#Jesuisprof - historisch-politische Bildung wider die Angst

Der tragische Fall von Samuel Paty zeigt, wie wichtig historisch-politische Bildung in der Schule ist. So wie wir Lehrer_innen täglich die Werte einer offenen Gesellschaft leben und die Verfassung schützen und verteidigen, so müssen auch wir vom Staat in unserer Berufsausübung geschützt und gewertschätzt werden.

Bild: Christina Brüning und Bettina Deutsch von Privat

 

Von Christina Brüning und Bettina Deutsch

 

Eine diffuse Angst beherrscht vielerorts den Lehrer_innenberuf: aktuell ist es die Angst vor einer Coronainfektion. Schon immer gab es aber die Angst vor drohenden oder stalkenden Schüler_innen, denen ihre Noten nicht gefallen oder die Angst vor Klagen und Konflikten mit Eltern. Auch die Angst vor der Einmischung der Eltern ins Unterrichtsgeschehen ist stets präsent. Aber im gegenwärtigen politischen Klima, in dem Angst bewusst, vor allem über soziale Netzwerke geschürt wird, wird diese Angst immer konkreter und seit dem Tod von Samuel Paty ist sie für uns alle als Lebensgefahr greifbar geworden.

Samuel Paty, ein französischer Geschichtslehrer hatte in seiner Unterrichtsreihe zum Thema Meinungs- und Gewissensfreiheit seinen Schüler_innen zeigen wollen, dass in Frankreich auch das Recht zu blasphemischen Darstellungen und Äußerungen existiert. Präsident Macron hatte dies erst im September zum Auftakt der Prozesse um das Attentat auf „Charlie Hebdo“ bekräftigt. Aus aktuellem Anlass zeigte Paty seinen Schüler_innen die erneut auf dem Cover von „Charlie Hebdo“ abgedruckten Mohammed-Karikaturen. Dabei stellte er es allen Lernenden frei, sich diese anzusehen oder den Raum zu verlassen. Und dennoch geriet er ins Visier von radikalen Islamisten. Nach dem Aufruf eines Vaters, diesen Lehrer zu stoppen, kam es zu einer regelrechten ‚Fatwa‘ im Netz. Samuel Paty wurde am 16.10.2020 auf brutale Weise im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine enthauptet. Der Attentäter, ein 18-jähriger Tschetschene, kannte den Lehrer nicht.

Paty starb, weil er die pädagogische Freiheit nutzte und seinen Schüler_innen anschaulich, an einem aktuellen, kontrovers diskutierbaren, höchst gesellschaftspolitisch relevanten Thema republikanische Werte vermittelten wollte. Er machte also genau das, was man guten historisch-politischen Unterricht und Erziehung zur Mündigkeit nennt.

Das Fach histoire-géo spielt im französischen Fächerkanon eine wichtige Rolle. Als Hauptfach werden hier gegenwartsorientierte Themen und Inhalte unterrichtet, die die Werte der Französischen Republik verdeutlichen. Dazu gehört auch der Laizismus, also die strikte Trennung von Kirche und Staat. Diese wird in der öffentlichen französischen Schule besonders gelebt. Anders als in Deutschland sind in der öffentlichen französischen Schule alle sichtbaren religiösen Symbole verboten. Religionsunterricht wird nicht angeboten. Die republikanischen Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit stehen an jedem Schuleingang. Die Meinungs- und Gewissensfreiheit sind hier eingeschlossen. Paty nahm genau darauf Bezug.

Der Mord in Frankreich geht uns alle an. Alle Lehrenden, auch in anderen Ländern, sind betroffen; als Menschen, aber auch in unserer Berufsausübung.

Denn was bedeutet es, wenn es tödlich sein kann, kontroversen, problemorientierten Unterricht abzuhalten?  Was bedeutet es für den Alltag von uns Unterrichtenden, wenn die Schere der innerlichen Zensur bei der Planung im Kopf schon einsetzt, nur weil Quellen als zu kontrovers oder provokant empfunden werden? Wo verläuft die Linie zwischen Rücksichtnahme auf politische oder religiöse Gefühle und der Thematisierung vergangener Fallbeispiele wie es nun mal die Karikaturen und die Morde an den Charlie Hebdo-Mitarbeiter_innen waren?

In Deutschland führen wir in der Lehrer_innenbildung und unter Kolleg_innen gegenwärtig ähnliche Diskussionen. Studierende in Praktika bspw. in Brandenburg berichten immer wieder von Angst vor AfD-nahen oder gar rechtsextremen Eltern an Schulen, die in Mails oder persönlichen Interaktionen drohend auftreten, wenn angeblich der Beutelsbacher Konsens verletzt wird. Gerade Rechtsextreme berufen sich gern auf eine falschverstandene Neutralität, die die historisch-politisch Lehrenden angeblich an den Tag legen müssen. Das AfD-Meldeportal für Lehrer_innen, die angeblich nicht ausgewogen genug unterrichten, erregte breite Aufmerksamkeit und fügt sich in die Einschüchterungsmaßnahmen von rechts nahtlos ein. 

Wie aber kann man multiperspektivisch unterrichten mit der Schere der Zensur im Kopf? Wie kann man Arbeiten mit Angst im Nacken? Die Konsequenz ist teilweise, dass Lehrer_innen immer weniger Stellung zu problematischen, menschenfeindlichen, rassistischen usw. Entwicklungen in der Gesellschaft beziehen. Teile der Lehrer_innenschaft entpolitisieren sich aus einer falsch verstandenen Neutralitätsidee heraus, aber eben auch aus Angst. Und das in einer Zeit, in der die angestellten Staatsdiener_innen die Werte unserer Verfassung täglich mit Energie und Elan verteidigen müssten.

Der tragische Fall von Samuel Paty, der für die Werte der französischen Republik und für eine Umsetzung zeitgemäßer kontroverser Bildung eingetreten ist, zeigt einmal mehr, wie wichtig historisch-politische Bildung in der Schule ist. Gerade die Fächer Geschichte und Politik spielen eine besondere Rolle, um Extremismus friedlich zu bekämpfen, Meinungsfreiheit zu verteidigen und geschlossenen Weltbildern vorzubeugen. Und so wie wir Lehrer_innen täglich die Werte einer offenen Gesellschaft leben und die Verfassung schützen und verteidigen, so müssen auch wir vom Staat in unserer Berufsausübung geschützt und gewertschätzt werden. Egal ob in Frankreich, in Deutschland oder woanders auf der Welt: Schulen sind besonders wichtige Orte der gelebten Vielfalt und der Prävention gegen Radikalisierung, egal ob diese religiös, weltanschaulich oder politisch motiviert ist. Dafür stehen wir als Lehrende ein und denken dabei an unseren französischen Kollegen!

Nous sommes aussi des profs!

 

Dr. Christina Brüning ist Dozentin in der politischen Bildung an der Universität Potsdam. Sie ist Studienrätin für Geschichte/Politik und Englisch und bildet Lehramtsstudierende in Praxisphasen aus.

Dr. Bettina Deutsch ist Studienrätin für Französisch und Geschichte am Leibniz Gymnasium Berlin. Sie ist Referentin der Senatsverwaltung für die Förderung des Französischen in Berlin und Mentorin für Studierende mit den Fächern Französisch und Geschichte/Politische Bildung.