Nach dem Anschlag von Halle: Bundesweite Strategie für Politische Bildung – gegen Rechtsextremismus

Der Anschlag in Halle steht für eine neue Dimension des Antisemitismus und Rechtsextremismus in Deutschland.

Bild: Sabine Achour von FU Berlin

Ist dies das Kind von Populismus, Diskursverschiebung sowie steigender Gewalt von rechts? Wie konnte ein ideologisches Wertevakuum entstehen und von Menschenfeindlichkeit gekapert werden?

Joachim Bauer, Professor für Neurowissenschaften, schreibt dazu im Berliner Tagesspiegel nach dem Anschlag: Um zu einem humanen Wesen zu werden, bedürfe es einer ganzen Reihe von Voraussetzungen, die wir unter dem Begriff „der Erziehung“ zusammenfassten. Wir hätten aber in den Nachwendejahren zugelassen, dass vor allem in den neuen Bundesländern – aber nicht nur dort – Jugendhilfestrukturen zusammengebrochen wären, eine ganze Generation junger Menschen in einem pädagogischen Niemandsland aufgewachsen sei. Rechte Gruppierungen konnten diese Leerstellen besetzen und sich mit Formaten für nachmittägliche Freizeitprogramme, schulische Nachhilfe, Familienfeste, soziale Arbeit bis hin zu Identitätsangeboten online und offline professionalisieren. Anstatt aber junge Menschen und Zivilgesellschaft für die Demokratie und gegen rechts zu stärken, sind seit Jahrzehnten die schulische und außerschulische politische Bildung sowie Erwachsenenbildung in zunehmend prekäre Ausstattungen gedrängt worden.

Nach einem finanziellen Höhenflug durch das Bundesprogramm „Demokratie leben“ wurde fast zeitgleich mit dem Anschlag in Halle publik, dass die Mittel drastisch gekürzt werden sollten. Auch wenn diese angekündigte Kürzung vorerst vom Tisch ist: Die fehlende Nachhaltigkeit aufgrund nicht geschaffener Regelstrukturen bricht den Trägern gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus das Genick und beendet die zivilgesellschaftliche Arbeit.

Politische Bildung an Schulen: Wer hat, dem wird gegeben

Die schulische politische Bildung kann und konnte das Wegbrechen dieser Strukturen, die sich oftmals an Jugendliche wendet, die besonders von sozialen und kulturellen Teilhabebarrieren betroffen sind, in keiner Weise auffangen. Die Ergebnisse einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung belegen, wie sich das Matthäus-Prinzip „Wer hat, dem wird gegeben“ bewahrheitet: Die schulische politische Bildung wird nicht als das zentrale, gesellschaftliche Instrument genutzt, um alle Jugendlichen unabhängig vom sozialen, kulturellen und ökonomischen Status des Elternhauses zur Teilhabe an Demokratie zu befähigen und deren politische Mündigkeit zu fördern. Vor allem die Schüler_innen an den Gymnasien, welche häufiger aus bildungsnahen Elternhäusern kommen, über ein höheres kulturelles und oft auch soziales Kapital verfügen, profitieren nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ von den hochwertigeren Angeboten der politischen Bildung (befragt wurden insgesamt knapp 3.400 Schüler_innen).

Ihnen stehen oft mehr als doppelt so viele Stunden Politikunterricht zur Verfügung. Besonders hoch ist die Diskrepanz zwischen Schüler_innen der gymnasialen Oberstufe und denen an Berufsschulen. Der Unterricht wird an Gymnasien als aktueller, kontroverser und motivierender beschrieben. Politische Urteils- und Handlungskompetenz werden intensiver gefördert. Die Schüler_innen an anderen Schulformen dagegen empfinden den Unterricht als oberflächlicher und langweiliger. Aber gerade diese Jugendlichen sollten gleichberechtigt einen didaktisch-sensiblen und inklusiven Zugang zu Politik erhalten.

Ein ähnliches Ungleichgewicht existiert auch bei Formaten wie Schulversammlungen, Schülerzeitungen oder Exkursionen zu gesellschaftspolitischen Organisationen oder Erinnerungsstätten der Demokratie. Von einer entsprechenden schulfachübergreifenden Demokratiebildung profitieren verstärkt Schüler_innen am Gymnasium. Dabei können gerade diese Formen Politik und Demokratie – oft niederschwelliger und konkreter – erfahrbar machen und Handlungskompetenzen fördern.

Ungleiche Teilhabemöglichkeiten spiegeln sich in Einstellungen wider

Diese ungleichen Teilhabemöglichkeiten an politischer Bildung spiegeln sich auch in den politischen Einstellungen der Schüler_innen wider. Angehende Abiturient_innen sind politisch interessierter, eher zur Partizipation bereit, sie halten die Demokratie häufiger für eine gute Staatsform, haben ein höheres Vertrauen in Akteure und Institutionen aus Politik und Gesellschaft, lehnen häufiger autoritäre Eingriffe des Staates ab und befürworten deutlicher demokratische Grundwerte. Nicht zuletzt sind ihre Einstellungen gegenüber Menschen jüdischen und muslimischen Glaubens, mit Migrationsbezügen oder Asylsuchenden positiver als die der anderen Schüler_innen. Signifikant hängen diese Einstellungen jeweils mit dem kulturellen Kapital zusammen. D.h., Bildung kann – wenn auch nicht immer – gegen Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit immunisieren. Aber dafür müssen die Angebote von (politischer) Bildung zumindest entlang des sozialen Status und der häufig damit zusammenhängenden Verteilung auf Schulformen vergleichbar sein.

Gap in politischer Bildung: Allgemeinbildende Schulen und Berufsschulen

Auffällig ist in den Ergebnissen, dass sich die demokratischen Einstellungen der Schüler_innen ab Klasse 11 an den Schulformen, die zum Abitur führen und quantitativ ähnliche Angebote der politischen Bildung haben, angleichen. Die Berufsschulen und ihre Schüler_innen sind von diesen positiven Effekten dagegen abgehängt.

Weitere positive Effekte unterstützen ein Plädoyer für die Stärkung schulischer politischer Bildung für mehr Demokratiefähigkeit.

Ein Großteil der befragten Schüler_innen bescheinigt den Schulen - fast - unabhängig von den Schulformen eine demokratische Schulkultur. Gelebt werden v.a. die Meinungsvielfalt und -äußerung. Dies spiegelt sich auch in der Einschätzung ihrer politischen Kompetenz wider: Die meisten trauen sich zu, kompetent vor der Klasse über ein soziales oder politisches Problem zu sprechen oder einen politischen Standpunkt zu einem bestimmten Problem zu vertreten. Die befragten Schüler_innen zeichnen sich auch durch eine demokratische Grundhaltung aus. Anders verhält es sich bei den befragten Schüler_innen an den Berufsschulen: Sie verneinen stärker, dass Schule ein Ort sei, an dem Fairness und Toleranz gelernt werde. Sie fühlen sich auch am wenigsten politisch kompetent.

Demokratie braucht politisch gebildete Demokrat_innen in allen Milieus und Gruppen. D.h., es muss die politische Selbstwirksamkeit und Politikkompetenz v.a. derjenigen gefördert werden, die von Disparitäten betroffen sind und deren geringere Teilhabemöglichkeiten sich in den politischen Einstellungen widerzuspiegeln scheinen. Eine entsprechende bundesweite Strategie für Politische Bildung und gegen Rechtsextremismus liegt somit im Interesse der Demokratie selbst.

Hieraus leiten sich folgende Forderungen ab:

Politische Bildung stärken – v.a. dort, wo sie gebraucht wird

  • Kompensation herkunftsbedingter Disparitäten durch eine inklusive (politische) Bildung
  • Bundesweites Gesamtkonzept: nachhaltige Regelangebote für die frühkindliche, schulische, außerschulische Bildung und die politische Erwachsenenbildung.
  • Themen wie Rassismus, Antisemitismus, Rechtsextremismus vermehrt behandeln: Laut Studie kommen sie - wie auch Nachhaltigkeit - selten im Unterricht vor.
  • Stärkung der politischen Bildung als Unterrichtsfach, fachübergreifendes Prinzip, Unterrichts- sowie Schulkultur,  in der Lehrkräfteaus- und -weiterbildung als Querschnittsthema.
  • Zukunftsaufgabe Digitalisierung: Schüler_innen auch für die politische Kommunikation im Netz fit machen – laut Studienergebnissen existiert hier eher Skepsis.

 

Prof. Dr. Sabine Achour ist Professorin für politische Bildung am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der FU Berlin. Seit 2012 ist sie Vorsitzende des Berliner Landesverbandes der Deutschen Vereinigung für politische Bildung (DVPB).

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