Hans-Jochen Vogel ist am Sonntag, den 26. Juli 2020 im Alter von 94 Jahren gestorben. In vielerlei Ämtern und Funktionen, vor allem als Oberbürgermeister von München, Bundesjustizminister, Oppositionsführer im Deutschen Bundestag und als SPD-Parteivorsitzender, hat er die Geschichte und die politische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland wie auch der Sozialdemokratie entscheidend mitgestaltet und nachhaltig geprägt.
Herkunft, Kriegserfahrung, sozialdemokratisches Engagement in der jungen Bundesrepublik
Hans-Jochen Vogel wurde 1926 als erster Sohn einer bürgerlichen Beamtenfamilie – sechs Jahre vor seinem Bruder Bernhard – in Göttingen geboren, hinein in das Ende der Weimarer Republik. Während und nach seiner Schulzeit auf einem humanistischen Gymnasium erlebte er Ideologie und Kriegsmaschinerie des Dritten Reichs am eigenen Leib, von der Hitlerjugend bis zum Fronteinsatz.
Bereits sein Jurastudium ergriff er aus innerem Verantwortungsgefühl und aus der Erkenntnis heraus, dass es längst nicht genüge, das eigene Wohlergehen abzusichern, sondern dass die junge Generation sich für das Gemeinwesen zu engagieren und sich am Wiederaufbau demokratischer Strukturen zu beteiligen habe. Auch deshalb wurde er 1950 Mitglied der SPD, beeindruckt von ihrer Geschichte und ihrem Eintreten für soziale Gerechtigkeit.
Vom "Karajan der Kommunalpolitik" zum Bundesminister der Justiz
Auf seine Promotion 1950 zum Dr. jur. folgten mehrere Stationen im bayerischen Staatsdienst; parallel stieg Vogel rasch in der Münchener SPD auf. 1960 wurde er Oberbürgermeister von München und blieb es genau 4444 Tage lang. Enorm populär und u.a. als "Karajan der Kommunalpolitik" gefeiert, bereitete er seine Stadt auf die Olympischen Sommerspiele 1972 vor und setzte Meilensteine auf Münchens Weg zu einer modernen Metropole.
Harte innerparteiliche Auseinandersetzungen zwischen den SPD-Flügeln in München brachten ihn von der Kandidatur zu einer dritten Amtszeit ab, so dass er 1972 den Rückzug in den Anwaltsberuf erwog, aber u.a. von Willy Brandt gewarnt wurde, diesen Schritt werde er sich bald als Flucht aus der Verantwortung nicht verzeihen. So übernahm Vogel bis 1977 den Landesvorsitz der SPD Bayern und wechselte zugleich auf die Bundesebene.
Bereits seit 1970 Mitglied im SPD-Parteivorstand, gehörte er ab 1972 nach Karl Schillers Abgang auch dem SPD-Präsidium an. Im Zuge der "Willy-Wahl" in den Deutschen Bundestag gewählt, trat Vogel sogleich als Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ins Kabinett ein und wechselte 1974 auf Wunsch des neuen Bundeskanzlers Helmut Schmidt ins Justizressort. In diesem Amt stieß er wichtige Reformprojekte an u.a. im Schwangerschaftsrecht, Ehe- und Scheidungsrecht und Umweltstrafrecht. Er war zudem an allen existenziellen Entscheidungen der Regierung maßgeblich beteiligt, als es galt, die Terrorserie der Roten Armee Fraktion im "Deutschen Herbst" 1977 abzuwehren und die bundesdeutsche Rechtsordnung zu verteidigen.
Verantwortung in schwierigen Zeiten
1981 folgte Vogel einem Hilferuf aus Berlin, um dort in äußerst schwierigen Zeiten das Amt des Regierenden Bürgermeisters zu übernehmen und einen bemerkenswert fairen Wahlkampf gegen Richard von Weizsäcker zu führen. Ging die Wahl auch verloren, so blieb Vogel Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin, brachte die Fraktion als ihr Vorsitzender wieder in ruhiges Fahrwasser und unterhielt wie zuvor bereits in München ein Bürgerbüro, in dem bis 1994 tausende Bürgerinnen und Bürger Beratung und praktische Hilfe erfuhren.
Nach dem im Oktober 1982 erfolgten Regierungswechsel in Bonn ließ Vogel sich erneut in eher aussichtslos erscheinender Lage in die Pflicht nehmen. Er trat bei den vorgezogenen Bundestagswahlen 1983 als Kanzlerkandidat an und übernahm nach einem überaus respektablen Ergebnis – in der Nachfolge von Herbert Wehner und als parlamentarischer Gegenspieler von Bundeskanzler Helmut Kohl – den Vorsitz der SPD-Bundestagsfraktion. Diese galt es in der Opposition wiederaufzurichten und in wichtigen Fragen u.a. eines neuen Grundsatzprogramms und der stärkeren Beteiligung der Frauen an Funktionen und Mandaten der Partei sowie nicht zuletzt im deutschen Einheitsprozess zusammenzuhalten.
Da er 1987 von Willy Brandt den SPD-Parteivorsitz übernommen hatte, wurde Vogel nach der Vereinigung von Sozialdemokraten aus Ost und West erster gesamtdeutscher Vorsitzender der SPD, bis er 1991 den Generationswechsel einleitete; dem Deutschen Bundestag gehörte er bis 1994 an.
Präsent und engagiert auch nach der aktiven Politik
Nach seinem Rückzug aus der aktiven Politik erhielt Vogel sein hohes Engagement für gesellschaftspolitische Fragen aufrecht und betätigte sich neben Funktionen etwa in der Unabhängigen Zuwanderungskommission und im Nationalen Ethikrat auch als Gründungsvorsitzender des überparteilichen Vereins "Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V." und in Kuratorien für mehrere Gedenkstätten und Dokumentationszentren, um die Erinnerung an die Verbrechen und Opfer der NS-Gewaltherrschaft wachzuhalten – Erinnerung, die stets zugleich in die Zukunft weist.
Mit seiner hohen, legendären Arbeitsdisziplin hat sich Hans-Jochen Vogels klare und konsequente Haltung stets an der Werteordnung des Grundgesetzes orientiert: Die Menschenwürde und die Grundwerte der Gerechtigkeit, der Freiheit und der Solidarität waren ihm ebenso wie seine christliche Grundüberzeugung feste Maßstäbe.
Auch wenn ihn die Einschränkungen seiner körperlichen Fähigkeiten zunehmend beschwerten, empfand Hans-Jochen Vogel sein hohes Alter dem eigenen Bekunden zufolge nicht als Last, sondern als Gnade, die ihm genau das erlaubte, was ihm Herbert Wehner 1981 einst auf einen seitdem stets in Ehren gehaltenen Zettel schrieb: "Trotz alledem: Weiterarbeiten und nicht verzweifeln!"
Bis in das Jahr 2020 hinein zeigte er sich im politischen und gesellschaftlichen Diskurs präsent. Seine zuletzt publizierte Denkschrift "Mehr Gerechtigkeit! Wir brauchen eine neue Bodenordnung – nur dann wird auch Wohnen wieder bezahlbar" verhalf dem Problem einer jahrzehntelang vernachlässigten Bodenrechtsreform zu neuer Aufmerksamkeit und ist eines seiner zahlreichen Vermächtnisse.
Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren
Hans-Jochen Vogel war der Friedrich-Ebert-Stiftung auf vielfältige Weise verbunden: Seit 1970 war er Mitglied ihres Kuratoriums und hat unzählige Veranstaltungen durch seine Teilnahme bereichert. Von seinem publizistischen Werk zeugt eine große, von der Bibliothek der FES gepflegte Bibliographie. Sein Nachlass wird im Archiv der sozialen Demokratie verwahrt.
Wir sind in Gedanken bei Hans-Jochen Vogels Familie und werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren.