Nach der Revolution die Systemfrage

Zwei Jahre nach dem Sturz von al-Bashir hat der Übergangsprozess im Sudan Fortschritte gemacht. Das Land bleibt aber fragil. Eine autoritäres Regime bleibt möglich. Die Förderung einer demokratischen Transformation braucht daher mehr Aufmerksamkeit.

Ein Beitrag von Philipp C. Jahn, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Khartum und Gerrit Kurtz, Research Fellow für Krisenprävention und Diplomatie in Afrika bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin.

 

Der 11. April 2019 war ein Tag großer Emotionen in Khartum. Mittags verkündete der damalige Vizepräsident Ibn Auf die Verhaftung von Präsident Omar al-Bashir. Die Bewohner Khartums feierten auf dem Sit-In vor der Zentrale der Streitkräfte das Ende seiner 30-jährigen Herrschaft. Abends schwenkte die Stimmung um. Der putschende Militärrat kündigte eine zweijährige Militärherrschaft an. Die Proteste gingen weiter. Der Sit-In wuchs zu einer Zeltstadt bis zu seiner gewaltsamen Räumung am 3. Juni. Erst danach einigten sich Militär und die Vertreter der Protestbewegung auf eine zivil-militärische Übergangsregierung.

Zwei Jahre nach dem Sturz al-Bashirs bleibt die Frage nach Sudans politischem System aktuell. Die von Premierminister Abdalla Hamdok geführte Übergangsregierung hat sich Reformen in drei Bereichen vorgenommen: Wirtschaft, Frieden und Demokratie.

Politik der Alternativlosigkeit

Hamdoks erste, nach der Revolution gebildete Regierung, dominierten Technokraten aus internationalen Finanzinstitutionen. Unter ihrer Führung konnte Sudan wichtige Zwischenerfolge verzeichnen. Die USA strichen Sudan von der Liste terrorismusfördernder Ländern. Die Weltbank organisierte einen Trust Fund, in den internationale Geber Hilfszahlungen zum Abbau der Staatssubventionen einzahlen konnten. Der Internationale Währungsfonds begann ein strukturiertes Beratungsprogramm. Das alles waren Schritte, um Sudans extrem hohe Verschuldung abzubauen, die Bashir angehäuft hatte, um an der Macht zu bleiben. Bei den internationalen Finanzinstitutionen musste Sudan seine Schulden erst abbauen, bevor diese der Regierung neue Mittel zur Verfügung stellen konnten.  Ohne diese Budgethilfe steht der sudanesische Staat vor dem Bankrott.

Jedoch haben die Wirtschaftsreformen die Menschen in Sudan kurzfristig hart getroffen. Die Regierung strich hohe Subventionen für Diesel und Benzin und wertete das sudanesische Pfund gegenüber dem US Dollar um fast 700 Prozent ab. Die Preise für Güter des täglichen Bedarfs schnellten in die Höhe.

Der wirtschaftliche Reformprozess findet mit geringer öffentlicher Beteiligung statt. Eine nationale Wirtschaftskonferenz musste wegen der heraufziehenden Corona-Pandemie verschoben werden. Als sie ein halbes Jahr später stattfand, hatten zivilgesellschaftliche TeilnehmerInnen das Gefühl, nur noch dem mit dem IWF abgesprochenen Reformprogramm zustimmen zu können. Proteste richteten sich gegen den schnellen Abbau der Subventionen und forderten mehr finanzielle Beiträge von den stark in die Wirtschaft involvierten Sicherheitskräften. Ohne externe Mittel war die Streichung der Subventionen für die Regierung jedoch alternativlos.

Zwiespältiges Friedensabkommen

Anfang Oktober 2020 schlossen einige Rebellengruppen und die Regierung das Juba Peace Agreement. Das Friedensabkommen hat eine zwiespältige Wirkung auf den Übergangsprozess. Einerseits sind mit seiner Umsetzung Vertreter langjähriger Rebellengruppen nun Teil der Übergangsregierung geworden. Das von Premierminister Hamdok im Februar 2021 neu ernannte Kabinett gilt als deutlich „politischer“, da es neben den Rebellenführern nun auch prominente Vertreter_innen politischer Parteien beinhaltet.

Andererseits ist der Preis für das Friedensabkommen relativ hoch, zumal es derzeit wenig zur tatsächlichen Sicherheit in peripheren Regionen im Westen, Osten und Süden Sudans beiträgt. Das Abkommen setzt die Uhr des 39-monatigen Übergangsprozess zurück auf Null. Dieser soll jetzt erst Anfang 2024 enden, wenn eine gewählte Regierung übernehmen soll. Die Regierung schätzt die Kosten des Friedensabkommens auf 7,5 Milliarden US-Dollar über zehn Jahre. Weil sie keine eigenen Truppen in Sudan mehr hatten, rekrutierten Unterzeichnergruppen in so einem Ausmaß, dass sich der zuständige UN-Sanktionsausschuss genötigt sah, sie öffentlich zu ermahnen.

Gleichzeitig sind wichtige Gruppen bislang nicht Teil des Friedensabkommens: diejenigen Gruppen, die weiter in Gewalt in Darfur verwickelt sind, sowie die SPLM-North Gruppe unter Führung von Abdel-aziz al-Hilu, welche die meisten Kämpfer aller sudanesischen Rebellengruppen unter Waffen hat. Al-Hilu unterzeichnete Ende März eine Prinzipienerklärung mit der Regierung. Ein vollständiges Friedensabkommen wird aber noch weiter Zeit und Geld kosten.

Autoritärer Rückschlag bleibt möglich

Internationale Akteure als auch die Übergangsregierung betrachten die Reformen in den Bereichen Wirtschaft und Frieden trotz ihrer Unzulänglichkeiten als Beiträge zur demokratischen Entwicklung. Der Grund liegt in der Geschichte Sudans.

Seit seiner Unabhängigkeit hat Sudan mehrere Zyklen aus demokratischer Herrschaft, Militärputsch und Revolution erlebt. Die letzte Periode demokratischer Herrschaft Ende der 1980er Jahre unter der Führung der Umma-Partei zeigte Parallelen zur aktuellen Übergangszeit. Die zivile Regierung hatte eine massive Wirtschaftskrise von der Militärherrschaft Dschafar an-Numairi geerbt, die mit Importschwierigkeiten, Produktivitätseinbußen, Nahrungsmittelknappheit und Protesten einherging. In vielen Teilen des Landes herrschte Bürgerkrieg. Omer al-Bashir nutze die Instabilität als Vorwand für seinen Putsch am 30. Juni 1989.

Es ist keineswegs ausgemacht, dass es nach den Reformen im Bereich Wirtschaft und Frieden wieder zu einem demokratischen Regime kommt; regional betrachtet erscheint dies sogar unwahrscheinlich.

In heutigen politischen Diskussionen in Sudan werden vor allem zwei Modelle autoritärer Herrschaft aus der unmittelbaren Nachbarschaft diskutiert. Das schnelle Scheitern der ägyptischen Revolution und gewählten Regierung von Mohammed Mursi dient als abschreckendes Beispiel für den erneuten Weg in eine Militärdiktatur. Attraktiver scheint einigen Politikern das äthiopische Modell eines Entwicklungsstaats.. Das in der Tat beachtliche Wirtschaftswachstum Äthiopiens in den letzten drei Jahrzehnten erfolgte allerdings innerhalb einer De-facto-Einparteienregierung mit geringem Platz für politische Opposition.

Beide Modelle – eine Militärdiktatur und ein autoritärer Entwicklungsstaat – sind heute in Sudan denkbar. Im Sommer 2020 drohte das Staatsoberhaupt General Abdelrahman Burhan bereits damit, dass das Militär die Regierungsgeschäfte ganz übernehmen könnte. Schließlich lasteten sowohl Burhan als auch Proteste die fortgesetzte Wirtschaftskrise vor allem dem von Hamdok geführten Kabinett an. Allerdings wären auch die Militärs auf einen erfolgreichen Entschuldungsprozess und Zugang zu internationalen Finanzmärkten angewiesen.

Ein Entwicklungsstaat könnte dagegen ein attraktives Angebot sudanesischer Eliten an die hungernde Bevölkerung aber auch an die internationale Gebergemeinschaft sein. Er könnte mit politischer Stabilität und Wirtschaftswachstum in der Folge guter Kooperation mit den internationalen Finanzinstitutionen einhergehen. Premierminister Hamdok, der das äthiopische Modell aus seiner UN-Zeit in Addis Abeba aus der Nähe kennt, hat bereits einen demokratischen Entwicklungsstaat ins Spiel gebracht.

Die Transformation braucht einen inklusiven politischen Prozess

Sudan wird sich nicht allein aufgrund von Wirtschaftsreformen und einem Friedensprozess auf dem Weg zu einem demokratischen Entwicklungsstaat machen. Dafür braucht es einen inklusiven politischen Prozess, den auch Volker Perthes fordert, der Chef der politischen Mission der UN in Sudan (UNITAMS). Die Übergangsregierung und ihre demokratisch gesinnten internationalen Partner können Anreize setzen, um so einen Prozess zu erleichtern.

Beteiligung, Dialog und politische Organisation dürfen sich nicht darauf beschränken, Zugang zu Institutionen innerhalb von Eliten zu verhandeln. Eine rein technische und finanzielle Unterstützung der Wahlen, für welche die EU bereits €350 Millionen reserviert hat, ist nicht ausreichend. Wahlen haben auch vorher in Sudan stattgefunden. Damit aus den Wahlen eine stabile und legitime Regierung erwächst, braucht es einen funktionierenden Parteienwettbewerb. Eine Lektion aus Ägypten war, dass ein relativ kurzer Übergangsprozess diejenige politische (Oppositions-)Kraft privilegiert, die bereits vor dem Machtwechsel am besten organisiert war. In Ägypten war das die Muslimbruderschaft, in Sudan gilt das vermutlich für die Umma Partei und die kommunistische Partei.

Die Übergangsregierung könnte einen staatlich finanzierten, aber unabhängig kontrollierten Mechanismus einrichten, um die Entwicklung von politischen Parteien zu stärken. Die Mittel für diesen Mechanismus könnten zum Beispiel aus Gewinnen von Unternehmen, welche das Finanzministerium von den Sicherheitskräften im Laufe des Übergangs übernimmt, oder von Sudans etablierten Geschäftsfamilien kommen.

Zuschüsse für Parteien könnten einen Anreiz bieten, die innerparteiliche Demokratie zu stärken, bislang unterrepräsentierte gesellschaftliche Gruppen zu ermächtigen (besonders Frauen), die Mitgliederbasis zu verbreitern, Parteispenden transparenter zu gestalten, und Allianzen der rund 100 kleinen und Kleinstparteien zu fördern. Internationale Akteure könnten Trainings und Projekte zur Selbstorganisation und Beteiligung bis auf Wahlkreisebene fördern.  Nach den Wahlen könnte die neue Regierung den Mechanismus in eine dauerhafte Form der demokratisch abgesicherten Parteienfinanzierung überführen.

Keine Demokratisierung über Nacht

Bei allem berechtigten Enthusiasmus für die Innovationskraft und Ausdauer der revolutionären Bewegung in Sudan sollte man sich keinen Illusionen hingeben: Die demokratische Entwicklung und damit einhergehende Veränderung der politischen Kultur in Sudan ist eine Generationenaufgabe. Die ethnische, tribale, religiöse oder regionale Identität wird auf absehbare Zeit ein wichtiger politischer Marker bleiben, gerade für bisher marginalisierte Bevölkerungsteile.

Wahlen könnten sogar erstmal dazu führen, dass Versorgungsnetzwerke und Identitätspolitik an Bedeutung gewinnen. Parteien könnten zu reinen Wahlmaschinen verkommen, die Eliten helfen ihre Macht zu sichern, anstatt eine breite politische Partizipation zu ermöglichen. Eine gut organisierte Protestbewegung wird auch weiterhin nötig sein, um für eine progressive, egalitäre Gesellschaftsordnung zu streiten.

Wie die sudanesische Gesellschaftsordnung aussehen soll, können und sollten nur Sudanesinnen und Sudanesen bestimmen. Die internationale Unterstützung des sudanesisch geführten und gestalteten Übergangsprozesses sollte zumindest komplementär zu einer demokratischen Transformation sein. Anreize für Beteiligung, Dialog und Teilhabe sollten essenzielle Bestandteile der internationalen Zusammenarbeit mit Sudan sein.

 

Philipp C. Jahn leitet das Büro der Friedrich Ebert Stiftung in Khartum. Gerrit Kurtz ist Research Fellow für Krisenprävention und Diplomatie in Afrika bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin.

Der Text ist auf Englisch im IPS Journal erschienen: »What comes after the revolution?«

 

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