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Revolution in der Westukraine 1918: Eine demokratische Republik zwischen aufmarschierenden Armeen

Dieser Beitrag ist die Fortsetzung einer Artikelserie über die ukrainische Revolution 1917-1921 („Das fortschrittliche Erbe der Ukrainischen Volksrepublik”) und befasst sich mit der Entwicklung in der Westukraine.

Denkmal zu Ehren des Aktes der Vereinigung der Ukrainischen Volksrepublik und der Westukrainischen Volksrepublik am 22. Januar 1919 (Dnipro), 2017
Urheber: Yuri I. SMOLA

Am Ende des Ersten Weltkriegs kam es nicht nur zu einer Revolution in den von Russland besetzen Gebieten der Ukraine, sondern auch in den vom österreichisch-ungarischen Staat kontrollierten Gebieten der Westukraine. Die Voraussetzungen in beiden Landesteilen waren dabei sehr unterschiedlich. Während das Russische Reich der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung im 19. Jahrhundert (sowie generell jeglicher Opposition) mit Repressionen begegnete, verhielt sich die Habsburgermonarchie den Ukrainer:innen (und nicht nur ihnen) gegenüber relativ liberal.

Sozial gab es eine Reihe von Ähnlichkeiten zwischen der West- und der Ostukraine. Auch im Westen stellten die Ukrainer:innen den ärmsten Teil der Bevölkerung, sie waren weitgehend von den städtischen Räumen und der Verwaltung ausgeschlossen sowie ohne Zugang zu Bildung und sozialer Versorgung. Die Ukrainer:innen waren eine mehrheitlich bäuerliche Schicht und der österreichische Staat sicherte seine Herrschaft über die polnischen Eliten und die polnische Stadtbevölkerung. War der westliche Teil der historischen Region Galizien mehrheitlich polnisch, so waren die Städte in Ostgalizien „Festungen” der polnischen Welt inmitten eines Meeres ukrainischer Dörfer mit mehrheitlich ukrainischer Bevölkerung, denen sozialer Aufstieg und damit Einfluss verwehrt blieben. Den zentralen Unterschied zwischen der russisch kontrollierten Ostukraine und der Westukraine machte die politische Liberalität in der Habsburgermonarchie.

Ab den 1840er-Jahren wurden in Galizien die ersten ukrainischen politischen Organisationen gegründet, vornehmlich durch progressive Intellektuelle, die sich für soziale und nationale Reformen einsetzten. Mit dem „Februarpatent“ 1861 wurde der Galizische Landtag etabliert, in den auch ukrainische Abgeordnete gewählt wurden. Auch erhielten die Ukrainer:innen nun unter anderem die Möglichkeit, Versicherungsgenossenschaften zu gründen sowie eigene Schulen und eine eigene Fakultät an der Universität Lemberg zu eröffnen.

Radikale Partei und Sitsch-Bewegung

In den 1880er-Jahren bildete sich auch in der Ukraine – im Osten und Westen – die sozialdemokratische Bewegung heraus. In Galizien entstand 1890 mit der Ukrainischen Radikalen Partei eine sozialistische Partei mit agrarischer und demokratischer Ausrichtung, die während ihrer Gründung noch ein breites Spektrum an anarchistischem, sozialistischem und liberalem Gedankengut repräsentierte. Gemeinsam war ihnen, dass sie die Kompromissbereitschaft der ukrainischen Demokraten im Parlament kritisierten und die Notwendigkeit einer Selbstorganisation der Bauern betonten. Die Radikalen setzten sich aus zwei unterschiedlichen Gruppen zusammen: den städtisch orientierten Marxist:innen um Mykola Hankevych, Yulian Bachynskyi und anderen sowie den agrarisch orientierten und nichtmarxistischen Sozialist:innen um Ivan Franko sowie Anna und Mykhaylo Pavlyk. Die Unterschiedlichkeit der beiden Flügel spiegelte sich darin, dass die Partei zwei Programme verabschiedete, ein Minimalprogramm und ein Maximalprogramm, die sowohl den reformistischen Ansatz als auch die revolutionären Ziele der Partei vereinten. Die Unterschiedlichkeit der Politikansätze führte relativ schnell zu Abspaltungen von der neuen Partei. Die jüngeren, von Marx und auch dem Erfurter Programm der SPD beeinflussten Parteimitglieder gründeten die Ukrainische Sozialdemokratische Partei, während ein „rechter“ Flügel die Nationaldemokratische Partei formierte. Letztere verzichteten auf die eher antiklerikalen und „extremeren“ sozialistischen Positionen der ursprünglichen Radikalen Partei. Der „zentristische“ Flügel der Partei blieb bei den Radikalen und folgte einem Programm des demokratischen und kooperativen Sozialismus.

Der wichtigste Schritt zur Organisierung der bäuerlichen Bevölkerung und für die Nationalbewegung war wahrscheinlich die Gründung der Sitsch-Gesellschaften. Der Name geht auf die Verwaltungszentren der ukrainischen Kosaken zurück und betonte die lange Tradition der ukrainischen Eigenständigkeit. Die Sitsch waren Feuerwehren, die sich aber auch in Kultur, Handwerk, Sport und anderen Aktivitäten engagierten. Es handelte sich um Massenorganisationen mit einer demokratischen Struktur, deren Mitglieder, da als Feuerwehrleute mit Äxten ausgestattet, gleichzeitig eine paramilitärische Ausbildung absolvierten. Gegründet wurde sie 1900 vom Mitglied der Radikalen Partei, dem linken Sozialisten Kyrylo Trylovsky.

Revolution und Gründung der Westukrainischen Volksrepublik

Im Ersten Weltkrieg unterstützten die Westukrainer:innen über alle politischen Organisationen hinweg Österreich-Ungarn. Die westukrainischen Sozialist:innen unterschieden sich damit nicht von der übergroßen Mehrheit der Sozialist:innen in der Ostukraine, im Russischen Reich oder in Deutschland. Die Februarrevolution im Russischen Reich 1917 und die Bildung der Zentralna Rada in Kyiv am 17. März 1917 wurde von den Ukrainer:innen in Galizien mit großer Begeisterung aufgenommen. Aber noch war die Habsburgermonarchie stabil und die Revolution in Galizien nicht angekommen. Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk im Februar 1918 zwischen Deutschland und Russland befeuerte die galizisch-ukrainische Bewegung. Die Bildung des von Deutschland abhängigen Vasallenstaates im Osten wurde von den Westukrainer:innen zwar abgelehnt, aber sie hofften dennoch auf die getroffene Vereinbarung, Galizien unter ethnografischen Gesichtspunkten in einen ukrainischen und einen polnischen Teil zu trennen und den ukrainischen Gebieten eine gewisse Autonomie zuzugestehen. Diese Autonomie und das von Deutschland abhängige Hetmanat in der Ostukraine würden sie, so die Hoffnung, einem ukrainischen Gesamtstaat näherbringen.

Gegen Ende des Weltkriegs versuchte Kaiser Karl I. mit dem „Völkermanifest“ und der Errichtung eines Bundesstaates auf österreichischen Boden zumindest Teile des Reiches zu retten. Das Manifest selbst verfehlte seine Absicht und beschleunigte die Auflösung der Monarchie. Die Ukrainer:innen in Galizien, der Bukowina und Transkarpatien bildeten in Reaktion auf das Manifest mit der Ukrainischen Nationalrada ein vorläufiges Parlament, das aber zunächst noch vage blieb, was die Stellung der Ukraine in der Habsburgermonarchie betraf.

Die ukrainischen Unabhängigkeitsbestrebungen stießen unmittelbar in Konflikt mit den polnischen Interessen auf Wiedererrichtung eines eigenen Staates. Die Übergangsregierung des polnischen Volkes, die Polnische Liquidationskommission, erklärte nämlich, Galizien vollständig in das eigene Staatsgebiet zu integrieren. Schon am 1. November 1918 mündete dies in einen bewaffneten Konflikt. Während polnische Truppen in Lviv versuchten, die Macht zu übernehmen, begannen die Westukrainer:innen mit einem bewaffneten Aufstand und erklärten die Gründung der Westukrainischen Volksrepublik. Es entwickelte sich ein Krieg, in dem die Westukraine um ihre Unabhängigkeit und Polen um die Wiedererrichtung des polnischen Staates aus den Ruinen der Habsburgermonarchie und des Zarenreiches kämpften.

Gemäßigte Positionen im Westen

In der Westukraine bildeten wie auch im Osten der soziale, nationale und demokratische Kampf eine Einheit. Die Ukrainer:innen waren ein Bauernvolk, das unter dem Zarismus und der polnischen Aristokratie gelebt hatte und von diesen unterdrückt worden war und ihr Kampf war ein republikanischer Kampf. In ihrem Manifest an das ukrainische Volk erklärte die Nationalrada am 5. November 1918, dass es in dem neuen Staat „keine Versklavung einer Nation durch eine andere geben“ und auch „keine Herrschaft der Reichen und wirtschaftlich Stärkeren über die Armen und wirtschaftlich Schwächeren“ geben dürfe. Alle Bürger:innen seien „unabhängig von Sprache, Religion, Rasse, Status oder Geschlecht, vor dem Gesetz wirklich gleich“. Das angestrebte politische System sollte demokratisch und auf dem „allgemeinem, gleichem, direktem, geheimem und proportionalem Wahlrecht“ basieren und so den Arbeiter:innen und Bäuerinnen und Bauern als überwiegender Mehrheit der Bevölkerung ihre Rechte sichern. Bereits im Gründungsmanifest Mitte Oktober hatte die Nationalrada (wie ihr Pendant im Osten) Jüdinnen und Juden als nationale Minderheiten mit eigenen Rechten ankannt.

Trotz der sozial-ökonomischen Ähnlichkeit zwischen West und Ost und auch den ähnlichen Motiven des Unabhängigkeitskampfes, unterschieden sich die politischen Erfahrungen und das politische Bewusstsein der Akteur:innen. Die Westukrainer:innen hatten bereits Erfahrungen mit dem Parlamentarismus gesammelt, sie verfügten über Versammlungs- und Presserechte (wenn auch eingeschränkt), hatten Zugang zu einigen Verwaltungspositionen und es existierten ukrainische Schulen und kulturelle Einrichtungen. Während die Revolutionäre im Russischen Reich über Erfahrungen im Schmuggel, in Straßenkämpfen und der politischen Arbeit im Geheimen gesammelt hatten, verfügten die Westukrainer:innen über Erfahrungen in Gesetzgebung, Verwaltung und Massenstreiks. Im Ergebnis waren die Akteure im Westen vorsichtiger, was die nationale Unabhängigkeit betraf. Die Sozialdemokrat:innen forderten aus patriotischer Überzeugung und aufgrund ihres Engagements für sozialistische Reformen die sofortige Erklärung der Union mit der Ostukraine und die Übernahme der dort bereits beschlossenen sozialen Reformen, insbesondere der Landreform, setzten sich damit aber nicht durch. Insbesondere die Nationaldemokrat:innen befürchteten, dass dies zu Instabilität führen würde, und waren bestrebt, die Frage der Eigenstaatlichkeit und auch der Landreform zu verzögern. Ein Teil der Nationaldemokrat:innen unterstützte zwar zusammen mit den Radikalen die sozialen Forderungen der Sozialdemokratie, befürworteten aber auch nur eine weitgehende Autonomie oder zumindest eine Übergangszeit bis zur Vereinigung.

Die Vereinigung der beiden Republiken

Mitte November 1918 konnten in der Ostukraine – der Ukrainischen Volksrepublik – republikanische Kräfte aufgrund der abziehenden deutschen Truppen die Herrschaft des Hetmanats abschütteln und die Ukrainische Volksrepublik wiederherstellen. Am 22. Januar 1919 vereinten sich schließlich auf dem Ukrainischen Arbeiterkongress, dem ersten gemeinsamen ukrainischen Parlament, die Westukrainische Volksrepublik und die Ukrainische Volksrepublik. Die Westukraine erhielt dabei eine weitgehende Autonomie, welche sie nutzte, um im Unterschied zur Ostukraine, ein parlamentarisches System aufrechtzuerhalten (in der Ostukraine wurde dagegen ein klassenbasiertes Parlament geschaffen). Auch sah man im Westen die Abschaffung des Privateigentums an Grund und Boden und die Enteignung der Großgrundbesitzer ohne Entschädigung weiterhin als zu radikal an. Ein Argument war, dass die ukrainischen Bäuerinnen und Bauern bei einer radikalen Landreform zu ihren Gunsten unmittelbar nach Hause zurückkehren und die Verteidigung gegen die polnischen Angriffe aufgeben würden.

Währenddessen war Winter und der Krieg tobte unerbittlich; fast die Hälfte der Bevölkerung Galiziens war obdachlos. Und es war der Höhepunkt der Typhusepidemie in der Region. Es gab bei weitem nicht genug Plätze in den Krankenhäusern für die Soldaten, gleich ob es sich ukrainische oder polnische, manchmal aber auch deutsche, ungarische und russische handelte, die aus irgendeinem Grund nach Kriegsende dort blieben. Die Kämpfe zwischen polnischen und ukrainischen Truppen verschärfte die Nahrungskrise, da aufgrund wechselnder Frontlinien keine Aussaat stattfand. Zudem verhängte die Entente, die polnische Staatsgründung unterstützend, unmittelbar nach Ausrufung der Republik ein Embargo gegen die Westukraine sowie die westliche Region der Ukrainischen Volksrepublik. Das Embargo umfasste nicht nur Waffen, sondern auch Kleidung, Medikamente, Holz und andere Heizmittel, Baumaterialien und vieles mehr. Dank der freundschaftlichen Beziehungen zum tschechoslowakischen Staat konnte die Ukraine einige der schlimmsten Sanktionen umgehen, doch dennoch forderten diese Tausende von Todesopfern.

Das Ende der ukrainischen Unabhängigkeit

Ab dem Jahresbeginn 1919 und der Gründung eines ukrainischen Gesamtstaates befand sich das Land im Kriegszustand. Im Westen kämpften ukrainischer Truppen gegen polnische Streitkräfte, die von den Siegermächten des Weltkriegs Frankreich und England unterstützt wurden. In der Hoffnung, die Bukowina zu erhalten, trat auch Rumänien auf der Seite Polens in den Krieg ein. In den von Polen besetzten Gebieten wurde die ukrainische Sprache entweder eingeschränkt oder effektiv verboten. Es kam zu Repressionen und Pogromen und in einigen besetzten Regionen wurde sogar vorübergehend die Leibeigenschaft wieder eingeführt. Im Osten befand sich die Ukrainische Volksrepublik in einem Überlebenskampf gegen eine Vielzahl von Feinden: die Bolschewiki, die Weißen (russische zaristische Truppen), lokale Warlords und teils auch französische Truppen. Die Regierung der Ukrainischen Volksrepublik unter der Führung des Sozialdemokraten Simon Petlyura war ab 1919 eine Regierung auf Rädern, die aufgrund ständig wechselnder Fronten mehr aus dem Eisenbahnwaggon als von einem Regierungssitz aus regierte.

Die unterschiedlichen Wege der Westukrainischen Volksrepublik und der Ostukraine in der Frage sozialer Reformen, insbesondere der im Westen nicht durchgeführten Landreform, führten schließlich zu einer gewissen Entfremdung. Petlyura bestand auf den Sozialreformen, um der Republik Legitimität in der bäuerlichen Bevölkerung zu verschaffen, wohingegen die westukrainische Regierung unter anderem auf die Stabilität der Beziehungen mit der polnischen Volksgruppe achtete. Stand die Westukraine von polnischer Seite unter Druck – selbst polnische Sozialist:innen befürworteten die Vertreibung der ukrainischen Bevölkerung aus Galizien –, so kam die Gefahr für die Ostukraine aus dem Osten – aus Russland. In dieser Situation entschieden sich die die Ukrainische Volksrepublik im Osten zu einem Bündnis mit Polen und zur Vereinigung der Streitkräfte, was auf Kosten der Westukrainischen Volksrepublik ging und ihr Ende bedeutete.

Die Ukrainer:innen sahen sich in Galizien in den folgenden Jahren massiver Verfolgung durch die polnischen Behörden der Zweiten Republik ausgesetzt. Die Zweite Internationale protestierte hiergegen und ukrainische Diplomaten versuchten vergebens, die Unterstützung der Liga der Nationen zu erhalten. Mit der vollständigen Integration Galiziens in die Zweite polnische Republik beschlossen die wichtigsten ukrainischen Parteien, den Partisanenkrieg aufzugeben und legal zu agieren. Die Nationaldemokrat:innen reformierten sich zur Ukrainischen Nationaldemokratischen Allianz (UNDO), einer Mitte-Links-Koalition, und die Radikalen schlossen sich mit lokalen Sozialrevolutionär:innen zur Sozialistisch-Radikalen Partei zusammen. Beide Parteien sahen sich mit Repressionen konfrontiert, aber existierten bis zur sowjetischen Besetzung der östlichen Gebiete Polens 1939. Ebenfalls entstand in den 1930er-Jahren in Polen die Organisation Ukrainischer Nationalisten, die während des Zweiten Weltkriegs zeitweise mit den deutschen Besatzern kooperierte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Vladislav Starodubtsev

Vladislav Starodubtsev ist Historiker, demokratischer Sozialist und Soldat bei den ukrainischen Streikräften.


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