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Petra Pinzler: Hat das Zukunft oder kann das weg?

Der Fortschrittskompass. Frankfurt am Main: Campus Verlag (2024)

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Kurzgefasst und eingeordnet von Thilo Scholle.
Thilo Scholle ist Jurist und Referatsleiter in einem Bundesministerium.


buch|essenz

Kernaussagen

Was macht Fortschritt im Sinne eines guten Lebens für alle aus? Welche Fortschrittskonzepte lassen sich aktuell ausmachen? Welche konkreten politischen Vorhaben ergeben sich daraus? Und was müssen die (partei-)politischen Akteure tun, um Politik im Sinne dieser Konzepte fortschrittlich zu gestalten? Im Zentrum eines zukunftsgerichteten politischen Projekts muss die Verbindung zwischen sozialer Sicherheit und Einhaltung planetarer Grenzen ökonomischen Wachstums stehen.  

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Politik im Sinne der Sozialen Demokratie hat die Gestaltung der Zukunft als Ziel. Eine Gesellschaft der Freien und Gleichen ist im Hier und Jetzt noch nicht erreicht, sie muss durch kollektives und solidarisches Handeln erarbeitet und erkämpft werden. In Zeiten der „Polykrisen“ ist die Identifikation umsetzbarer fortschrittlicher politischer Vorhaben und deren politische Absicherung alles andere als einfach. Vor diesem Hintergrund liefert Pinzler in ihrem Buch Vorschläge für pragmatische Schritte auf dem Weg in eine sozial-ökologische Zukunft.


buch|autorin

Petra Pinzler, geboren 1965 in Landsberg am Lech, studierte Wirtschafts- und Politikwissenschaft in Köln und besuchte dort die Journalistenschule. Seit 1994 arbeitet sie für die Wochenzeitung „Die Zeit“. Nach Stationen u. a. in Washington und Brüssel ist sie seit 2007 Hauptstadtkorrespondentin der „Zeit“ in Berlin.


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buch|inhalt

„Was macht die Zukunft zu einem guten Ort?“ Dass der Fortschritt es allein richten wird, glauben wir immer weniger. Die Gegenwart ist widersprüchlich: Es gibt Krieg in unserer Nachbarschaft, Flüchtlinge kommen, die Wälder sind krank und die Ozeane kippen. „Das, was gestern noch Sicherheit versprach, könnte vielleicht schon morgen nicht mehr da sein.“ Im Anschluss an Adam Tooze lässt sich von einer „Polykrise“ sprechen, also von einer Weltlage, die von einer bis dato ungekannten Ballung von potenziellen und konkreten Gefahren geprägt ist. Ein Vorwärts in die Vergangenheit hilft hier nicht. Anspruch des Buches ist es vielmehr, als Kompass auf dem Weg in eine gute Zukunft zu dienen: „Deswegen sucht es nach Faktoren, die eine Gesellschaft braucht, um die alten Ideen vom Fortschritt nicht nur zu entstauben und zu aktualisieren, sondern daraus auch künftig und trotz alledem die nötige Kraft für Veränderungen zu schöpfen.“ Fortschritt passt allerdings nur dann ins 21. Jahrhundert, wenn er die Klimakrise und die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen berücksichtigt. Die sogenannte Ampelkoalition, bestehend aus SPD, Grünen und FDP, hat keine solche Idee von Fortschritt entwickeln können. Dabei wäre dies nicht unmöglich gewesen. „Aus Sozialdemokratie, Liberalismus und Ökologie hätte etwa Neues geformt werden können: progressive Politik.“

Die Weltgemeinschaft hat sich mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung – darunter die Bekämpfung von Hunger, Diskriminierung und Umweltzerstörung – Ziele für die Gestaltung der Zukunft gesetzt. Wichtig ist in diesem Kontext ein Blick auf die jeweilige Ausgestaltung des Kapitalismus – denn den einen Kapitalismus gibt es nicht. Dieser hat für großen Fortschritt gesorgt, für technische und soziale Errungenschaften. Zugleich steigt die globale Armutsquote aber wieder an und auch in den Industrieländern leben viele Menschen am Existenzminimum. Das Bruttoinlandsprodukt ist in Bezug auf die tatsächliche Wohlstandsverteilung in einer Gesellschaft allein nicht aussagekräftig. Wichtig sind daher Diskussionen, wie sie in der Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ stattgefunden haben. Hier wurde intensiv über alternative Wege der Wohlstandsmessung unter Einbeziehung sozialer und ökologischer Kriterien nachgedacht.

Genossenschaften, etwa im Wohnungsbau, die keine Gewinne erzielen müssen, könnten etwas Wachstumsdruck aus der Wirtschaft nehmen. In Zukunft sollte auch die Natur zwar weiterhin genutzt, aber nicht mehr zerstört werden. Effizienz könnte einer der entscheidenden Schlüssel für eine Evolution des Kapitalismus werden. Verbinden lässt sich dies mit dem Gedanken der Kreislaufwirtschaft, bei dem ein Produkt nicht mehr entwickelt, genutzt und dann entsorgt, sondern nach der Nutzung wiederverwertet wird und damit Grundlage neuer Nutzungen ist. Hinzutreten müsste die Festlegung von Preisen für Naturverbrauch, etwa durch eine Bepreisung des CO2-Ausstosses.

Im Bereich der gestaltenden Wirtschaftspolitik, etwa im Zusammenhang mit dem klimaneutralen Umbau der Stahlproduktion, lohnt die Orientierung an dem von der Ökonomin Mariana Mazzucato popularisierten Bild der „Missionen“. Nötig ist zudem eine ehrliche Debatte über die zur Verfügung stehenden Finanzen. Die Ampelkoalition vermied diese Debatte, bis die Differenzen, ausgelöst durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse im Jahr 2023, offen zutage traten. Schulden sind nicht per se gut, zu betonen ist aber die „Geschichtlichkeit des Augenblicks“:

„Seit der ersten industriellen Revolution hat es keinen Moment wie den jetzigen mehr gegeben, und damit eine Zeit, in der die lebende Generation zugleich für die Rentner sorgen und für die Kinder das Land umbauen muss. Will sie beides schaffen, trägt sie also eine doppelte Last. Deswegen kann man durchaus rechtfertigen, einen Teil der Modernisierung über Kredite zu finanzieren […].“

Zugleich ist es wichtig zu fragen, warum reale Fortschritte kaum wahrgenommen werden, etwa bei der Bekämpfung der Lohnungleichheit. Dass es eine so große Kluft zwischen tatsächlicher und wahrgenommener Abarbeitung der Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag gibt, liegt auch an der Ausklammerung grundsätzlicher Gerechtigkeitsfragen, etwa bei der Umverteilung von Vermögen oder bei der Umverteilung von Chancen. Zentral ist hier auch die Frage der Verteilung von Wohnraum und der daraus folgenden Segregation.

Eine wichtige Rolle bei der Gestaltung des Fortschritts kommt den politischen Parteien zu: „Schaffen es die Parteien in Deutschland nicht, überzeugende Zukunftsbilder zu entwerfen, bringen sie nicht nur sich selbst in Gefahr. Sie tragen auch dazu bei, dass immer weniger Menschen für die liberale Demokratie im Wettstreit mit den autoritären Regimen überhaupt noch eine Chance sehen.“ Auf der anderen Seite stehen Bilder eines Vorwärts in eine Vergangenheit, die es zwar nie so gab, wie sie dargestellt wird. Ein rein technokratisches Versprechen von einer wie auch immer gearteten „Transformation“ kann diesen Bildern aber wenig entgegensetzen.

Angela Merkels stilles Wegmanagen von Problemen und ihr offensichtliches Desinteresse an inhaltlichen Diskussionen haben zu einer intellektuellen Leere der CDU geführt. Konservative brauchen deutlich mehr Willen, den Wandel zu gestalten und anzutreiben, als sie bisher gezeigt und für nötig befunden haben. Die SPD hat hingegen suggeriert, die Modernisierung des Landes sei etwas, was Staat und Wirtschaft allein bewältigen und von dem die meisten Menschen nichts mitbekommen müssten. Die Partei muss Umwelt- und Sozialpolitik allerdings viel stärker als bisher zusammendenken:

„Die Chance für die Sozialdemokratie läge genau darin: Den Anschluss an diejenigen zu finden, die bei Gerechtigkeit weiter denken als nur an die Einführung des Mindestlohns. An all diejenigen, die heute Ideen von anderen Arten des Lebens, des Konsumierens und der Solidarität entwickeln, die die nationale und globale Ressourcenverteilung gerechter gestalten wollen und die Mensch-Natur-Krise weit über die Frage des Klimaschutzes hinausdenken, die also die Idee der Gerechtigkeit modernisieren.“

Den Grünen mangelt es vor allem an einer überzeugenden Antwort auf die Frage, wie Umweltschutz mit einem größtmöglichen Maß an Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit vereint werden kann. Die FDP müsste dahin gelangen, unter Freiheit mehr als nur private Nutzenmaximierung zu verstehen.

Die Integration langfristiger Interessen in die Politik benötigt auch ergänzende Institutionen, etwa den vorgeschlagenen „Rat für Generationengerechtigkeit“, der im Falle schwerwiegender Bedenken Gesetzesentwürfe für eine gewisse Zeit aufhalten und so zu einer Atempause für die Politik beitragen könnte. Auch braucht es eine klarere politische Kommunikation. In der Demokratie kommt es nicht nur auf das Lösen von Problemen an, sondern auch darauf, möglichst viele Menschen auf dem Weg dahin einzubinden.


buch|votum

Pinzler skizziert, wie die Ampelkoalition ihr Versprechen einer „Fortschrittskoalition“ inhaltlich und im öffentlichen Agieren hätte halten können. Die Vorschläge zur inhaltlichen Unterfütterung einer Politik des sozial-ökologischen Wandels sind pragmatisch und beachtenswert. Kaum thematisiert wird leider die Frage, welche Gestaltungsmöglichkeiten nationalstaatliche Politik in Zeiten großer internationaler Konkurrenzen nicht nur mit den USA und China, sondern auch innerhalb Europas hat. Eine ähnliche Diskrepanz zeigt sich mit Blick auf den Anspruch, die Politik möge mehr mit Bürger_innen in Dialog treten. Dies ist richtig. Die Frage, wie dies in Zeiten einer insbesondere durch Soziale Medien fragmentierten Öffentlichkeit konkret funktionieren soll, wird aber nicht gestellt. Auch mit Blick auf Pinzlers Kritik an einer fehlenden Verbindung der einzelnen Politikbausteine zu einer größeren Erzählung stellt sich die Frage, ob die Distanz zur etablierten Politik bei vielen Menschen mittlerweile nicht so groß ist, dass allenfalls sehr konkret fassbare Maßnahmen noch als nachvollziehbar angenommen, größere Kontexte aber eher als Überforderung empfunden werden.

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Verlag: Campus
Erschienen: 04.09.2024
Seiten: 262
ISBN: 9783593519135

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