Interview Jugendstudie aus Lateinamerika | Juventudes: asignatura pendiente 22.12.2025 14 Länder Lateinamerikas mit ca. 21.000 junge Menschen und ihre Einstellungen zu Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Feminismus, Umweltgerechtigkeit sowie Umverteilung von Reichtum. Herausgekommen ist die größte und repräsentativste Umfrage der letzten zehn Jahren in der Region. Bild: Urheber: ©FES Ecuador Interview mit Anabel Bilbao, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der FES Ecuador mit den Arbeitsschwerpunkten politischer Dialog, Geschlechtergerechtigkeit und Jugendarbeit 1. Was sagen lateinamerikanische Jugendliche über den aktuellen Stand der Demokratie in der Region, und warum sind diese Erkenntnisse für Deutschland und Europa von Interesse? Junge Menschen in Lateinamerika legen ein bemerkenswertes demokratisches Engagement an den Tag. Diese Erkenntnis haben uns Daten aus dem Projekt „Juventudes: Asignatura Pendiente” gebracht, einer vergleichenden Umfrage, die YouGov zwischen Januar und Februar 2024 unter rund 22.000 jungen Menschen im Alter von 15 bis 35 Jahren in 14 Ländern Lateinamerikas und der Karibik durchgeführt hat. Zwischen 58 % und 73 % von ihnen halten demnach die Demokratie für die beste Regierungsform. Gleichzeitig sind sie jedoch zutiefst frustriert über deren Funktionsweise, teilweise liegt die Unzufriedenheit bei über 50 %. Diese Kluft zwischen demokratischer Überzeugung und institutioneller Unzufriedenheit hängt mit anhaltenden Ungleichheiten, prekären Arbeitsverhältnissen, Unsicherheit, Korruption und politischen Systemen zusammen, die die Forderungen der Jugendlichen nicht wirksam kanalisieren. Dennoch glauben trotz der widrigen Umstände 70 bis 80 % der jungen Menschen Lateinamerikas, dass die Zukunft besser sein kann als die Gegenwart. Diese Spannung steht in engem Zusammenhang mit europäischen Dilemmata wie der sinkenden Attraktivität von Parteien, institutionellem Misstrauen, autoritären Diskursen und einer Repräsentationskrise. Für Deutschland und Europa fungiert die Region somit als ein Raum, in dem ähnliche demokratische Brüche frühzeitig zu beobachten sind. Das Verständnis dieses Paradoxons – junge Menschen, die trotz der schlechten Funktionsweise der Demokratie für diese eintreten – ist der Schlüssel zur Erneuerung von Strategien, zur Stärkung der Demokratie und zur interregionalen Zusammenarbeit. 2. Was sagen uns junge Menschen in einer von tiefen Ungleichheiten geprägten Region über neue Formen der Teilhabe und Machtkämpfe im 21. Jahrhundert? Die Jugend wendet sich nicht von der Politik ab, sondern von Institutionen, denen sie misstraut. In Lateinamerika sind weniger als 10 % der jungen Menschen formell in Parteien oder Gewerkschaften engagiert sind, und doch gibt es eine vielfältige politische Jugendkultur. Diese umfasst unter anderem Proteste, eine hohe Wahlbeteiligung – mit Werten von über 80 % in fünf Ländern –, digitalen Aktivismus, kulturelle Interventionen, Gemeinschaftsnetzwerke sowie feministische und ökologische Kollektive. Diese Formen der Beteiligung entstehen in einem Kontext begrenzter wirtschaftlicher und bildungspolitischer Möglichkeiten. Demgegenüber steht jedoch ein besorgniserregender weiterer Trend: junge Menschen neigen zunehmend dazu, starke Führungspersönlichkeiten zu bevorzugen. In den meisten Ländern sind mehr als 45 % der befragten Jugendlichen der Meinung, dass eine autoritäre Militärregierung eine Antwort auf Krisensituationen sein könnte. Die Jugend zeigt dennoch mehrheitliche Unterstützung für Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit und wünscht sich einen aktiven Staat, der Gesundheit, Bildung, Wohnraum und Umverteilungsmaßnahmen garantiert. Die Spannungen zeigen, dass die aktuellen politischen Auseinandersetzungen nicht nur durch die Links-Rechts-Achse, sondern auch durch das gleichzeitige Streben nach Sicherheit, institutioneller Effizienz und Schutz von Rechten geprägt sind. 3. Welche Spannungen haben Sie in der regionalen Umfrage festgestellt, die die bestehenden Stereotypen über lateinamerikanische Jugendliche in Frage stellen? Die Studie widerlegt erstens die Vorstellung von politischer Apathie: Wahlen werden allgemein als wichtig erachtet, es gibt Beteiligung an Protesten und digitalem Aktivismus und es besteht die Bereitschaft, sich in Organisationen zu engagieren, sofern geeignete Kanäle eröffnet werden. Dazu gaben 25 bis 36 % der Jugendlichen an, dass sie mehr Informationen benötigen, um eine Mitgliedschaft in Gewerkschaften in Betracht zu ziehen. Zweitens zeigt die Studie, dass die Jugend keine homogene Gruppe ist, sondern es Unterschiede hinsichtlich Geschlechtes, sozialer Schicht, Land und Bildungsniveau gibt, die ein pluralistisches politisches Feld offenbaren. Drittens offenbart die Studie, dass Kritik an der Funktionsweise der Demokratie nicht bedeutet, dass das System grundsätzlich abgelehnt wird. Die Jugend zeigt ein hohes demokratisches Engagement, das mit hohen Erwartungen an institutionelle Erneuerung verbunden ist. 4. Welchen Beitrag leistet diese Studie zum Aufbau einer interregionalen progressiven Agenda, die das Engagement und die Prioritäten der lateinamerikanischen Jugend mit den aktuellen Debatten über Demokratie verbindet? Die Studie zeigt, dass die Anliegen und Bestrebungen der lateinamerikanischen Jugend denen der europäischen Jugend ähneln: Verteidigung des öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesens; der Staat als Garant von Rechten, Sozialpolitik, Gleichstellung der Geschlechter, Klimaschutzmaßnahmen und Schutz indigener Territorien; menschenwürdige Arbeit und Sicherheit mit Fokus auf soziale Gerechtigkeit. Da all diese Themen auch die politische Agenda in Deutschland und Europa prägen, können Brücken in Bereichen wie der Regulierung der Arbeit auf digitalen Plattformen, einer gerechten Energiewende, Pflegesystemen, progressiver Besteuerung und Mechanismen zur Beteiligung von Jugendlichen geschlagen werden. Vor dem Hintergrund einer globalen Polarisierung und Prekarisierung bieten die Ergebnisse Anhaltspunkte für die Erneuerung progressiver Bündnisse, die Stärkung der internationalen Zusammenarbeit und die Positionierung der Jugend als strategischer Akteur bei der Verteidigung und dem Wiederaufbau der Demokratie. 5. Welche politische Jugendagenda ergibt sich aus dieser Studie und welche Prioritäten sollten die Institutionen und Regierungen in Lateinamerika berücksichtigen? Die Umfrage ergibt eine Jugendagenda, die die Themen Demokratie, Wirtschaft, Geschlechterfragen, Sicherheit, Bildung und Klima umfasst. Die von den Jugendlichen identifizierten Hauptprobleme variieren zwar von Land zu Land, weisen aber eindeutige Muster auf: Armut, Drogen, Unsicherheit und Korruption werden immer wieder als zentrale Probleme identifiziert. Ein hoher Prozentsatz der Jugendlichen hat zudem höchstens die Sekundarstufe abgeschlossen, was ihre Chancen einschränkt. Zwischen 35 % (Panama) und 62 % (Dominikanische Republik) möchten aufgrund mangelnder Chancen auswandern. Vor diesem Hintergrund ist eine der wichtigsten Forderungen, dass es politische Institutionen gibt, die die Lebenswege junger Menschen begleiten und ihre Anliegen ernstnehmen. Essentiell sind dabei besserer Zugang zu höherer Bildung, die Schaffung menschenwürdiger Arbeitsplätze, sozialer Schutz für diejenigen, die unter prekären Bedingungen arbeiten, sowie eine Wirtschaftspolitik, die auf eine digitale und ökologisch nachhaltige Zukunft ausgerichtet ist. In Bezug auf die Geschlechtergleichstellung sind die Umverteilung der Pflegearbeit, eine umfassende Sexualaufklärung sowie konkrete Maßnahmen zur Gewaltprävention zentral. Im Umweltbereich stehen Klimagerechtigkeit und der Schutz indigener und gemeinschaftlicher Gebiete im Mittelpunkt. Anabel, vielen Dank für das Gespräch.