Blog Geschichte, Kultur, Medien, Netzpolitik | Denkanstoß Geschichte Beweglich und standhaft. Paul Löbes politische Praxis 09.12.2025 Peter Beule Paul Löbe verstand Demokratie als Ringen um Verständigung. Haltung ohne Härte, Prinzipientreue ohne Dogma, Entschlossenheit ohne Engstirnigkeit prägten das politische Handeln des sozialdemokratischen Redakteurs und Reichstagspräsidenten. Bild: Urheber: AdsD Am 14. Dezember 2025 jährt sich Paul Löbes Geburtstag zum 150. Mal. Wer heute seinen Namen hört, denkt vielleicht an den Parlamentspräsidenten im Reichstag der Weimarer Republik oder an den fraktionsübergreifend geachteten Alterspräsidenten im ersten Deutschen Bundestag. Jenseits dieser beiden Rollen aber liegt ein politisches Leben, das weit mehr erzählt. In ihm spiegeln sich die Debatten und Wegmarken der deutschen Sozialdemokratie in vier politischen Systemen: von den Jahren nach dem Sozialistengesetz im Kaiserreich über den Aufbau der Weimarer Republik, die Zeit der Verfolgung im Nationalsozialismus bis hin zur Gestaltung der jungen Bundesrepublik. Vom Arbeiterkind zum politischen Journalisten Paul Löbes Lebensweg beginnt im niederschlesischen Liegnitz, heute Legnica (Polen). Geboren als erstes Kind einer sechsköpfigen Arbeiter:innenfamilie, ist sein Aufwachsen von Armut geprägt. Schon als Kind muss er als Laufbursche arbeiten und zum Familienunterhalt beitragen. Löbes Politisierungsgrund ist die „bei uns Arbeiterkindern […] selbstempfundene soziale Ungerechtigkeit“, wie er sich später erinnert. Im Reichstagswahlkampf 1890 verteilt der gerade 14-Jährige sozialistische Flugblätter. Der wissbegierige Schüler will Lehrer werden, was aus finanziellen Gründen jedoch keine Option ist. Stattdessen wird er Schriftsetzer, arbeitet in einer Breslauer Druckerei und initiiert einen sozialistischen Literaturkreis für Jugendliche. Schon mit 16 Jahren veröffentlicht er erste Artikel in der sozialdemokratischen Breslauer Volkswacht. 1893 tritt er in die SPD ein. Seine Wandergesellenjahre führen ihn über Österreich-Ungarn bis nach Italien, bevor er nach dem Tod seines Vaters nach Breslau zurückkehrt, um für den Lebensunterhalt seiner Familie zu sorgen. Dies gelingt ihm mit dem Eintritt in die Redaktion der Volkswacht 1899. Der Journalismus wird für Löbe zur Schule der Politik. Er erfährt, wie stark politische Teilhabe von der Möglichkeit freier Meinungsäußerung abhängt – und wie rasch diese im wilhelminischen Obrigkeitsstaat eingeschränkt werden kann. Früh macht er die Erfahrung staatlicher Repression. Er wird wiederholt zu Gefängnisstrafen verurteilt, 1906 etwa zu einem Jahr wegen „Aufreizung zum Klassenhass“, als er das Dreiklassenwahlrecht kritisiert und die russische Revolution von 1905 positiv erwähnt. Die weltpolitischen Strömungen jener Jahre berühren den jungen Redakteur unmittelbar: Im Jahr der Revolution lässt Lenin seine illegale Post an die Adresse der Volkswacht schicken. Es ist Löbe, der sie ihm persönlich aushändigt. Zusammen mit seiner Frau Clara Löbe, ca. 1905 Bild: Urheber: AdsD Vom Revisionismusstreit zur Republikgründung: Löbe als kritischer Vermittler Rasch wird Löbe zum führenden Sozialdemokraten in Breslau. In der Auseinandersetzung um den grundsätzlichen Kurs der Partei, der sich um die Jahrhundertwende um die Frage entzündet, ob die SPD an den marxistischen Grundsätzen einer sozialrevolutionären Umwälzung festhalten oder vermehrt auf evolutionäre, parlamentarisch-reformistische Wege zur sozialen Verbesserung setzen soll, versucht er zwischen den Lagern zu vermitteln. Ideologische Starre ist ihm fremd. So setzt er Eduard Bernstein, dessen Revisionismus Löbe unterstützt, als Reichstagskandidat für Breslau-West durch, bemüht sich aber gleichzeitig erfolgreich darum, August Bebel, der den reformistischen Kurs ablehnt, als Wahlkampfredner nach Breslau zu holen. Paul Löbe profiliert sich als Mann des Ausgleichs, der geschickt Gesprächsräume öffnet. Auch in der Kriegsfrage, die 1914 die Partei entzweit, bleibt er beweglich, durchbricht die Trennungslinie zwischen Unabhängigen und Mehrheitsozialdemokrat:innen. Er hält die Breslauer SPD, die Kriegskredite mehrheitlich ablehnt, in der Mutterpartei. Löbe, dessen Volkswacht mitten im Krieg die Abdankung Wilhelms II. fordert und der Karl Liebknecht in Breslau das Wort gegen die Kriegskredite ergreifen lässt, bleibt standhaft in seinen antimilitaristischen Grundüberzeugungen, ohne die Organisation zu spalten. Gegenüber Genoss:innen, die den Kurswechsel der SPD in der Kriegsfrage nicht mittragen und einen klaren, endgültigen Bruch mit der Mehrheitssozialdemokratie vollziehen, bleibt Löbe gesprächsbereit und zugewandt. Als Rosa Luxemburg 1918 aus dem Gefängnis entlassen wird und Löbe sie trifft, gibt er ihr „aus Freude, die alte Kämpferin wiederzusehen, die während des Krieges so vieles tapfer getragen hatte […], vor versammeltem Schiedsvolk einen Kuss auf die Wange.“ Schon in Breslau auf dem Höhepunkt der Revisionismusdebatte hatte er Luxemburg die Möglichkeit verschafft, ihre Gegenposition zu Bernstein auszudrücken. Löbe versteht Politik als öffentliche, kritische Kommunikation, die vom freien Wort und offenen Austausch lebt – ein „journalistisches Prinzip“, das der Berufsredakteur konsequent in die politische Praxis überträgt. Am Übergang von der Monarchie zur Republik zählt Löbe zum Kreis der führenden Sozialdemokrat:innen. Obgleich er den republiktragenden Kurs seiner Partei bedingungslos und aus voller Überzeugung unterstützt, steht er in entscheidenden Fragen gegen Friedrich Ebert, kritisiert den aus seiner Sicht zu kompromissbereiten Umgang mit den alten Eliten in der Reichswehr, drängt später früh auf die Entlassung von Gustav Noske als Reichswehrminister. Das Angebot, 1918 in das Reichskabinett einzutreten, schlägt er aus, bleibt stattdessen Vermittler zwischen den Parteiflügeln und bemüht sich bereits 1919/20 um eine Verständigung mit der USPD. Als ihm die SPD 1925 vorschlägt, in der Nachfolge des verstorbenen Ebert für das Amt des Reichspräsidenten zu kandidieren, lehnt Löbe erneut ab. „Auf diesen Platz gehörte ein Mann von härterem Holze, als ich es war“, sollte er später seine Entscheidung begründen. Wiederwahl zum Präsidenten des Reichstages, 14.06.1928 Bild: Urheber: Deutsche-Presse-Photo-Zentrale, Berlin Beisetzung des Reichspräsidenten Friedrich Ebert, 04.03.1925 Bild: Urheber: AdsD Der Reichstagspräsident und die Praxis der Demokratie Seine Aufgabe findet Löbe im neuen Parlament von Weimar. 1920 wird er in den Reichstag und mit 397 von 420 Stimmen zu dessen Präsidenten gewählt. Von einer kurzen Unterbrechung im Sommer 1924 abgesehen, wird er dieses Amt 12 Jahre lang innehaben. Als „oberster Parlamentarier“ zählt Löbe zu den wichtigsten Repräsentanten der Republik. Er ist der „geborene Präsident“, führt sein Amt „gerecht und unparteiisch, ruhig, sicher und liebenswürdig in seinen Formen“ (Erich Eyck). Diese Rolle als bloßen Zeremonienmeister abzutun, ginge fehl. Vielmehr formt er die parlamentarische Praxis der Weimarer Demokratie – durch Verfahren, Redeverhalten und legitimatorische Politik. In diesen Jahren prägt er nicht nur die Sitzungsleitung, sondern auch eine parlamentarische Kultur, die auf Ordnung, Redeweise und Protokoll setzt – demokratische Alltagspraktiken, die Stabilität schaffen in einer Zeit, in der die Nationalsozialisten das Parlament verhöhnen und nichts unversucht lassen, seine Verfahren auszuhöhlen. Paul Löbe steht exemplarisch für die „unsichtbare Arbeit“ an der Demokratie – für das alltägliche, von Rechtsextremist:innen damals wie heute verachtete Handwerk des Parlamentarismus. Im Visier der Nationalsozialisten Als die NSDAP 1932 stärkste Partei wird, muss er nach parlamentarischer Gepflogenheit seinen Platz als Reichstagspräsident freimachen. Mit Paul Löbe geht die parlamentarische Kultur, sein Nachfolger wird Hermann Göring. Nach Machtantritt der Nationalsozialisten gerät Löbe zum zweiten Mal in seinem Leben ins Visier politischer Repression und Verfolgung. Das Regime ist sich der politischen Symbolkraft des früheren Reichstagspräsidenten bewusst, der als reichsweit bekannter Sozialdemokrat und Repräsentant der Demokratie gezielt ausgeschaltet wird. Löbes von Anfang an illusionäre Hoffnung auf eine legale Weiterexistenz der Sozialdemokratie wird mit dem Parteiverbot im Juni 1933 zerschlagen, er wird verhaftet und nach mehreren Berliner Gefängnissaufenthalten für sechs Monate ins frühe Konzentrationslager Dürrgoy bei Breslau verschleppt. Nach seiner Entlassung wird er unter Polizeiaufsicht gestellt, ist als „führender Sozialdemokrat“ stigmatisiert und zwei Jahre arbeitslos, bis er 1935 eine Stelle als Korrektor beim Berliner de-Gruyter-Verlag erhält. Seinen Überzeugungen bleibt Löbe im Verborgenen treu, hält Verbindung zu Gleichgesinnten, trifft sich mit Berliner Sozialdemokrat:innen und steht früh in Kontakt zu den Widerstandskreisen um Carl Friedrich Goerdeler und Wilhelm Leuschner. Nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 wird er erneut verhaftet und ins Konzentrationslager Groß-Rosen gebracht. Auf dem Nürnberger Parteitag 1947 Bild: Urheber: AdsD Kongress des Kuratoriums "Unteilbares Deutschland" 1959 in Berlin - Willy Brandt, Arno Scholz und Paul Löbe Bild: Urheber: AdsD Kontinuität und Verantwortung im Neubeginn Paul Löbe überlebt die erneute Inhaftierung und kehrt nach seiner Befreiung im Juli 1945 in die Politik und in seinen alten Beruf zurück. Im Mai 1946 wird er Mitherausgeber der in den Westsektoren Berlins erscheinenden Tageszeitung Telegraf. Abermals ist er an entscheidenden Wegmarken seiner Partei und am Wiederaufbau der Demokratie beteiligt. Als Mitglied des Berliner Zentralausschusses der SPD stellt er sich gegen die Zwangsvereinigung mit der KPD, wirkt von West-Berlin aus am Wiederaufbau der SPD und als Abgeordneter im Parlamentarischen Rat an der Gestaltung des Grundgesetzes mit. Er wird Gründungspräsident des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung, später Vorsitzender des Kuratoriums Unteilbares Deutschland. Löbe zieht als Abgeordneter in den ersten deutschen Bundestag ein und eröffnet am 7. September 1949 als Alterspräsident die Sitzung. Er ist drei Wochen älter als Adenauer und am demokratischen Neuanfang auf seinem „Stammplatz“ zurück. Paul Löbes Beispiel zeigt, wie viel Mut und Beharrlichkeit es braucht, Freiheit und Vernunft im Alltag der Politik zu bewahren – damals wie heute. Weiterführende LiteraturLehnert, Detlef: Paul Löbe (1875–1967). Vom Redakteur zum Reichstagspräsidenten, in: Schöler, Uli/Scholle, Thilo (Hrsg.): Weltkrieg, Spaltung, Revolution. Sozialdemokratie 1916–1922, Bonn 2018, S. 403–416.Kastning, Alfred: Die deutsche Sozialdemokratie zwischen Koalition und Opposition 1919–1923, Paderborn 1970.Krummel, Victoria: Paul Löbe. Ein Leben für die Demokratie, Hamburg 2025.Löbe, Paul: Erinnerungen eines Reichstagspräsidenten, Berlin 1949.Neubach, Helmut: Paul Löbe, in: Neue Deutsche Biographie (NDB), Bd. 15, Berlin 1987, S. 20f.Oliwa, Thoedor: Zu einer Biographie über Paul Löbe, in: Jahrbuch der schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau 40, 1999, S. 458–470.Schönhoven, Klaus: Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. Das Schicksal der 1933 gewählten SPD-Reichstagsabgeordneten, Bonn 2017. Stalmann, Volker: Paul Löbe 1875–1967. Sozialdemokrat, Journalist, Reichstagspräsident und Bundestagsabgeordneter, Berlin 2025. 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