordert. Sie erleben eine große Ohnmacht, weil sie keinen Kontakt mehr zu diesen Kindern und Jugendlichen aufnehmen können. Oder sie merken, dass sie selbst aggressiv auf das Verhalten des Kindes reagieren. Ohne professionelle Hilfe kommt man hier nicht weiter. Die Kinder brauchen eine Traumatherapie und die Schulen massive Unterstützung.

 

Was raten Sie Lehrerinnen und Lehrern bei diesen Ausnahmefällen?

Es gibt nur sehr wenige Schulen in Deutschland, die mit Hilfe von multiprofessionellen Teams aus Lehrkräften, Sozialarbeitern und Schulpsychologen solche Kinder auffangen können. Das ist eine große Ausnahme.

Nach meinen Erfahrungen werden die meisten Schulen mit solchen Fällen weitgehend allein gelassen. Ich höre oft, dass sich das Jugendamt entweder nicht zuständig fühlt - oder die Familie des Kindes zwar betreut wird, aber es für den Schulbesuch keine adäquate Hilfe gibt.

 

Was passiert dann mit den Kindern?

Es läuft dann meistens so: das Kind stört massiv und dauerhaft den Unterricht, es wird vom Unterricht ausgeschlossen, dann kommt der Schulverweis und am Ende wird es rauskatapultiert – manchmal erst in die Förderschule, dann in eine Einrichtung der Jugendhilfe. Das Fatale ist, dass diese Kinder dabei immer wieder aufs Neue die Erfahrung machen, abgelehnt zu werden. Die logische Folge: „Wenn ihr mich ablehnt, lehne ich euch auch ab!“ Gleichzeit empfinden die meisten eine große Loyalität ihren Eltern gegenüber – allen schlechten Erfahrungen zum Trotz. Sie legen zum Beispiel Feuer in ihren Pflegefamilien oder den sozialen Einrichtungen, um zu ihren Müttern oder Vätern zurückzukommen. Ich kenne den Fall eines Mädchens aus Sachsen-Anhalt, das sich eine Schere in den Bauch gerammt hat, weil die Mutter zum x-ten Male nicht, wie versprochen, zu Besuch kam. Diese Kinder lehnen auch liebevolle und respektvolle „Ersatz“-Systeme ab. Das lässt sich in der Regel nur mit einer guten Traumatherapie ändern.

 


 

Dr. Claus Koch

ist Psychologe, Bindungsexperte und Autor. Zusammen mit Dr. Udo Baer hat er das Standardwerk „Pädagogische Beziehungskompetenz. Grundlagen für Erzieher*innen und Lehrer*innen“ geschrieben, das 2020 im „Verlag an der Ruhr“ erschienen ist.

 

In diesem Jahr erschien von ihm:

„Erziehung zur Weltoffenheit. Zoes Geschichte“. (Patmos Verlag),  

„Corona in der Seele“ – Was Kindern und Jugendlichen wirklich hilft (zusammen mit Udo Baer, Klett-Cotta 2022)

 

 

 

 


Bildungs- und Hochschulpolitik
Florian Dähne
florian.daehne(at)fes.de

Marion Stichler
marion.stichler(at)fes.de

Lena Bülow
lena.buelow(at)fes.de


Abteilung Analyse, Planung und Beratung

Bildungs- und Hochschulpolitik
Hiroshimastr. 17
10785 Berlin

Tel.: 030 26935 8323

 


Die Friedrich-Ebert-Stiftung lädt Bildungsexpert_innen aus Wissenschaft, Politik, Verwaltung, Bildungspraxis und Zivilgesellschaft ein.

  • Aktuelle und relevante Themen werden in Veranstaltungen miteinander diskutiert.
     
  • Thematisch-analytische Publikationen folgen hieraus.
     
  • Übergeordnete Fragestellungen werden in Studien bearbeitet.
nach oben