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Archiv der sozialen Demokratie

 

Wer war Amelia Jenny Emilie Klothilde Johanna von Kretschmann?

Nie gehört? Sie war eine Frauenrechtlerin der ersten Stunde, die unter dem Namen ihres zweiten Mannes, dem Sozialdemokraten Heinrich Braun, als Lily Braun in der Zeit des Kaiserreichs berühmt wurde. Zwischen allen Fronten der Gesellschaft versuchte sie ihren Weg zu gehen, ihre emanzipatorischen Ideen zu publizieren und ihre politischen Einstellungen zu verteidigen. Der bürgerlichen Frauenbewegung war sie zu radikal und der proletarischen Frauenbewegung war sie schon auf Grund ihrer Herkunft viel zu bürgerlich. Wer war Lily Braun und welche Rolle spielte sie in der Frauenbewegung?

Adeliges Fräulein

1865 geboren wächst sie mit den üblichen Standards einer aristokratischen Erziehung für junge Mädchen im protestantischen Preußen der 1870er Jahre auf: Disziplin und Strenge, Gottesfurcht und Königstreue, Privatlehrer und Gouvernanten, Ausritte und Picknicks, Handarbeit und Wohltätigkeitsveranstaltungen. Dies alles einzig zum Zweck einer standesgemäßen und reichen Heirat. Bis zu ihrem 24. Lebensjahr führt Lily von Kretschmann dieses luxuriöse Leben. Aus ihrem Tagebuch wissen wir, dass sie früh ihr Leben als erdrückend empfindet: „viele Fesseln – feine, die ich kaum spüre, und grobe, die sich mir ins Fleisch schnitten, - umschnüren mich von klein an“ schreibt die 22-jährige in ihr Tagebuch.

Unerwartet und in Folge eines familiären Schicksalsschlags verliert sie ihre Fesseln. Ihr Vater, ein hochrangiger Militär im Großen Generalstab der preußischen Armee wird unehrenhaft entlassen. Er hatte Kaiser Wilhelm II in außenpolitischen Fragen widersprochen. Die Familie verliert ihren sozialen Status sowie das Einkommen. Lily ist mit 25 Jahren gezwungen, ihre eigene materielle Existenz aufzubauen und kann sich dadurch aus dem engen Korsett des adeligen Fräuleins befreien. Sie tut dies mit Energie, Mut und großer Lust am Freisein. Sie wird erstmals publizistisch aktiv. Sie geht eine selbstbestimmte Ehe mit Georg von Gizycki ein, einem Freigeist und Gründer der idealistischen Kulturbewegung „Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur“.

„Und wieder las ich manche Nacht hindurch. Bei jedem Umschlagen einer Seite erwartete ich das Gräßliche zu finden, das so vielen Menschen das Recht gab, den Sozialismus zu verabscheuen und mit allen Mitteln zu bekämpfen. Aber ich fand es nicht. Nichts entsetzte mich, und wenn ich überrascht war, so nur über die Selbstverständlichkeit jeder Kritik am Bestehenden und jeder Forderung an die Zukunft. Oft lachte ich im Stillen vor Freude, wenn ich eigene, längst vertraute Ideen wiederfand; und wo meine Gedanken nicht Schritt halten konnten, sagte mein Gefühl ja und tausendmal ja. Gleiche Rechte für alle: Männer und Frauen; Freiheit der Überzeugung; Sicherung der Existenz; Frieden der Völker; Kunst, Wissenschaft, Natur ein Gemeingut Aller; Arbeit eine Pflicht für Alle; freie Entwicklung der Persönlichkeit, ungehemmt durch Fesseln der Kaste, der Rasse, des Geschlechts, des Vermögens–: wie konnte irgend jemand, der auch nur über seine nächsten vier Wände hinausdachte, sich der Richtigkeit und Notwendigkeit dieser Forderungen verschließen?!“[14]

Link zu den Veröffentlichungen in unserem Bestand.

Frauenemanzipation – bürgerlich oder proletarisch?

Lily von Gizycki beschäftigt sich jetzt mit sozialistischen Theorien, liest Marx und Engels, ihre tägliche Lektüre wird der „Vorwärts“. Sie trifft auf die radikalen Berliner Frauenrechtlerinnen und schließt sich dieser linksliberalen bürgerlichen Frauenbewegung um Minna Cauer an. Sie wird in den Vorstand des „Vereins Frauenwohl“ gewählt, arbeitet in der Schriftleitung der neugegründeten Zeitschrift „Die Frauenbewegung“ und ist eine begabte Rednerin in Sachen Frauenemanzipation. Als erste Bürgerliche fordert sie das Frauenwahlrecht, bis dahin nur von der SPD in ihrem Gothaer Programm von 1891 aufgenommen.

1895 stirbt ihr Mann, und wieder nutzt sie den entstandenen Freiraum: sie tritt der SPD bei und bricht mit diesem Schritt endgültig alle Brücken zu ihrem Herkunftsmilieu ab. Lily von Gizycki will jetzt die Probleme der erwerbstätigen Frauen untersuchen; August Bebel verweist sie an die Galionsfigur der proletarischen Frauenbewegung Clara Zetkin und an den Publizisten und Sozialpolitiker Heinrich Braun. Ein Jahr später wird aus Lily von Gizycki Lily Braun, und die Berliner Gesellschaft, ob adelig oder sozialdemokratisch, hat einen handfesten Skandal. Heinrich Braun, ihr neuer Ehemann, steht im Zentrum der Sozialdemokratie und ist ein Publizist mit weitreichendem Ruf. Er ist Mitbegründer der „Neuen Zeit“ und des „Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik“ und wortgewaltiger Anhänger von Eduard Bernstein. Für die Ehe mit Lily verlässt er seine zweite –

schwangere – Frau, dies bietet Stoff für reichlich Klatsch und Tratsch. Lily Braun lässt dies unbeeindruckt, sie kämpft weiter für Frauenrechte, hält mitreißende Reden zum Frauenwahlrecht und publiziert 1901 ihr politisches Hauptwerk „Die Frauenfrage – Ihre geschichtliche Entwicklung und ihre wirtschaftliche Seite“. Es gilt als die feministische Antwort auf Friedrich Engels‘ „Lage der Arbeiterklasse in England“. Ihre politische Rivalin Clara Zetkin zerreißt das Buch in der „Gleichheit“ und wirft ihr Reformismus vor; laut Zetkin kommt es erst nach einem revolutionären Umsturz und einem befreiten Proletariat zu einer Gleichstellung der Geschlechter. Lily Braun wird aus der Berliner Frauenorganisation ausgeschlossen. Sie bleibt Außenseiterin mit ihrer Vorstellung von einer sozialistischen Wirtschaftsreform, einer Reform der Hausarbeit, dem Schutz der berufstätigen Wöchnerinnen, der genossenschaftlichen Kinderbetreuung und der Befreiung der Frauen von der Doppelbelastung – Erwerbsarbeit und Hauswirtschaft – durch die Einführung von „Einküchenhäuser“. Letzteres wird später im Wien der 1920er Jahre im Karl-Marx-Hof realisiert.

 

Vom Verlieren und vom Welterfolg

Die sozialdemokratischen Revisionisten um Eduard Bernstein, denen Lily und Heinrich Braun angehören, scheitern mit ihren Positionen auf dem SPD-Parteitag in Dresden 1903. In der Folge versuchen sie zusammen das revisionistische Forum „Die neue Gesellschaft – sozialistische Wochenschrift“ wiederzubeleben. Das Projekt scheitert. Finanziellen Engpässen, Ausgrenzung in der proletarischen wie der bürgerlichen Frauenbewegung und zunehmenden Problemen in der Ehe entgeht Lily Braun mit einem neuen Buchprojekt: zwischen 1909 und 1911 erscheinen die „Memoiren einer Sozialistin“. In dieser romanhaften, kaum verschlüsselten Autobiografie zeichnet die 43-jährige ihre politischen Bekenntnisse und auch ihre Lebens- und Liebesgeschichten nach. Nebenbei ist es eine Abrechnung mit ihren vielen Gegner_innen. Das Buch wird ein Besteller und spiegelt das Schicksal einer Frau, die in kein Lager passt und sich auch keinem Lager anpassen will.

Der Beginn des Ersten Weltkriegs macht aus Lily Braun eine glühende Nationalistin, alle pazifistischen Ansätze und alle Ideale der linken Frauenbewegung sind verdrängt. Lily Braun ruft die Frauen und Mütter zur Unterstützung des nationalen Kampfes auf und entspricht hier ganz dem Zeitgeist. 1916 erleidet Lily Braun mit 51 Jahren einen Schlaganfall und verstirbt. Sie wird nicht mehr erleben, dass ihr einziger Sohn aus der Ehe mit Heinrich Braun als 18-jähriger in diesem Ersten Weltkrieg fällt. Aber auch nicht, dass ihre Memoiren zum Welterfolg werden.

 

 

„Memoiren einer Sozialistin“

Das Buch erscheint in vielen Übersetzungen und vielen Auflagen bis heute. Sowohl ihr Engagement für die Frauenemanzipation aber natürlich auch ihr bewegtes Leben, das sie mit Hilfe von 32 sorgfältig geführten Tagebücher nacherzählt, hat das Zeug zum Bestseller. Ein Exemplar von Lily Brauns Hauptwerk haben wir im Rahmen unseres Forschungsprojektes „Provenienzforschung im ‚Gründungsbestandes‘ in der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung – Dokumentation und Identifikation von NS-Raubgut“  entdeckt. Besonders interessant an dieser Ausgabe sind die Provenienzhinweise: ein Exlibris der „Bibliothek Ludwig Sochaczewer“ und ein Stempel mit einer Eule und einem „W“. Bei Ludwig Sochaczewer handelt es sich um einen im Ghetto Theresienstadt ermordeten Schriftsteller. Der Stempel mit Eule und dem Buchstaben W steht in Verbindung zu einer Elli Krüger, über die es bisher keine weiteren Informationen gibt.

Auf welchen Umwegen das Exemplar von Lily Braun in unseren Bestand aufgenommen wurde ist nicht geklärt.


Provenienzforschung als Erinnerungsarbeit

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Deutsche Gewerkschaften und Grundgesetz, 1945–1949. Teil 1: Vom Wiederaufbau zum Tarifvertragsgesetz

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Demokratischer Sozialismus: Das georgische Experiment

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