Irans Zivilgesellschaft diskutiert den Kurs: Kaum Hoffnung auf Wandel durch Wahlen

In der Vergangenheit sahen iranische Aktivist*innen die Beteiligung an Wahlen als Möglichkeit, auf Veränderungen zu drängen. Heute fragen sich viele, ob sie am 18. Juni überhaupt wählen gehen sollen. Irans Zivilgesellschaft sucht nach alternativen Wegen zum Wandel.

Bild: Sepehri Far

Tara Sepehri Far

 

 

Knapp drei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen schockte der Wächterrat, der über die Wahlzulassung der Kandidierenden entscheidet, die politische Elite und die Öffentlichkeit Irans. Neben vielen anderen schloss er auch zwei prominente Mitbewerber von der Kandidatur um das höchste Amt im Staat aus: Der ehemalige Parlamentspräsident Ali Laridschani und der Vizepräsident Eshagh Dschahangiri dürfen nicht antreten. Damit steigen die Chancen auf einen Wahlsieg Ebrahim Raissis, 1988 Mitglied eines vierköpfigen Ausschusses, der die Massenhinrichtung Tausender politischer Gefangener überwachte, und heute der Mann an der Spitze der Justiz.

Politisch engagierte Iraner*innen, die in der Vergangenheit trotz der Verfolgung friedlich Protestierender zur Teilnahme an den Wahlen mobilisiert hatten, sehen dies mit Skepsis und als Beweis, dass die herrschenden Autoritäten Irans – nicht zuletzt Revolutionsführer Ayatollah Ali Chamenei – bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen keinerlei politische Konkurrenz wünschen. Die Entscheidung des Wächterrats bringt diejenigen, die eine Beteiligung an Wahlen als Mittel zur Förderung politischer Reformen befürworten, in eine Zwickmühle.

Der Wächterrat wird nicht vom iranischen Volk gewählt. In den vergangenen 20 Jahren disqualifizierte er eine Vielzahl von Kandidierenden, die – und sei es nur entfernt – mit gemäßigten oder reformorientierten Gruppen sympathisierten oder im Wahlkampf die politische und soziale Repression der Behörden kritisierten. Ihre Debatten führen die Aktivist*innen der Zivilgesellschaft mittlerweile über die in Iran und der iranischen Diaspora populäre Social Media App Clubhouse. Dort diskutieren sie, ob es sinnvoll ist, für eine Wahlbeteiligung zu werben, damit sich im Land etwas ändert.

 

Gemischte Ergebnisse bei den jüngsten Wahlen

Per se sind Präsidentschaftswahlen in Iran weder frei noch fair. Dennoch waren ihre Ergebnisse in der Vergangenheit nicht vorbestimmt. Diskriminierende Verfassungsartikel verbieten Nichtmuslim*innen eine Kandidatur, und der Wächterrat nutzt seine sich ständig erweiternde Zuständigkeit für die „Genehmigung und Aufsicht“ von Kandidaturen, um diejenigen auszusieben, die der herrschenden Ideologie der „Statthalterschaft der Rechtsgelehrten“ gegenüber nicht ausreichend Loyalität erweisen. Ausgeschlossen worden sind nicht nur Oppositionelle, sondern auch ehemalige, hochrangige Beamte und sogar Ex-Präsidenten, darunter Ali Akbar Hashemi Rafsandschani, einer der einflussreichsten Politiker in den ersten 20 Jahren der Islamischen Republik.

1997 wurde mit Mohammad Chatami zum ersten Mal seit Gründung der Islamischen Republik ein Präsident gewählt, der sich im Wahlkampf für mehr politische Freiheiten stark gemacht hatte. Er besiegte damals den Kandidaten des Regimes Aliakbar Nategh Nouri. In der Ära Chatami gab es tatsächlich mehr Freiheiten für Politik und Medien, mehr Raum für die Zivilgesellschaft und bescheidene Versuche, nicht-gewählte Institutionen und Sicherheitsbehörden für den von ihnen verübten Missbrauch und ihre Gewalt zur Rechenschaft zu ziehen. Nach dem Ende seiner beiden Amtszeiten hatte Chatamis Wissenschaftsminister Mostafa Moeen zwar die Unterstützung einiger der wichtigsten Parteien der Reformer*innen und versprach, die Menschenrechte künftig besser zu achten, doch es gelang ihm nicht, seine Basis bei den nächsten Wahlen zur Stimmabgabe für seine Bewerbung um die Präsidentschaft zu motivieren. 2005 wurde Chatami von Mahmoud Ahmadinedschad abgelöst, der in seiner Amtszeit zahlreiche Maßnahmen Chatamis zur minimalen Ausweitung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit zurücknahm.

Seitdem galt eine aktive Wahlbeteiligung unter den Aktivist*innen in Iran – nicht zuletzt mit Verweis auf die Unterschiede zwischen den Präsidentschaften von Chatami und Ahmadinedschad – als Möglichkeit, den Wandel voranzutreiben oder die Wahl von Kandidaten zu verhindern, die weitere Restriktionen anstreben.

2009 kandidierten Ex-Premierminister Mir Hossein Mussawi und der frühere Parlamentspräsident Mehdi Karrubi gegen den von Chamenei unterstützten Ahmadinedschad. Sie initiierten damit eine breite Mobilisierung der Bevölkerung, die als Grüne Bewegung in die Geschichte einging. Beide Kandidaten griffen die Forderungen der Zivilgesellschaft nach mehr Freiheit in Politik und Gesellschaft auf. Die brutale Niederschlagung der Proteste nach der umstrittenen Wahl, bei der Ahmadinedschad zum Sieger erklärt wurde, führten zur Tötung von Protestierenden sowie Festnahme und Inhaftierung hunderter von Aktivist*innen. Den Kandidaten, die sich an die Spitze der Proteste setzten, brachten sie einen bis heute währenden Hausarrest ein.

2013 hieß der Wahlsieger Hassan Rohani, der in seiner Kampagne zwei zentrale Themen in den Mittelpunkt gestellt hatte: die Lockerung der internationalen Sanktionen, die Iran als Folge des Atomprogramms hinnehmen musste, und eine erneute Öffnung des politischen Raumes. In seinem Wahlkampf kritisierte er die politische Unterdrückung und versprach, sich für ein Ende der Hausarreste Mussawis und Karrubis einzusetzen. Zwischen 2013 und 2016 gab es tatsächlich deutlich weniger Fälle von aktiver Repression gegen Studierende und die Verteidiger*innen der Frauenrechte. Die Zivilgesellschaft konnte sich von den Folgen der Wahlen von 2009 erholen. Doch die Sicherheitsbehörden nahmen weiterhin zahlreiche Aktivist*innen sowie ausländische Bürger*innen oder Doppelstaatler*innen ins Visier.

Bei den Wahlen 2017 reizte Rohani schließlich die Grenzen aus. Er präsentierte sich als Alternative zu seinem Herausforderer Ebrahim Raissi, indem er dessen politische Vision als eine, „die in den vergangenen 38 Jahren nichts anderes als Exekutionen und Gefängnis gekannt hat“, beschrieb. Mit diesen starken Worten errang er im Wahlkampf die Unterstützung von Akteur*innen der Zivilgesellschaft, auch von den unter Hausarrest stehenden Anführern der Grünen Bewegung.

Vier Jahre später weist Präsident Rohanis Bilanz bei der Förderung ziviler und politischer Rechte nicht nur ein düsteres Defizit auf: Die seinem Innenministerium unterstehenden Kräfte sind in massive Menschenrechtsverletzungen verwickelt und beteiligt an der Niederschlagung landesweiter Proteste.

2021 kann Rohani nicht mehr zur Wiederwahl antreten, und die Iraner*innen leiden immer noch unter den schmerzlichen ökonomischen Folgen der erneut verhängten US-Sanktionen und der Repression jeglicher Kritik durch die mächtigen und für ihr Vorgehen nie zur Verantwortung gezogenen Sicherheitsbehörden.

Die Menschen werden das gnadenlose Vorgehen gegen die Demonstrationen im November 2019 nicht vergessen. Dies war die brutalste Unterdrückung von Protesten in der Geschichte der Islamischen Republik. Hunderte Menschen starben, erschossen von Sicherheitskräften, die für ihre Taten nie vor Gericht gestellt wurden. Angesichts dieser Erfahrung fragen sich viele, die bei der letzten Präsidentschaftswahl noch zur Stimmabgabe aufgerufen hatten, ob der Sieg Rohanis sie tatsächlich einer Änderung der Verhältnisse nähergebracht hat.

 

Auf der Suche nach dem Dritten Weg

Iranische Aktivist*innen im Land und in der Diaspora bleiben ganze Nächte wach oder gehen nicht zur Arbeit, um den aktuellen Debatten auf Clubhouse zu folgen. Und immer wieder stellt sich die gleiche Frage: Wie effizient ist der Protest per Stimmabgabe, wenn so wenige Kandidierende zur Wahl zugelassen werden, und diejenigen, die der willkürlichen Disqualifizierung durch den Wächterrat entgehen, die Forderungen des Volkes nach politischer Reform und Pluralismus nicht vertreten?

Obwohl es unwahrscheinlich war, dass der Wächterrat ihn zulässt, kündigte der ehemalige stellvertretende Innenminister und politische Gefangene Mostafa Tadschzadeh seine Kandidatur an. Er hofft so, die Diskussion über das „republikanische“ Element des postrevolutionären politischen Systems in Iran neu zu beleben. Unterstützer*innen versuchten auch, Zahra Shojai, Beraterin für Frauenfragen unter Präsident Chatami, zu ermutigen, sich ebenfalls zur Wahl zu stellen, obwohl der Wächterrat bislang noch nie eine weibliche Kandidatin zugelassen und eine eindeutige Aussage zur Frage, ob Frauen überhaupt Präsidentin werden können, bewusst vermieden hat.

Einige Aktivist*innen finden, es sei nun „genug“. Sie argumentieren, dass die traurige Bilanz der Islamischen Republik – insbesondere nach dem Ausschluss offen reformorientierter oder moderater Kandidierender – den Boykott unfairer Wahlen rechtfertige. In kleineren Gruppen werden die Vorteile einer Protestwahl beziehungsweise die Stimmabgabe für vom Establishment weniger favorisierte Kandidaten erörtert. In der bedrängten Zivilgesellschaft Irans herrscht – wenngleich nicht so prominent – auch die Ansicht, dass die Wählenden sich weigern sollten, binär zu denken, also entweder zur Beförderung des demokratischen Wandels wählen zu gehen oder aber das System, das an der eigenen Reform gescheitert ist, stürzen zu wollen.

Der bekannte und nach 2009 ebenfalls inhaftierte Soziologe Saeed Madani, beteiligte sich an mehreren Clubhouse-Debatten, in denen er ausführte, dass man sich auf den Aufbau einer von der Zivilgesellschaft unterstützten sozialen Bewegung konzentrieren müsse, um den Übergang in eine Demokratie zu schaffen. Andere Aktivist*innen erinnern, dass Strategien nicht nur als politische Kampagnen gedacht werden dürfen, sondern als Theorien der Veränderung, die nicht nur in Wahlzeiten Geltung haben.

Wenn die letzten Wahlen ein Indiz wären, könnte es in den nächsten drei Wochen auch noch zu Überraschungen kommen. Aktuell ist die Auswahl von Kandidaten, die sich den Iraner*innen bietet, jedoch mit die geringste, die es bei Präsidentschaftswahlen in der Islamischen Republik je gab. Die Zivilgesellschaft sucht nach alternativen Wegen zur Veränderung.

 

 

Tara Sepehri Far ist Iranexpertin bei Human Rights Watch.

On Twitter: @sepehrifar

 

 

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