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Hans Rusinek: Work-Survive-Balance

Warum die Zukunft der Arbeit die Zukunft unserer Erde ist. Berlin: Herder (2023)

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Kurzgefasst und eingeordnet von Viktoria Peter.
Viktoria Peter hat Translation, Kulturwissenschaften und Interkulturelle Europa-Studien in Leipzig, Regensburg und Madrid studiert. Sie arbeitet als Übersetzerin und politische Bildnerin.


buch|essenz

Kernaussagen

Die titelgebende Work-Survive-Balance zu finden heißt, die Zukunft des Planeten und die Zukunft der Arbeit zusammenzudenken. Dies kann nur durch eine Abwendung von Individualismus, Selbstverwirklichung und Profitorientierung bei gleichzeitiger Hinwendung zu mehr Verantwortung und Solidarität gelingen. Der Weg in eine neue Arbeitswelt führt über eine Veränderung der Strukturen von Arbeit und Gesellschaft und über die Einübung neuer Praktiken, die Einzelne in eine neue Verbindung zu ihrer Umwelt bringen und ihrer Arbeit Sinn und Würde geben. So wird enkeltaugliches und postnaives Wirtschaften möglich.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Rusinek liefert eine innovative und alltagsnahe Handreichung, wie die sozial-ökologische Transformation – ausgehend vom individuellen Handeln – angegangen werden kann. Das skizzierte Ideal einer nach der Transformation solidarischeren, gleichberechtigteren und umweltverträglicheren Gesellschaft macht deutlich, wie wichtig die Bewältigung der Klimakrise für die Soziale Demokratie ist. Es muss progressiven Akteuren ein Anliegen sein, die sozial-ökologische Transformation entlang der Werte der Sozialen Demokratie aktiv zu gestalten.


buch|autor

Hans Rusinek, geboren 1989, studierte VWL, Philosophie und Politik an der London School of Economics und der Universität Bayreuth sowie Design Thinking am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam. Heute forscht, berät und publiziert er zum Thema „Wandel der Arbeitswelt“. Er hat einen Lehrauftrag unter dem Titel Future of Work an der Hochschule Fresenius in Hamburg und ist Fellow im „ThinkTank30“ des Club of Rome Deutschland.


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buch|inhalt

Im Sinne der Praxistheorie ist jede Form von produktivem Tätigsein Arbeit. Durch Arbeit erleben Menschen Verbundenheit mit anderen, Selbstwirksamkeit und Anerkennung. Doch unsere aktuellen Arbeitsformen sind nicht enkeltauglich: Wir überschreiten permanent sowohl die planetaren als auch unsere eigenen psychischen und physischen Grenzen. Wie also sieht eine besser funktionierende Arbeitswelt aus, die sozial und ökologisch verträglich ist?

Die Herausforderung: Die Zukunft des Planeten, die Zukunft der Arbeit und eine Praxistheorie für den Praxiswandel

Die Krise des Planeten und die Krise der Arbeitswelt sind nicht unabhängig voneinander. Wir haben uns in eine gigantische Beschleunigung hineingearbeitet, die Wohlstand und die Idee der Menschenrechte mit sich brachte, gleichzeitig jedoch den Planeten und unsere Lebensgrundlagen zerstört hat. In der Gegenwart zeichnet sich Arbeit durch verschiedene Praktiken aus, die zur Klimakrise geführt haben und diese weiter vorantreiben. Unsere Wirtschaft funktioniert nach dem Prinzip, die Umwelt abzuwerten und zu konsumieren, als seien die Ressourcen endlos vorhanden. Auf der Organisationsebene stellen wir Profit in den Vordergrund und definieren auf individueller Ebene Erfolg als (Selbst-)Ausbeutung. Wir schätzen kaltes Kalkulieren und priorisieren Selbstverwirklichung auf Kosten anderer und der Umwelt. Wir unterwerfen uns dem Diktat einer immer stärker werdenden Beschleunigung und machen alle Arbeit jenseits der Lohnarbeit unsichtbar. Dies führt zu Generationenkonflikten, Vereinzelung und dem Verlust des Gefühls der Selbstwirksamkeit und der Verbindung mit unseren Mitmenschen.

Die Zukunft der Arbeit wird heute hauptsächlich in vier Formen vorgestellt, von denen sich jedoch keine von den zerstörerischen Logiken lösen kann, die die Klimakrise verursacht haben. So wird auf technologische Innovationen gehofft oder im Rahmen von romantischer Kulturverwertung alles, was sich anbietet, dazu genutzt, die individuelle Leistungsfähigkeit und Motivation zu steigern. Alternativ wird versucht, kritische Impulse und Innovationen ebenfalls der Verwertungslogik zu unterwerfen, oder es werden maßnahmenlos Ziele formuliert. In keinem dieser Ansätze wird die Praxis der Arbeit angesichts der Klimakrise wirklich neu gedacht; keiner bietet eine Lösung für die verschiedenen Probleme, denen wir gleichzeitig gegenüberstehen.

Das Nachdenken über die Zukunft wird von drei Missverständnissen beherrscht, die überwunden werden müssen. Das erste Missverständnis lautet, dass das Individuum angesichts der weltweiten Polykrisen machtlos sei. Dem ist entgegenzusetzen, dass die Welt aus Praktiken besteht, die wir gemeinsam und aus Überzeugung ändern können. Auf diese Weise können wir auch größere Strukturen verändern. Das zweite Missverständnis liegt in der Suche nach einem „goldenen Hebel“, mit dem alle Probleme der Welt auf einmal gelöst werden können. In Wahrheit erfordert die Überwindung von Krisen indes, gemeinsam viele kleine Maßnahmen zu ergreifen und diese wie ein Mosaik zusammenzusetzen. Das dritte Missverständnis besteht darin, sich die Zukunft als ferne Fantasie vorzustellen. Die Zukunft ist jedoch nicht fern, sondern wird mit jeder getroffenen Entscheidung gestaltet, auch der unmittelbar nächsten. Die Zukunft muss dementsprechend im Hier und Jetzt angegangen werden.

Damit ein realer Wandel in der Arbeitswelt stattfinden kann, muss der „Autopilot“, dem wir im Alltag folgen, neu programmiert werden: Unreflektiertes Verhalten muss zu bewusstem Handeln werden. Dies passiert über die Irritation von Routinen, das Wecken von Sehnsüchten oder die Aktivierung von Eitelkeiten. Damit wir lernen können, wie man arbeitet, ohne die eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören, müssen Ideen wie Klimagerechtigkeit ästhetisch aufgeladen werden – so, wie es mit dem Konzept der Freiheit zu Zeiten der Aufklärung geschah.

Die Veränderungsdimensionen

Das Working-Planet-Modell hat neun Dimensionen, hinsichtlich derer wir uns beziehungsweise wir unsere Welt verändern müssen. Auf den drei Ebenen des Mindsets, des Skillsets und des Toolsets müssen wir verlernen, umlernen und neulernen, wie Arbeiten und Zusammenleben funktioniert.

Haltung

Im Rückgriff auf Hannah Arendt wird klar, dass unsere Haltung zum Wirtschaften hinterfragt werden muss. Was wir als Um-Welt begreifen, sollte eigentlich als Mit-Welt betrachtet werden. Wir müssen weg von einer produzierenden oder konsumierenden Haltung und hin zu einem bewussten Handeln, in dem wir Verantwortung für unsere Mit-Welt übernehmen.

Organisationsverständnis

Die Organisationen unserer aktuellen Welt wurden von den Realitäten der Klimakrise überrollt. Wir betrachten sie naiv als Renditemaximierungsmaschinen und nicht als eingebettete Organismen, die aus Prozessen und Gesprächen bestehen. Wenn wir Organisationen als komplexe Systeme verstehen lernen, kann postnaives Wirtschaften möglich werden, das soziale und ökologische Effekte verantwortungsvoll mitgestaltet. Ein Ansatzpunkt, um dieses Verständnis zu verändern, ist die Ausbildung in den Wirtschaftswissenschaften: Das dort vorherrschende Menschenbild, der Freiheitsbegriff und das Wachstumsverständnis verhindern ein postnaives Wirtschaften.

Anerkennung

Die Trennung und unterschiedliche Bewertung von Tätigkeiten hat zu einer arroganten Arbeitsgesellschaft geführt, in der abstrakte Intelligenz belohnt wird und Empathie und Fleiß egal sind. Diese fehlende Anerkennung führt für Millionen von Arbeitnehmenden zu einem Gefühl der Entfremdung von ihrer eigenen Arbeit, aber auch von der Gesellschaft. Eine Folge ist das Schimpfen auf „die da oben“ und die gleichzeitige Abgrenzung „nach unten“, zum Beispiel gegen Migrant_innen. Voraussetzung für die Verbesserung dieser Situation ist Respekt für alle Tätigkeiten. Diese Lösung erfordert Solidarität, die jedoch erst eingeübt werden muss. Dafür muss wiederum die Soziodiversität erhöht werden, beispielsweise durch die Gestaltung einer facettenreichen und gemeinsam gedeihenden Arbeitswelt. Zudem müssen Orte geschaffen werden, an denen sich Menschen aus unterschiedlichsten Tätigkeitsbereichen begegnen und miteinander in Austausch kommen können.

Intelligenz

Die Automatisierung der Arbeitswelt ist eine soziale Herausforderung. Sie muss aktiv gestaltet werden. Das gilt aktuell für das Trendthema Künstliche Intelligenz, galt aber auch schon für frühere technologische Fortschritte und Automatisierungen, wie etwa durch Windmühle und Dampfmaschine. In der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz liegt das Potenzial, die menschliche Intelligenz wiederzuentdecken, die sich durch Reflexionsfähigkeit, Emotionalität und die Übernahme von Verantwortung auszeichnet. Wie ansprechend sähe eine Arbeitswelt aus, die diesen Aspekten Rechnung trägt – und vielleicht sogar noch durch Ökologische Intelligenz ergänzt wird?

Sinn

Unser Verständnis von Sinn und Arbeit geht zurück auf die Moralvorstellungen protestantischer Kaufleute, auf die Ethik der Romantiker des Sturm und Drang sowie auf die kommerzielle Vereinnahmung des Versuchs der Hippies, eine Gegenkultur zu etablieren. Der Wunsch nach der Selbstverwirklichung des Individuums auch in der Arbeitswelt führt zu einem „Sinndruck“: Erfolg allein reicht nicht, er muss sinnvoll aufgewertet werden und das eigene Selbst wiederspiegeln. Doch dieser Anspruch überfordert, was Arbeit leisten kann. Die Priorisierung von Sinnsuche ist selbstbezogen, ignoriert den Facettenreichtum jedes einzelnen Menschen und geht auf Kosten der sozialen und biologischen Umwelt.

Zusammenhalt

Vorurteile wie „Die jungen Leute wollen alle nicht arbeiten“ haben Unternehmen in eine lähmende Spaltung geführt. Generationsspezifische Zuschreibungen wie diese sind empirisch allerdings nicht nachweisbar, zumal sie oft mit Alters- und Periodeneffekten verwechselt werden. Anders gesagt: Die angeblich eine ganze Generation ihr Leben lang prägenden Einstellungen sind oft gar nicht wirklich generationenspezifisch, sondern betreffen eine bestimmte Altersgruppe in einer bestimmten Lebensphase, oder die abgefragten Einstellungen sind von aktuellen Ereignissen beeinflusst und finden sich auch bei Jüngeren oder Älteren. Dennoch führen diese und ähnliche Vorurteile zu Konflikten, die falsche Unterschiede betonen, den intergenerationellen Zusammenhalt untergraben und im schlimmsten Fall Altersdiskriminierung Vorschub leisten. Nur durch das Verbündet-Sein über Generationen hinweg, die Wertschätzung von Arbeitserfahrung und eine gleichzeitige Offenheit für neue Perspektiven können wir aus dieser Lähmung herauskommen und gemeinsam eine bessere Arbeitswelt gestalten.

Zeit

Der Rhythmus unserer Arbeitswelt hat sich in der Moderne enorm beschleunigt. Nebeneffekte sind Stress und mehr Burnout-Diagnosen. Das Überschreiten der planetaren Grenzen geht einher mit dem Überschreiten unserer eigenen mentalen und körperlichen Grenzen. Wir müssen lernen, wieder Verantwortung zu übernehmen: für uns, für andere und für unsere Umwelt. Verantwortung zu übernehmen ist eine zeitintensive Praktik, die sich nicht damit verträgt, bis zur Besinnungslosigkeit gehetzt und beschäftigt zu sein. Letzteres muss als Ideal und als Norm entzaubert werden, damit wir unserem individuellen, natürlichen Rhythmus gerecht werden und unsere Zeit bewusst einsetzen können.

Sichtbarkeit

Im gegenwärtigen Verständnis von Arbeit wird ausgeblendet, dass Care-Arbeit – also die gemeinsame Fürsorge – die Grundlage allen Wirtschaftens bildet. Dies zu berücksichtigen heißt nicht, Care-Arbeitende stärker in Lohnarbeit zu bringen, indem die Sorgearbeit entlang globaler Sorgeketten an migrantisierte Frauen ausgelagert wird, die dann in ihren Heimatländern fehlen. Stattdessen muss die Unterscheidung von Lohn- und Care-Arbeit in Gänze aufgehoben werden und eine Fürsorge für Mitmenschen und den Planeten eingeübt werden. Ohne Respekt für Care-Arbeit, aber auch für Ökosystemleistungen der Natur ist kein enkeltaugliches Wirtschaften möglich. Dazu müssen beide unverzichtbaren Arbeitsformen in die ökonomischen Statistiken und Bepreisungen inkludiert werden. Die Wirtschaftsausbildung muss sich diesem neuen Verständnis anpassen. Sie würde so attraktiver für Menschen mit diverseren Hintergründen.

Körper

Arbeit in der Gegenwart ist von Schmerz geprägt: Sorgearbeitende werden durch das enge Verständnis von Arbeit gemäß dem Motto „Nur Lohnarbeit ist Arbeit“ an den Rand gedrängt; Erwerbsarbeitende wiederum opfern viel, um als erfolgreich zu gelten. Die Folgen sind weiterer Schmerz in Form von Stress, Verantwortungskrisen und fehlenden Kapazitäten für politisches Handeln und Partizipation. Hinzu kommt, dass die hocheffiziente Arbeitsteilung Entfremdung und Unzufriedenheit fördert. Aus der Kognitionsforschung heraus wird klar, dass Arbeiten nicht ohne Schutz von Körpern gedacht werden kann. Umgekehrt ist das Spüren-Können eine Voraussetzung für das Übernehmen von Verantwortung für andere: Nur wenn wir unsere eigene Körperlichkeit nicht verleugnen, haben wir ein Bewusstsein für unsere Mitmenschen und unsere Mitwelt.

Manifest der enkeltauglichen Arbeit

Um eine postnaive und enkeltaugliche Arbeitswelt zu gestalten, braucht es also ein Körperbewusstsein, Konzentration, Zeit, menschliche Intelligenz und eine Haltung jenseits des Konsumierens und Produzierens. Die Zukunft der Arbeit muss Praktiken der Verantwortung und Solidarität priorisieren. Nur so kann sie die Basis für eine gemeinschaftliche Bewältigung der Klimakrise werden.


buch|votum

Hans Rusinek liefert mit Work-Survive-Balance ein soziologisch fundiertes und unterhaltsam geschriebenes Plädoyer für eine umfassende Transformation der Arbeitswelt in neun, alle Lesenden betreffenden Dimensionen. Das Ergebnis dieser ganzheitlichen Betrachtung der sozial-ökologischen Transformation sind zum einen neue, für Mensch und Umwelt verträglichere Arbeitsformen, sowie zum anderen eine Erweiterung unseres Verständnisses dessen, was Arbeit eigentlich ist. Rusineks Ansatz, auf jene Praktiken zu fokussieren, die schlussendlich die großen Strukturen verändern, ist eine innovative und alltagsnahe Herangehensweise an die Herausforderung, der wir gegenüberstehen. Rusineks Buch liefert erste Ansatzpunkte für das individuelle Handeln, lässt sich aber auch als Impulsgeber für Prioritäten in der Arbeits- und Sozialpolitik und im gewerkschaftlichen Handeln verstehen.

Die Jury der FES für den Buchpreis Das politische Buch hat Work-Survive-Balance in ihre Leseempfehlungen für das Jahr 2024 aufgenommen und bilanziert: „Auch wenn das Buch kein Ratgeber sein will, schafft es doch durch seine Betrachtungen große Lust auf Diskussion und Veränderung. Es ist somit eine sehr lohnende Lektüre. Zudem punktet das Buch durch seinen Witz und seine Wachheit.“

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Verlag: Herder
Erschienen: 2023
Seiten: 288
ISBN: 978-3-451-39965-7

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