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Maximilian Steinbeis: Die verwundbare Demokratie

Strategien gegen die populistische Übernahme. München: Hanser (2024)

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Kurzgefasst und eingeordnet von Hanna Fath.
Hanna Fath hat Politikwissenschaften, Soziologie und Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn studiert. Sie ist Stipendiatin des Instituts zur Förderung publizistischen Nachwuchses in München und arbeitet derzeit als freie Journalistin.


buch|essenz

Kernaussagen

Der Autoritarismus bemächtigt sich der Institutionen der liberalen Demokratie von innen heraus: Er durchdringt und besetzt sie sukzessive, um sie schließlich gegen sich selbst zu richten. Sein Mittel ist der Populismus. Das Narrativ: Ein moralisch reines, homogenes Volk steht unmoralischen, korrupten Eliten gegenüber. Es ist entscheidend, die Strategie des autoritären Populismus zu erkennen und sich auf die nächsten Schritte vorzubereiten. Nur wer den Möglichkeitsraum demokratischer Verfassungen überblickt, wird Formen des Protests und des Widerstands finden. Sich damit zu befassen, ist wichtig – nicht nur für Rechtswissenschaft und Politik sowie für die Entscheidungsträger_innen vor Ort, sondern für die Gesellschaft insgesamt.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Mit Blick auf die Vorgänge in Polen und Ungarn liegt die Frage nahe: Was würde ein weiter steigender Einfluss autoritär-populistischer Kräfte oder sogar deren Machtübernahme in Deutschland bedeuten? Eine autoritär-populistische Regierungsmehrheit oder auch ‚nur‘ eine autoritär-populistische Sperrminorität erscheinen auf Bundesebene momentan zwar noch unwahrscheinlich; auf Landesebene gilt dies jedoch nicht. Steinbeis erläutert dieses Szenario und schildert, wie man die Demokratie und den Rechtsstaat präventiv resilienter machen kann. Das Buch sollte von der Sozialen Demokratie als Appell gelesen werden, sich dem autoritären Populismus auf allen Ebenen entgegenzustellen. Die Bundesregierung ist angehalten, die Verfassung resilienter zu machen. Der Hebel hierfür muss allerdings ein politischer sein, der Impuls muss also von den Wähler_innen ausgehen.


buch|autor

Maximilian Steinbeis, Jahrgang 1970, studierte Jura und arbeitete zunächst als Redakteur für das Handelsblatt. Daneben veröffentlichte er auch literarische Texte. Seit 2009 betreibt er den Verfassungsblog, auf dem internationale Autor_innen wissenschaftliche Fragen im Grenzbereich von Politik und Recht diskutieren. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher Mit Rechten reden. Ein Leitfaden (mit Per Leo und Daniel-Pascal Zorn, 2017) und Die Zauberlehrlinge. Der Streit um die Flüchtlingspolitikundder Mythos vom Rechtsbruch (mit Stephan Detjen, 2019).


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buch|inhalt

Noch vor Kurzem erschien eine autoritäre Herrschaft im Herzen Europas als Relikt aus dem 20. Jahrhundert. Seit der Mitte des vergangenen Jahrzehnts ist allerdings eine Rückkehr des Autoritarismus zu beobachten. Terrain gewinnt er dabei jedoch nicht durch Militärputsche, Staatsstreiche oder gefälschte Wahlen, sondern indem die Demokratie von innen heraus durchdrungen und ausgehöhlt wird.

Die Verfassung setzt dieser Strategie Grenzen. Soweit sie und die durch sie begründeten Institutionen dem autoritären Populismus in die Quere kommen, werden sie für ihn zum Problem. Dementsprechend wird die Verfassung umgebaut und ihre Institutionen werden mit loyalen Gefolgsleuten besetzt, während politische Gegner_innen und Minderheiten drangsaliert werden.

Der autoritäre Populismus ist ein globales Phänomen. Die meisten Demokratien sind in der ein oder anderen Form von ihm befallen. In Deutschland gab es autoritär-populistische Regierungsmehrheiten bisher zwar weder auf Landes- noch auf Bundesebene. Aber die autoritär-populistische Strategie ist bereits jetzt erkennbar. Sie entfaltet ihre destruktive Wirkung aus der Opposition heraus, und zwar auf eine sich selbst verstärkende Weise: Mit wachsenden Stimmenanteilen bekommt der autoritäre Populismus immer mehr Beteiligungs- und Verfahrensrechte und damit immer mächtigere Möglichkeiten, der Erzählung von der Korruptheit des Systems und der herrschenden Elite Plausibilität zu verleihen und so seinen Herrschaftsanspruch zu untermauern. Dazu kommt: Je größer der Wahlerfolg der autoritären Populisten, desto mehr wächst bei ihrer demokratischen Konkurrenz die Versuchung, sich ihnen anzunähern.

Die Maßnahmen der autoritär-populistischen Strategie werden dabei nicht alle auf einen Schlag, sondern graduell zum Einsatz gebracht. Man testet, womit man durchkommt und womit nicht, und wo immer man auf zu viel Widerstand stößt, passt man die Maßnahmen entsprechend an und täuscht dadurch Kompromiss- und Gesprächsbereitschaft vor. So werden die Institutionen allmählich übernommen. Parallel dazu wird der öffentliche Raum immer kleiner. Das Versammlungsrecht, die Freiheit von Kunst, Forschung und Lehre sowie die Presse- und Rundfunkfreiheit werden sukzessive eingeschränkt.

Diesen Verlauf illustriert Steinbeis an einem hypothetischen Szenario, in dem in Thüringen mit der AfD eine autoritär-populistische Partei die Wahl gewinnt.

Vor der Regierung

In der Opposition nutzen die autoritär-populistischen Kräfte das Mittel der Obstruktion, um das Parlament zu behindern und zu blockieren. Dazu gehört beispielsweise der exzessive Gebrauch der Kleinen Anfrage, einem Instrument, das der parlamentarischen Kontrolle dient. Die Möglichkeiten der Obstruktion potenzieren sich, wenn die autoritär-populistische Fraktion mehr als ein Drittel der Sitze im Landtag hat. Denn dann verfügt sie über eine Sperrminorität und kann alle Entscheidungen blockieren, die mit einer Zweidrittelmehrheit gefällt werden müssten. Zu diesen Entscheidungen zählt der in diesem Kontext besonders wichtige Beschluss des Landtags, eine Verfassungsänderung in Kraft zu setzen. Aber auch die Wahl der Richter_innen etwa am Thüringer Verfassungsgerichtshof bedarf einer Zweidrittelmehrheit im Landtag. Wenn die autoritären Populisten mit ihrer Blockade erzwingen, dass eine oder mehrere von ihnen nominierte Personen in das Verfassungsgericht gewählt werden, kann im Landesverfassungsgericht ein „Systemsprenger“ platziert werden, also eine Person, die die Obstruktion in das Gericht selbst hineinträgt. Dieser Störenfried muss durch Regeldurchsetzung diszipliniert und majorisiert werden. Das verändert das Gericht. Es wird zu einem Ort, an dem sich die Mehrheit gegen die Minderheit durchsetzt. Es wird damit, jedenfalls dem Anschein nach, genau das, was der autoritäre Populismus die ganze Zeit behauptet: politisch.

An der Regierung

Die Handlungsspielräume und damit auch die möglichen Missbrauchsgefahren einer autoritär-populistischen Regierung reichen von der Einsetzung und Beförderung von Richter_innen bzw. Gerichtspräsident_innen bis hin zur Verbeamtung von der Partei nahestehenden Personen auf hohen Ministeriumsposten. Durch letztere Maßnahme kann insbesondere der Vollzug von Bundesgesetzen auf Landesebene sabotiert werden.

Was passiert, wenn staatliche Exekutivgewalt in autoritär-populistische Hände fällt? Angenommen, an der Spitze des Thüringer Innenministeriums stünde eine autoritäre Populistin. Sie könnte Änderungen am Thüringer Polizeigesetz vornehmen oder Ämter wie Polizeipräsident_in oder Verfassungsschutzpräsident_in neu besetzen. Unter einer autoritär-populistischen Polizeipräsidentin könnten die Prioritäten innerhalb der Polizei neu gesetzt werden. So ließe sich ein Klima schaffen, das die autoritär-populistische Erzählung vom ‚wahren‘ Volk und seinen Feinden reproduziert. Mit Razzien, Überwachung oder Kontensperrungen mitsamt den damit verbundenen Stigmatisierungen ließe sich zudem der Preis für regierungskritisches Engagement spürbar in die Höhe treiben.

Volksidentität

Der autoritäre Populismus konstruiert die Identität des ‚wahren‘, homogenen Volks in Abgrenzung von den abgehobenen, kosmopolitischen Eliten. Was dieses Volk will, ist dem autoritären Populismus bereits bekannt. Daher dienen Verfahren wie Wahlen und Abstimmungen nach seinem Verständnis nicht dem Zweck, den kollektiven Willen zu bestimmen, sondern dazu, ihn zu affirmieren. Dementsprechend sind Plebiszite und Volksbefragungen die Mittel der Wahl autoritärer Populist_innen.

Je gewisser man sich dieser Identität des vermeintlich ‚wahren‘ Volkes zu sein glaubt, desto mehr löst jede Abweichung Panik aus. Die Gegenwart von allem, das anders ist und nicht ins Bild passt wird dann zu einem politischen Problem, gegen das man vorgehen muss – Migrant_innen, Minderheiten und Normabweichende, aber auch unbequeme Wahrheiten. Die Gewalt, die ein autoritäres Regime dabei gegenüber den ihm Unterworfenen ausüben kann, trifft nicht alle gleichermaßen. Diejenigen, die nicht zum ‚wahren‘ Volk gehören, trifft es früher, direkter und härter. Doch auch Wissenschaft, Medien und Kultur werden für den autoritären Populismus zu Feinden. Denn er hat ein strategisches Desinteresse an der Wahrheit. Fake News, Verschwörungstheorien und Lügen sind für ihn kennzeichnend. Dementsprechend nimmt er auch Einfluss auf die Rundfunk-, Medien-, Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik.

Gegenstrategien

Bei offensichtlichen Rechtsbrüchen durch Exekutivbehörden, etwa bei einem verweigerten Verwaltungsakt, kann das Verwaltungsgericht angerufen werden. Aber was passiert, wenn sich eine autoritär-populistische Regierung den Entscheidungen der Verwaltungsgerichte nicht fügt? Ein Land, das Gerichtsurteile systematisch und dauerhaft nicht mehr umsetzt, handelt nicht nur rechtswidrig, es hört auf, ein Rechtsstaat zu sein. Wenn in der Praxis autoritär regiert wird, dann ist der Bund in der Pflicht, dagegen etwas zu tun. Zu diesem Zweck kann die Bundesregierung zwar nicht die gesamte Landesregierung oder einzelne Minister_innen absetzen. Sie kann jedoch Beauftragte für Untersuchungen an die obersten Landesbehörden schicken. Kommen diese zu dem Ergebnis, dass rechtswidrig gehandelt wird, kann die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats zum sogenannten Bundeszwang greifen. Dieses Instrument gibt der Bundesregierung das Recht, den Vollzug eines Bundesgesetzes durch ein Bundesland zwangsweise durchzusetzen. Sie kann Bundesländer aber auch wirtschaftlich unter Druck setzen, etwa finanzielle Zuwendungen zurückhalten, und falls nötig die Landespolizei unter ihren Befehl stellen bzw. die Bundespolizei und die Polizei anderer Bundesländer einsetzen.

Steinbeis erläutert aber auch eine Reihe präventiver Maßnahmen, die genutzt werden können, damit die Situation erst gar nicht derart eskaliert. So ließe sich beispielsweise neben der Wahl der Verfassungsrichter_innen auf Landesebene auch die Kündigung von Medienstaatsverträgen durch die Ministerpräsident_innen transparenter gestalten, die Position der Landeszentrale für politische Bildung besser absichern, die Kaperung von Polizei und Verfassungsschutz erschweren und die Möglichkeit manipulativer Volksbefragungen ausschließen.

Sich allein auf die Optimierung der Verfassungsinstitutionen zu verlassen, wäre allerdings fatal. Keine noch so genial konstruierte Verfassung kann allen denkbaren Bedrohungsszenarien vorbeugen. Grundsätzlich können alle Institutionen missbraucht werden, auch solche, die eigens geschaffen wurden, um Verfassungsmissbrauch zu verhindern. Da man Verfassungsmissbrauch also nicht ausschließen kann, ist die beste Strategie, sich auf ihn vorzubereiten. Steinbeis appelliert in diesem Kontext an Amts-, Mandats- und Funktionsträger_innen, auf deren Entscheidungen es im Fall des Falles ankommen wird, aber auch an die in all diesen Szenarien entscheidende Zivilgesellschaft: also an Bürger_innen, die ihre Verantwortung nicht an Staat und Rechtssystem auslagern, sondern mit ihren Rechten, Handlungsspielräumen und Netzwerken Position beziehen. Steinbeis’ Fazit: Die Verfassung wird uns nicht vor dem autoritären Populismus schützen können – umgekehrt vielleicht schon.


buch|votum

Steinbeis schärft mit seinem Buch das Bewusstsein für die Bedrohungen, denen die freie Gesellschaft durch den autoritären Populismus ausgesetzt ist, zeigt aber auch Lösungen auf. Trotz der Komplexität der Themen stellt er mithilfe vieler Beispiele aus Ländern wie Polen oder Ungarn, aber auch aus der jüngeren Geschichte Deutschlands Szenarien und Lösungsstrategien verständlich und klar dar. Nicht nur Jurist_innen ist die Lektüre zu empfehlen. Denn bei der Stärkung der rechtsstaatlichen Resilienz sind letztlich alle gefragt – dies wird durch den Appellcharakter des Buchs deutlich.

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Verlag: Carl Hanser Verlag
Erschienen: 22.07.2024
Seiten: 304
ISBN: 978-3-446-28129-5

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