Rozhina Hadi:
Es ist Mitte Mai 2020 und die Corona-Situation hat uns alle sehr stark betroffen.
Meine Schwester bekommt viele Hausaufgaben und soll so den neuen Stoff in allen Fächern lernen und durcharbeiten. Sie ist zwar eine der besten in der Schule und trotzdem ist es für sie nahezu unmöglich, ohne eine ausgebildete Lehrkraft die neuen Themen zu lernen. Meine Mutter kann ihr nämlich nicht viel helfen, zum einen, weil sie keine Zeit mehr hat, da sie selbst nicht nur auch neuen Stoff für ihre Ausbildung lernen soll, sondern auch die Aufgaben einer alleinerziehenden Mutter erledigt, wie das Einkaufen, Hausarbeiten usw. Außerdem bereitet ihr die Sprache ein Problem. Ich selbst versuche ihr so oft wie möglich zu helfen, habe aber auch nicht so viel Zeit, da ich für mein Abitur lernen soll.
Für meine Schwester ist es außerdem zuhause sehr langweilig. Sie kann weder zu ihrem Sportverein, noch mit ihren Freunden spielen oder anderen sozialen Aktivitäten nachgehen. Für sie bleibt nur, mit dem Tablet zu spielen oder Fernsehen zu gucken, was nicht nur schlecht für ihre Augen ist, sondern auch psychische Auswirkungen haben kann. Die einzige Abwechslung sind für meine Schwester die neuen Schulaufgaben.
Meine größte Sorge persönlich ist zurzeit aber nicht Corona, sondern das Abitur. Zu Beginn der Corona-Ferien war nicht klar, ob und wie die Prüfungen geschrieben werden, sodass viele von uns davon ausgingen, dass wegen der hohen Infektionszahlen und zum Schutz der Risikoschüler_innen, -lehrer_innen und –eltern die Abiturprüfungen ausfallen würden. Somit habe ich zum Beispiel aufgrund unklarer Aussagen viel Zeit vergeudet. Aber das war das kleinste Problem. Ein anderes Problem ist, dass wir ausschließlich zuhause sind. Unsere Wohnung kann uns nicht viel Platz bieten und wir haben auch keinen Balkon, um kurz ein bisschen frische Luft zu kriegen. Da nicht jeder um die gleiche Zeit aufwacht oder lernt, führt es dazu, dass wir einander stören.
In den normalen Zeiten wäre ich zum Lernen zum Beispiel zur Bibliothek gegangen. So kann ich mich zuhause kaum konzentrieren und sogar das Lernen bereitet mir Stress. Doch der Stress bei der Entscheidung, ob ich an den Abiturvorbereitungen teilnehmen sollte, und meine Gesundheit, die meiner Familie und denen, die ich unterstütze, durch Erhöhung der Kontaktpersonen gefährden sollte, oder ob ich einen Nachteil im Hinblick auf die Abiturprüfungen in Kauf nehmen sollte, war viel größer. Normalerweise hätten wir, meine Mitschüler_innen und ich, in Gruppen gelernt und einander nach Lösungen oder Erklärungen gefragt. Das fehlt jetzt. Online kann man einiges machen, aber man bekommt nie das Gruppengefühl. Außerdem sind die Prüfungen eine andere große psychische Last zu unseren anderen Sorgen, wie: ob unsere Pläne für die Zukunft in Erfüllung gehen oder ob es unseren Geliebten, unseren Großeltern, gut geht.
Zu der ganzen Sache möchte ich noch hinzufügen, dass meine Familie in dieser Zeit im Vergleich Vieles ertragen und durchmachen musste. Wir leben in einer kleinen Wohnung in Quarantäne, meine Schwester und ich können nicht die Unterstützung beim Lernen von unserer Mutter bekommen, wir können nicht einmal genug Desinfektionsmittel kaufen, weil es so teuer ist. Es mag sein, dass viele Kinder in dieser Situation in ihren ruhigen Zimmern mehr und sogar besser lernen können, aber so geht es uns nicht!
So stimme ich Prof. Dr. Talja Blokland zu. Wenn ich die Situation meiner Familie beobachte, würde ich sagen, dass wir trotz unserer beschränkten Mittel und Materialien Glück haben, dass wir einander bei der schulischen Herausforderung zurzeit helfen können. Aber es gibt viele Familien, wo dies massive Abdrücke auch Jahre nach der Krise hinterlassen kann. Kinder verlieren ihre Lust am Lernen, wenn es keine Erklärungen oder Hilfe gibt, wenn die Umgebung stressig ist, wenn sie psychisch unter Druck stehen oder wenn es keine Abwechslungen in ihrem Alter gibt. Nicht alle Eltern können Mathe-Aufgaben der sechsten Klasse lösen und erklären!
Nicht jede Familie hat ein großes Haus und einen Garten. Die gelangweilten Kinder haben dann keine andere Optionen als fernzusehen, auf YouTube oder TikTok Videos zu gucken oder Playstation zu spielen. So sehen sie auch Sachen, die sie in ihrem Alter nicht sehen sollten, spielen Spiele, die nicht für sie angemessen sind, und im schlimmsten Fall können sie sogar danach süchtig werden. Währenddessen können die privilegierten Kinder in ihrem Garten Sport treiben, mit ihren Eltern ihre Aufgaben lösen und können sogar mehr als nötig lernen oder ein neues Lied mit ihren Instrumenten zuhause üben. So gehen die Teile der Gesellschaft so wie eine Schere auseinander, obwohl sie zusammenhalten sollten. Wenn wir einander mehr helfen und zum Beispiel den anderen Kindern aus der Klasse eine telefonische Erklärungszeit anbieten, helfen wir der Zukunft unserer Kleinen!
Rozhina Hadi ist Abiturientin und ist vor ca. 4,5 Jahren mit ihrer Schwester und ihrer Mutter nach Deutschland geflüchtet. Rozhinas Schwester besucht die 3. Klasse und ihre Mutter macht zurzeit eine Ausbildung. Die Familie lebt in Hagen (Nordrhein-Westfalen).