Unter den Talaren: ein Favorit mit dunkler Vergangenheit

Der Weg zur Präsidentschaft scheint Ebrahim Raissi geebnet zu sein. Erfahrungen mit Regierungsgeschäften hat er keine, dafür umso mehr bei der Unterdrückung politischer Opposition.

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Omid Rezaee

 

 

Kleider machen Leute, auch in der Islamischen Republik. So wechselte der aussichtsreichste Kandidat im Rennen um die iranische Präsidentschaft, Ebrahim Raissi, schon mehrfach seinen Stil. Natürlich jeweils mit politischer Botschaft.

Entscheidende Bedeutung hat dabei das Kleidungsstück unter der Robe, die er als schiitischer Kleriker trägt. Die klassische Variante, genannt Qaba, ist weit geschnitten und liegt locker am Körper. Getragen wird sie von eher traditionelleren Vertretern der Geistlichkeit, etwa dem ehemaligen Obersten Führer, Ruhollah Chomeini, oder dessen Nachfolger, Ali Chamenei. Der Gegenentwurf, Labbade, wird enger am Körper getragen und ist aus festerem Stoff, mit hochgeschlossenem Kragen. Mohammad Chatami, der Ex-Reformpräsident, hat diesen Stil geprägt, der von moderneren Vertretern des geistlichen Standes präferiert wird.

Raissi machte zunächst mit der traditionelleren Variante Karriere. Bilder aus den 1980er Jahren zeigen ihn mit der Qaba. Im Wahlkampf 2017, als er sich erstmals um das Präsidentenamt bewarb, trat Raissi dann plötzlich mit einer Labbade auf. Womöglich spekulierte er darauf, dies würde ihm mehr Stimmen bei der Wahl bringen, letztlich ohne Erfolg. Im Zuge seiner Ernennung zum Chef der Justiz 2019 trug er dann wieder die Qaba. Es sollte nicht der letzte Wechsel sein.

Denn aktuell, im Wahlkampf zu den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen, variiert Raissi bei seinen öffentlichen Auftritten immer wieder zwischen Qaba und Labbade.

 

Wahlkampf ohne Gegenspieler

Raissi scheint der Weg ins Präsidialamt vorgezeichnet zu sein. Sämtliche Bewerber*innen, die ihn auch nur annähernd hätten herausfordern können, wurden nicht zur Wahl zugelassen. Vollzogen wurde dieser weitreichende Ausschluss durch den Wächterrat, der de facto von Chamenei kontrolliert wird. Doch nicht nur Chamenei, sondern insgesamt stehen die mächtigsten Institutionen des Staates hinter ihm.

Auch die Sicherheitsbehörden setzen sich für Raissi ein, buchstäblich mit aller Macht: Am 19. Mai, nur vier Tage nach Verkündung seiner Kandidatur, warnten offenbar die für Medien zuständige Staatsanwaltschaft sowie der Nachrichtendienst der Islamischen Revolutionsgarde mehrere Medienschaffende davor, Raissi öffentlich zu kritisieren. Zudem wurde ein Dutzend Journalist*innen vorgeladen und aufgefordert, kritische Tweets über Raissi zu löschen.

Auch die zugelassenen konservativen Kandidaten sind nicht in der Lage, Raissi ernsthaft herauszufordern. Da er als Vertrauensperson des Obersten Führers des Landes gilt, ist davon auszugehen, dass die meisten Anhänger*innen der Hardliner ihn gegenüber den anderen Kandidaten bevorzugen.

 

Blutige Vergangenheit

Nun, da Raissi erneut im nationalen Rampenlicht steht, holt ihn ein weiteres Mal seine Vergangenheit ein. Denn bis zu seiner Ernennung 2016 zum Vorsitzenden der Stiftung „Astan-e-Qods-e-Razavi“, einem der wichtigsten religiös-kommerziellen Akteure in der iranischen Wirtschaft, war Raissi in erster Linie bekannt für seine federführende Rolle bei den Massenhinrichtungen tausender politischer Gefangener im Jahr 1988. Bereits im Wahlkampf 2017 sagte Rohani über seinen wichtigsten Herausforderer: „Das Volk lehnt diejenigen ab, die sich nur mit Hinrichtung und Verhaftung auskennen“, wenngleich ohne Raissi direkt beim Namen zu nennen.

Zwar verlor er 2017 die Wahlen, doch konnte Raissi mit 38 Prozent durchaus einen Achtungserfolg erzielen. Über 15,8 Millionen Iraner*innen wählten ihn – die meisten Stimmen, die je ein unterlegener Kandidat bei einer Präsidentschaftswahl erzielen konnte. Unterstützt hatten Raissi damals die größten konservativen Parteien des Landes, die auch nun wieder hinter ihm stehen.

 

Kampf gegen Korruption als Wahlspruch

Im aktuellen Wahlkampf agiert Raissi wesentlich offensiver als vor vier Jahren. Frontal attackiert und kritisiert er Rohani und dessen Regierung. Er verspricht, die Fehler des scheidenden Amtsinhabers zu korrigieren.

Auf Stimmenfang geht der amtierende Chef der Justiz bezeichnenderweise mit dem Kampf gegen die Korruption. Man könne zwar juristisch gegen Korruption vorgehen, wie er es in den letzten Jahren getan habe. Die Exekutive hingegen könne Korruption von vornherein verhindern. Sein Kampf gegen Korruption kenne keine Grenzen, keine roten Linien, betont Raissi. Er suggeriert damit, dass er auch gegen Angehörige der politischen Elite vorgehen wolle – eine unverhohlene Drohung an die Adresse Rohanis und anderer politischer Wettbewerber.

Transparenz zu schaffen, ist das zweite große Wahlkampfthema Raissis, der dabei insbesondere die Wirtschaft im Blick hat. Er wolle die Verhältnisse für die iranische Bevölkerung offenlegen, wie er es in der Judikative sowie bei Astan-e-Qods-e-Razavi gemacht habe, so einer von Raissis häufigsten Wahlkampfslogans.

Trotz Corona reist Raissi seit Wochen quer durchs Land, um sich regelmäßig mit Unternehmer*innen zu treffen und seiner Forderung nach einer „Unterstützung der Produktion“ Geltung zu verschaffen. Raissi lässt dabei keine Gelegenheit aus, der Regierung Rohani vorzuwerfen, nicht genug für die Wirtschaft und die Produktion im Land getan zu haben.

Armut und Arbeitslosigkeit spricht Raissi als die Hauptprobleme der Iraner*innen an und verspricht vollmundig, während seiner vierjährigen Regierungszeit ganze vier Millionen Arbeitsplätze schaffen zu wollen. „Ich trete auf, um die absolute Armut zu beseitigen“, so Raissi.

 

Lautes Schweigen zu Freiheit und Kultur

Selten äußert sich Raissi zu Themen wie Demokratie oder Pressefreiheit, mit denen vermutlich die Reformer*innen Wahlkampf gemacht hätten, wären sie zugelassen worden. Raissi erwähnt in diesem Zusammenhang lediglich, seine Regierung werde gegenüber Kritik offen sein – anders als Rohanis Regierung, so Raissi. Er verweist dabei auf die vielen Anzeigen und juristischen Prozesse der Regierung Rohani gegen unliebsame Kritiker*innen aus Journalismus und Zivilgesellschaft.

Doch angesichts seiner Vergangenheit als Staatsanwalt, stellvertretender oberster Richter und nun Chef der Justiz sind solche Versprechen kaum glaubwürdig. Vielmehr ging Raissis Amtszeit als Justizchef (2019-2021) mit einem deutlichen Anstieg staatlicher Repression einher. Hierzu zählen unter anderem eine Ausweitung von Isolationshaft, ein Anstieg unter Folter erzwungener Geständnisse sowie die Verweigerung medizinischer Behandlung für politische Gefangene. Im Juli 2020 wurde zudem erstmals seit zwei Jahrzehnten wieder ein Mann wegen des Konsums von Alkohol hingerichtet. Weiterhin steht Iran weltweit nach China an zweiter Stelle bei der absoluten Zahl der gemeldeten Hinrichtungen und führte 2020 mehr als die Hälfte aller Hinrichtungen im Nahen Osten und Nordafrika durch. Ebenfalls in Raissis Zeit als Chef der Justiz fielen die landesweiten Massenproteste im November 2019, die von staatlicher Seite mit einem bislang unbekannten Maß an Brutalität niedergeschlagen wurden. Neben hunderten – wenn nicht sogar tausenden – Toten sind noch immer tausende Protestierende in Haft. In mehreren Fällen wurde bereits die Todesstrafe vollzogen.

Nicht nur bei der politischen Verfolgung Andersdenkender hinterlässt Raissi regelrecht eine Blutspur. Auch in anderen Fragen vertritt er reaktionäre Positionen, selbst nach den Maßstäben der Islamischen Republik. Er verteidigt beispielsweise nicht nur fest die Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum. Im Wahlkampf 2017 forderte er auch die weitere Islamisierung von Wissenschaften und Universitäten und forderte Iran auf, sich gegen die westliche Kultur zur Wehr zu setzen. Und 2016, als ein Richter in der zentraliranischen Stadt Yazd einen Mann wegen Diebstahls zur Amputation von dessen Hand verurteilt hatte, unterstützte Raissi dieses Urteil nachdrücklich. „Wir sind stolz darauf, die Scharia einführen zu können“, verkündete er damals.

In seinem Wahlkampf allerdings spricht Raissi diese Themen selten an. Vielmehr konzentriert er sich auf das ökonomische Leid der Bevölkerung.

Während Raissi selbst diese – potenziell kontroversen – Aspekte seiner Agenda in den Hintergrund stellt, spricht dafür sein Umfeld Bände. Für Kulturangelegenheiten ist in seinem Wahlkampfteam etwa ein Filmproduzent verantwortlich, der unter anderem eine TV-Serie für die Revolutionsgarden produziert hat, die Rohanis Regierung als naiv verunglimpfte und das Atomabkommen scharf kritisierte.

Während Raissi selbst noch keine eindeutige Position zum Atomabkommen eingenommen hat, lassen seine Weggefährten erahnen, welche Auffassung er vertritt. Raissi selbst betont zwar, eine Außenpolitik verfolgen zu wollen, die mit jedem Land, das „uns nicht anfeindet“, gute Beziehungen anstrebt. Doch wird er getragen von der Unterstützung politischer Parteien und Organisationen der Hardliner, die dem Westen äußerst skeptisch gegenüberstehen und insbesondere die Feindschaft mit den USA als essentiellen Teil der Identität und Ideologie der Islamischen Republik verstehen.

 

Der Schatten Ahmadinedschads

In Raissis Umfeld befinden sich zudem zahlreiche Mitglieder der seinerzeitigen Regierung von Mahmud Ahmadinedschad, dem umstrittenen Ex-Präsidenten, der von 2005 bis 2013 regierte und mit seiner aggressiven Außenpolitik gegenüber dem Westen und Israel sowie Misswirtschaft im Inland Schlagzeilen machte. Auch wenn sich viele dieser Persönlichkeiten mittlerweile von Ahmadinedschad distanziert haben, erinnern sie zahlreiche Iraner*innen an dessen Ära. Speziell die junge Generation assoziiert die Ahmadinedschad-Zeit mit dem diametralen Gegenteil von dem, was sie sich für ihr Land wünschen. Kaum etwas ist in der Mittelschicht Irans verhasster als Ahmadinedschads antiwestliche Haltung und chaotische Politik, sein bewusst unmodernes Äußeres, seine Scheinheiligkeit und sein offen zur Schau gestellter Aberglaube.

Zusammengenommen machen es diese Faktoren extrem unwahrscheinlich, dass die iranische Mittelschicht, die von Präsident Rohani, den Moderaten und den Reformern enttäuscht zu sein scheint, in Raissi und seiner Politik ihre Rettung sieht. Raissis Stimmen dürften daher vor allem von den treuen Anhänger*innen des Regimes kommen. Diese stimmen in der Regel für den Kandidaten, der mutmaßlich die Unterstützung des Obersten Führers genießt, wenngleich sich dieser offiziell neutral gibt. Wie schon 2017 ist davon auszugehen, dass Raissi besonders in religiös-konservativen Provinzen wie Ghom oder Chorasan punkten kann.

 

Das Ende der Doppelmacht

Sollte Raissi die anstehenden Wahlen gewinnen, was Stand jetzt wahrscheinlich ist, dürften sich die Technokrat*innen und Pragmatiker*innen, die in den letzten acht Jahren das Land geführt haben, aus der Politik zurückziehen.

Derweil zeigen sich Raissi und seine Vertrauten völlig planlos, wie sie das Land aus der Misere von Pandemie und wirtschaftlicher Not befreien können. In seinem Wahlprogramm macht der 61-Jährige große Versprechungen, erläutert aber nicht, wie er diese realisieren will. Zu erwarten sind daher (mindestens) vier Jahre Chaos in der Innen- und Wirtschaftspolitik sowie eine (noch) aggressivere Außenpolitik.

Verändern wird sich in Iran auch das Kräfteverhältnis innerhalb der Islamischen Republik. Eine Präsidentschaft Raissis dürfte die Moderaten und Reformer*innen bis auf Weiteres vollends entmachten. Die Konservativen hingegen, die bereits über eine große Mehrheit im Parlament verfügen, würden nunmehr alle Schlüsselpositionen der Macht kontrollieren. Die bisherige „Doppelmacht“ von Regierung und den nicht-gewählten Machtzentren wäre beseitigt.

Ein solcher Umbruch würde aber auch bedeuten: Die konservativen Hardliner tragen nunmehr die volle Verantwortung für das, was im Land passiert. Es gäbe keine „zu moderate“ Regierung, der die Schuld für Missstände im Land zugewiesen werden könnte. Das letzte Mal, als Iran sich in einer solchen Lage befand, erlebte das Land einen Massenprotest, der das gesamte System ins Wanken brachte: jener gegen das mutmaßlich gefälschte Wahlergebnis der Präsidentschaftswahl 2009.

Bezeichnenderweise verfügt Raissi über keinerlei Regierungserfahrung, auch nicht auf Provinz-Ebene. Zum Markenzeichen seines politischen Handelns wurde vielmehr die Repression jedweder Form von politischem Dissens.

Nun, in einer Zeit häufiger Massenproteste, da die Islamische Republik am vorläufigen Tiefpunkt ihrer Popularität und Legitimität angekommen ist, bedeutet dies: Chamenei und die Hardliner wollen einen Mann ins Präsidentenamt hieven, der keine Skrupel kennt, wenn es darum geht, Proteste niederzuschlagen.

Eine Frage bleibt derweil. Lässt sich die Mehrheit jener Iraner*innen, die am 18. Juni tatsächlich zur Wahl gehen werden, von den modischen Experimenten Raissis zwischen modernerer Labbade und traditioneller Qaba überzeugen und wählt ihn tatsächlich zum Präsidenten? Dies wäre von enormer Bedeutung für das große Ziel Raissis und seiner Unterstützer*innen: ihn zum Nachfolger des Obersten Führers zu machen – selbstverständlich mit Qaba.

 

 

Omid Rezaee ist freier Journalist. Er lebt und arbeitet in Hamburg, wo er Digital Journalism an der Hamburg Media School studiert hat.

Auf Twitter: @Omid6887