Bildung und Wissenschaft

"Digitales Lernen wird Lehrerinnen und Lehrer nie ersetzen"

Interview mit Dario Schramm, dem ehemaligen Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, Student und Mitarbeiter der Onlineplattform „simpleclub“ über YouTube-Lernen und Bildungsgerechtigkeit.

 

Friedrichs Bildungsblog: Millionen Schülerinnen und Schüler weltweit machen mit Hilfe von Lernvideos und -apps Hausaufgaben und bereiten sich auf Prüfungen vor. Laufen YouTube und Co Lehrerinnen und Lehrern den Rang ab?

Ich sehe das überhaupt nicht als Konkurrenz, idealerweise ergänzt sich beides. Der Vorteil von Lernvideos ist, dass ich mir das anschauen kann, wann und wie oft ich will. Viele Lehrkräfte nutzen Erklärvideos selbst im Unterricht, etwa um kurz und prägnant in ein Thema einzusteigen, es dann aber mit der Klasse intensiver zu bearbeiten. Was ein digitales Format aber gar nicht kann: die soziale beziehungsweise pädagogische Dimension des Lernens abbilden. Deshalb wird digitales Lernen Lehrerinnen und Lehrer nie ersetzen.

 

Offenbar füllen Youtube-Videos wie „Lehrerschmidt“ und Lernplattformen aber didaktische Lücken im Unterricht. Schülerinnen und Schüler nutzen diese Hilfsmittel auch deshalb, weil sie Erklärungen in der Schule nicht verstehen.

Das stimmt. Andererseits finde ich es legitim, wenn Lernvideos und Apps dazu beitragen, Lehrerinnen und Lehrer zu entlasten, die nicht erst seit der Pandemie viele zusätzliche Aufgaben schultern müssen. Digitale Formate können etwa durch künstliche Intelligenz und Algorithmen gut erkennen, wo Schülerinnen und Schüler stehen, wo sie noch Hilfe brauchen oder wann sie mit anderen Aufgaben gefordert werden können. Deshalb sehe ich darin eine Riesen-Chance.

 

Mit welchen digitalen Hilfen haben Sie für Klausuren und Prüfungen gelernt?

Ich habe verschiedene Apps und Lernvideos genutzt, aber auch Abi-Trainer in klassischer Buchform. Mein Eindruck war, dass diese zusätzlichen Hilfsmittel einen Unterschied machen können, ob man es packt beziehungsweise wie man abschneidet. Das Problem: viele Angebote kosten Geld. Ich konnte mir das leisten, andere nicht. Die Bildungspolitik muss hier dringend gegensteuern.

 

Über den Digitalpakt von Bund und Ländern fließen bereits Milliarden in die Schulen für eine bessere IT-Ausstattung. Wollen Sie auch noch Lernhilfen von privaten Anbietern wie „sofatutor“ oder „StudySmarter“ staatlich finanzieren?

Anstatt sich gegen die EdTech-Branche zu sperren, sollten Politikerinnen und Politiker akzeptieren, dass solche Angebote längst Teil von Schule sind und genutzt werden. Aber sie müssen für alle finanziert werden, um Bildungsungleichheit zu minimieren. Schulen müssen in der Lage sein, Lizenzen für ihre Schülerinnen und Schüler zu erwerben. Dadurch würde es nicht mehr auf die wirtschaftliche Kraft des Elternhauses ankommen. Gleichzeitig brauchen Schulen flächendeckend eine digitale Infrastruktur. Technisch hochwertige und didaktisch gut gemachte digitale Bildung ist nicht umsonst zu haben. Dabei wünsche ich mir eine offenere Diskussion über Lernmaterialen und mehr Autonomie für die Schulen. Sie sollten selbst entscheiden können, wann sie digitale Formate verwendet und wann sie auf das gute alte Schulbuch zurückgreifen.

 

Die EdTech-Branche wächst rasant schnell, Schülerinnen und Schüler sind ein Riesenmarkt für die Unternehmen. Verändert diese neue Kommerzialisierung die Bildung?

Bei der Kombination von Kommerz und Bildung bekommen viele Bauchschmerzen, teilweise zu Recht, denn Kinder und Jugendliche sind eine sehr vulnerable und deshalb schützenswerte Gruppe. Aber Unternehmen spielen nicht erst seit der Digitalisierung eine Rolle im Bildungssystem. Wettbewerb im Schulsektor gab es schon immer. Im Übrigen sind auch klassische Schulbuchverlage keine gemeinnützigen Initiativen, auch wenn sie nach klaren Kriterien arbeiten müssen und ihre Produkte durch die Bildungsministerien zugelassen werden. Mittlerweile fordern viele Digital-Unternehmen selbst entsprechende Vorgaben für ihre Materialien zu bekommen, auch um dem Datenschutz zu entsprechen.

 

Laut einer repräsentativen Jugend-Digitalstudie der Postbank vertrauen Jugendliche eher Inhalten auf YouTube als ihren Lehrerinnen und Lehrern. Für wie groß halten Sie die Gefahr, dass Schülerinnen und Schüler auf schlechte oder problematische Inhalte hereinfallen oder ungewollt Daten von sich preisgeben?

Das hängt von ihrer Medienkompetenz ab – und hier liegt Deutschland leider sehr weit zurück. Viele Kinder und Jugendliche wissen wenig bis nichts über sicheres Surfen im Netz oder was vertrauenswürdige Quellen sind. In vielen Schulen wird das Thema erst in der achten oder neunten Klasse behandelt. De facto nutzen aber schon Grundschülerinnen und - schüler ein Smartphone. Die Zielgruppe wird immer jünger, deshalb muss das auch früher Thema im Unterricht sein. Dazu brauchen wir zum einen mehr Fortbildungen für Lehrerinnen und Lehrer, zum anderen IT-Fachpersonal in den Schulen. Ich habe ein Jahr in den USA gelebt, dort gibt es Fachleute an jeder High School, die nur für Datenschutz und IT-Infrastruktur zuständig sind. Davon sind wir meilenweit entfernt.

 

Können digitale Formate und künstliche Intelligenz dazu beitragen, benachteiligte Schüler besser zu fördern und damit mehr Bildungsgerechtigkeit schaffen – etwa über adaptives Lernen, das beim jeweiligen Kenntnisstand und den individuellen Bedürfnissen der Kinder ansetzt?

Das könnte ein guter Weg sein, um Benachteiligung zu reduzieren. Aber bisher hat die Digitalisierung insgesamt leider eher dazu geführt, dass die Schere noch weiter aufgeht. Kinder aus einkommensstarken Haushalten sind in der Regel gut ausgestattet und können digitale Angebote besser nutzen als Kinder aus ärmeren Familien. Das Thema ist übrigens nicht erst mit der Digitalisierung aufgetaucht. Der Markt der privaten Nachhilfe für Schülerinnen und Schüler boomt seit Jahrzehnten.

 



Dario Schramm

studiert Recht und Politik an der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder. Er war von Oktober 2020 bis Dezember 2021 Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz – in einer Zeit mit Lockdown und Homeschooling. Dazu erschien im Februar 2022 bei Droemer seine Streitschrift: „Die Vernachlässigten. Generation Corona: wie uns Schule und Politik im Stich lassen.“


Bildungs- und Hochschulpolitik
Florian Dähne
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