Die deutsche Zeitenwende bleibt in Israel noch unbemerkt

Obwohl Deutschland und Israel eine enge Partnerschaft pflegen, wird die deutsche Zeitenwende dort bisher nicht wahrgenommen. Dr. Nimrod Goren skizziert eine deutsch-israelische Partnerschaft orientiert an Demokratie und Frieden.

 

Der Text steht hier auch im englischen Original zur Verfügung.

 

Vor einem Jahr, im Februar 2022, reagierte Bundeskanzler Scholz mit einer Grundsatzerklärung im Bundestag auf die russische Invasion in der Ukraine. Er sprach von einer Zäsur, bei der Deutschland auf der richtigen Seite der Geschichte stehen müsse, und formulierte neue Eckpunkte der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik. In Deutschland wurde dieser Schritt als Zeitenwende und wichtige Weichenstellung wahrgenommen. In Israel hingegen blieb er weitgehend unbemerkt.

 

Deutschland ist nach den Vereinigten Staaten Israels zweitwichtigster Verbündeter in der Welt und engagiert sich für die Sicherheit und das Wohlergehen Israels und für eine Zwei-Staaten-Lösung im israelisch-palästinensischen Konflikt. Als der damalige Ministerpräsident Lapid im September 2022 Scholz in Berlin besuchte, versicherte der Bundeskanzler, dass Deutschland „immer an der Seite Israels stehen“ werde und „Deutschland und Israel engste Verbündete, strategische Partner und Freunde“ seien. Scholz bekräftigte diese Botschaft, als er Netanjahu zu seinem Wahlsieg im November 2022 gratulierte. In diesem Telefongespräch betonte Scholz einmal mehr, dass „Deutschland ein enger Partner an der Seite Israels bleiben und sich weiterhin für den Frieden im Nahen Osten einsetzen“ werde.

 

Wenn ein so wichtiger Partner Israels an einem entscheidenden Wendepunkt steht, sollte man meinen, dass das nicht ohne Folgen bleiben wird – zumal in einer Zeit, in der unter Netanjahus neuer Regierung auch Israel sich im Umbruch befindet und sich von der Demokratie und vom Frieden immer weiter entfernt. Tatsächlich aber bleibt beinahe alles beim Alten.

 

Deutschlands Israel-Politik steht im Zeichen der Kontinuität

 

Die deutsche Politik in Zusammenhang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt stand im vergangenen Jahr im Zeichen der Kontinuität. Seit Scholz' Rede gab es keinen Paradigmenwechsel. Deutschland befürwortet weiterhin die Zwei-Staaten-Lösung und verurteilt gelegentlich negative Entwicklungen vor Ort – wie Terroranschläge, Provokationen in Jerusalem oder (zusammen mit anderen gleichgesinnten Staaten) die expansive Siedlungspolitik. In den Vereinten Nationen steht Deutschland bei Themen wie dem Internationalen Gerichtshof an der Seite Israels und gehört zusammen mit Frankreich, Ägypten und Jordanien der diskret agierenden Münchner Gruppe an – einem informellen Zusammenschluss, der die Option einer Zwei-Staaten-Lösung offenhalten möchte.

 

Angesichts einer möglichen israelisch-palästinensischen Eskalation und der Zusammensetzung und der Politik der jetzigen israelischen Regierung könnte Deutschland sein Vorgehen überdenken und – ganz im Sinne von Scholz‘ neuem Kurs – versuchen, aktiver zu werden und mehr Einfluss zu gewinnen. Mit Blick auf die heikle Überschneidung von Ramadan und Pessach im kommenden April könnte es sich an den Deeskalationsbemühungen beteiligen. Es könnte die Münchener Gruppe als Plattform für die Ausarbeitung eines neuen multilateralen Verfahrens nutzen, das sich anstelle des praktisch nicht mehr existierenden Nahost-Quartetts mit der israelisch-palästinensischen Frage befasst. Auch könnte es sich deutlicher gegen Aktionen von israelischer oder palästinensischer Seite aussprechen, die zu noch mehr Gewalt führen und den Frieden in noch weitere Ferne rücken lassen, und es könnte – wie kürzlich die USA – mehr dafür tun, dass es auf zivilgesellschaftlicher Ebene mehr konstruktiven Austausch zwischen der israelischen und der palästinensischen Seite gibt.


Scholz’ Ziel ist neben der friedlichen Lösung von Konflikten der Schutz der Demokratie und der Freiheitsrechte. Dies kam in seiner Rede im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine zur Sprache, ist aber auch für die innenpolitische Situation in Israel höchst relevant. Netanjahus Regierung bringt gerade ein Gesetz auf den Weg, das – sollte es verabschiedet werden – vieles grundsätzlich verändern und die israelische Demokratie erschüttern wird. Israelis aus allen Gesellschaftsschichten wehren sich dagegen und treten für die Demokratie ein. Sie bitten Israels westliche Verbündete um Rückendeckung und Unterstützung. Präsident Biden und seine Regierung kritisieren Netanjahus Gesetzesreformen immer schärfer und machen deutlich, dass eine Fortführung der Reformen den bilateralen Beziehungen und den Interessen Israels schaden werde. Berichten zufolge hat auch Präsident Macron sich bei seinem jüngsten Treffen mit Netanjahu in Paris sehr besorgt zu dem Thema geäußert.

 

Deutschland sollte sich für demokratische Rechte starkmachen

 

Deutschland hat bislang noch nicht öffentlich dazu Stellung genommen, dass in Israel die Demokratie ausgehöhlt wird. Auch zu den Gesetzesreformen und sogar zu der Gesetzesinitiative, die eine massive Besteuerung von Zuwendungen deutscher politischer Stiftungen für israelische Empfänger vorsieht, schweigt Deutschland bisher. Bundeskanzlerin Merkel setzte in ihrer Amtszeit Netanjahu unter Druck, um einen Gesetzentwurf zu stoppen, der sich gegen Nichtregierungsorganisationen richtete. Scholz sollte dasselbe tun. Leider ist die deutsche Regierung offenbar noch damit beschäftigt, ihren politischen Kurs gegenüber der neuen israelischen Regierung im Detail festzulegen. Während in Berlin noch an der Kursbestimmung gearbeitet wird, ändern sich die Gegebenheiten vor Ort in Jerusalem rasant. Die pro-demokratischen Israelis geben generell viel auf die Freundschaft mit Deutschland und sehen es als Garant für liberale Werte. Sie erwarten von Berlin, dass es sich für sie einsetzt und ihnen den Rücken stärkt. Bislang hat der deutsche Botschafter in Israel aber lediglich einen rechten Knesset-Abgeordneten kritisiert, der behauptet hatte, die pro-demokratischen Proteste würden mit deutschen und iranischen Geldern finanziert. Das reicht nicht. Was es braucht, ist unter anderem die Entscheidung, sich nicht mit den rechtsextremen Mitgliedern der derzeitigen israelischen Regierung einzulassen.

 

Der Kurs von Scholz weist in die Richtung einer zunehmenden Militarisierung und Versicherheitlichung. Einige in Israel würden es gerne sehen, wenn dem auch Taten folgen würden. Sie erwarten von Deutschland einen proaktiveren Umgang mit sicherheitspolitischen Herausforderungen, die auch Israel bedrohen – beispielsweise mit Blick auf den Iran. Sie wünschen sich, dass Deutschland die israelische Terrorbekämpfung stärker unterstützt, und sehen im Bereich der Cybersicherheit und der militärischen Beziehungen Chancen für eine intensivere Zusammenarbeit. Und sie hoffen, dass Deutschland seinen Einfluss im Nahen Osten verstärkt zu Israels Gunsten geltend machen wird in einer Zeit, in der die USA ihren Fokus womöglich auf andere Regionen verlagern. Sollten diese Aspekte in der Zukunft der deutsch-israelischen Beziehungen eine größere Rolle spielen, dürfen sie jedoch nicht Deutschlands traditionelle Mehrwerte in Sachen Diplomatie, Zivilgesellschaft, Konfliktlösung, Multilateralismus und liberale Demokratie in den Hintergrund drängen.

 

In einer Zeit, in der Israel selbst vor einer möglichen „Zeitenwende“ steht – die allerdings keine Wendung zum Guten wäre –, wäre eine engagiertere und effektivere deutsche Außenpolitik wohl ein Gewinn für all diejenigen, die sich in Israel für den Frieden und den Schutz der Demokratie starkmachen. Wenn dies geschieht, wird Scholz' neuer Kurs in Israel nicht mehr unbemerkt bleiben, sondern Beifall finden und dafür sorgen, dass Deutschland auf der richtigen Seite der israelischen Geschichte steht.

 

Aus dem Englischen von Christine Hardung.

 

Dr. Nimrod Goren ist Vorsitzender von Mitvim, dem israelischen Institut für Regionale Außenpolitik, sowie Senior Fellow für Israelische Angelegenheiten am Middle East Institute und Mitbegründer von Diplomeds - The Council for Mediterranean Diplomacy.

 

Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen des Gastautors spiegelt nicht die Haltung der Redaktion oder der Friedrich-Ebert-Stiftung wieder.

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