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Clara E. Mattei: Die Ordnung des Kapitals

Wie Ökonomen die Austerität erfanden und dem Faschismus den Weg bereiteten. Berlin: Brumaire (2025)

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Kurzgefasst und eingeordnet von Michael Dauderstädt.
Michael Dauderstädt ist freiberuflicher Berater und Publizist und war bis 2013 Leiter der Abteilung Wirtschaft- und Sozialpolitik der FES.


buch|essenz

Kernaussagen

Die Sparpolitik, auch Austerität genannt, dient dazu, die kapitalistische Ordnung gegen den Widerstand von Beschäftigten und Gewerkschaften zu sichern, indem sie eine Rezession herbeiführt und den Sozialschutz abbaut. Dadurch wird Druck auf die Löhne ausgeübt und die Profite werden gesteigert. In Italien hat die Austerität dem Faschismus den Weg bereitet.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Die These des Buchs lautet, dass Austeritätspolitik eine Waffe zur Unterdrückung der abhängig Beschäftigten ist. Indem die kapitalistische Ordnung als alternativlos dargestellt und technokratisch oder repressiv organisiert wird, soll die demokratische Kontrolle von Wirtschaft verhindert werden. Die Einschätzung der Autorin ist klar antikapitalistisch und insofern links des sozialdemokratischen Mainstreams. 


buch|autorin

Clara Mattei ist Leiterin des Center for Heterodox Economics an der Universität von Tulsa (Arizona, USA). Sie studierte in Pavia (Italien) sowie in Cambridge (UK) und promovierte in Pisa und Straßburg. Danach lehrte sie an verschiedenen Universitäten in den USA. Sie hat etliche Preise bekommen und zahlreiche Artikel publiziert.


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buch|inhalt

Im ersten Teil des Buchs schildert die Autorin die historischen Entwicklungen während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg, die die kapitalistische Ordnung massiv in Frage stellten. Im zweiten Teil wird die Entstehung der Austeritätspolitik und ihre Anwendung in Italien und Großbritannien inklusive der Folgen dargelegt.

Der bedrohte Kapitalismus

Ausgangspunkt der Analyse ist, dass der Kapitalismus ein System der Ausbeutung der Arbeiterschaft ist, in dem die Arbeitskraft eine Ware ist und die Produktionsmittel in den Händen einer Minderheit sind. So sind die Arbeitenden gezwungen, sich unterzuordnen und ihre Existenz durch Lohnarbeit zu erhalten. Die Wirtschaftswissenschaft, und zwar sowohl die (neo-)liberale, klassische Ökonomie als auch der Keynesianismus, verschleiert diese Machtverhältnisse als ökonomische Gesetze.

Die Macht des Kapitals beruht wesentlich darauf, dass die Mechanismen der Ausbeutung wie Privateigentum an Produktionsmitteln und Lohnarbeit als natürlich und alternativlos angesehen werden. Im Ersten Weltkrieg sahen sich viele Länder gezwungen, eine Kriegswirtschaft einzuführen, in der nicht der Markt, sondern der Staat die Produktion kontrollierte. Damit wurde deutlich, dass auch eine andere Wirtschaftsform möglich ist, die nicht den Profit, sondern eine bestimmte Form des gesellschaftlichen Nutzens zum Ziel hat.

Nach dem Ende des Krieges gewannen politische Ideen an Gewicht, die einen Ausbau des Wohlfahrtsstaates vorsahen. Durch mehr Wohnungsbau sowie umfassendere Gesundheits- und Bildungsangebote wollten progressive Politiker_innen die Lage der am stärksten belasteten ärmeren Schichten verbessern. Sie konnten dabei auf die Unterstützung der Arbeiterbewegung zählen. In Italien und Großbritannien entstanden umfangreiche soziale Sicherungssysteme.

In den Jahren 1919 und 1920 kam es in Italien und Großbritannien zu massiven Streikbewegungen, mit denen umfangreiche Forderungen nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen durchgesetzt wurden. Immer mehr nahmen diese Streiks auch politischen Charakter an. Sie wandten sich gegen die Kriegsziele bürgerlicher Regierungen und stellten zunehmend das kapitalistische System in Frage. Genossenschaften und Gilden entwickelten Produktionsformen unter Kontrolle der Arbeitenden und ohne Profitmotiv.

Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen Arbeiterschaft, Staat und Kapital kam es zu weit verbreiteten Fabrikbesetzungen. Dabei wurden vor allem in Italien Fabrikräte gebildet, die die Leitung der Produktion übernahmen und die sich regional und national vernetzten. Um die Zeitschrift „Nuovo Ordine“ – zu Deutsch Neue Ordnung – entwickelten sich politische Strukturen, die sowohl dem Staat als auch den traditionellen Gewerkschaften kritisch gegenüberstanden. Eine Revolution schien bevorzustehen, was die Unternehmer und ihnen nahestehende politische Kräfte mit Schrecken erfüllte.

Austeritätspolitik in Großbritannien und Italien

Austerität umfasst drei Dimensionen: fiskalische, monetäre und industrielle Austerität. Fiskalische Austerität bedeutet eine Sparpolitik, die Sozialausgaben kürzt, den Staat

verkleinert und die Steuerlast zugunsten der Reichen umverteilt. Monetäre Austerität strebt Deflation an, indem sie die Zinsen anhebt, um so Kredite zu verteuern und das Wachstum zu bremsen. Industrielle Austerität schränkt das Streikrecht ein und drückt die Löhne.

Auf zwei großen finanzpolitischen Kongressen in Brüssel im Jahr 1920 sowie in Genua im Jahr 1922 versammelten sich führende konservative, marktorientierte Ökonomen, um die neue Strategie der Austerität zu entwickeln. Sie stellten sie als einzigen Weg aus der Krise dar. Das Interesse des Kapitals wurde zum natürlichen Ziel des Wirtschaftens, das politischer Kontrolle zu entziehen war. Stattdessen sollten nicht gewählte Technokraten, vor allem eine unabhängige Zentralbank, die Wirtschaftspolitik bestimmen. Der Konsum der Arbeiterschaft galt als schädlich, das Sparen der Reichen als Quelle des Wohlstands.

In England waren das Schatzamt (Finanzministerium) und die Bank of England die Haupttreiber der Austeritätspolitik. Das Land kehrte zum Goldstandard zurück, was eine massive Deflation erforderte. Die Löhne sanken dramatisch, die Arbeitslosigkeit stieg deutlich an; die Steuern auf Konsum wurden erhöht und die auf Einkommen gesenkt.

In Italien prägten vier Ökonomen die Debatte, von denen zwei Faschisten waren und auch politische Ämter im faschistischen Regime bekleideten. Aber auch der noch heute verehrte liberale Einaudi forderte Austerität, um die Wirtschaft seinen theoretischen Konzepten freier Märkte und kapitalistischer Akkumulation anzupassen. Dazu begrüßte auch er die faschistische Gewaltherrschaft.

Mussolini setzte nach seiner Machtergreifung 1922 alle drei Facetten der Austerität durch. Staatsausgaben wurden massiv gekürzt, vor allem im sozialen Bereich und bei der Infrastruktur. Zuvor dem Staat vorbehaltene Wirtschaftsbereiche wurden privatisiert. Italien kehrte ebenfalls zum Goldstandard zurück. Um trotz der Aufwertung das Kostenniveau zu senken und die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, wurden die Löhne mehrfach deutlich gesenkt. Das Streikrecht wurde eingeschränkt und die Gewerkschaften wurden unterdrückt und später in faschistische korporatistische Organisationen überführt.

Die Regierungen Großbritanniens und der USA betrachteten die Wirtschaftspolitik Mussolinis wohlwollend. Sie hatten Italien Kriegskredite gewährt und erwarteten eine Bedienung und Rückzahlung der Schulden. Mit Sorge sahen sie den Druck auf die Lira, die italienische Währung, deren Abwertung den Schuldendienst erschweren musste. Für weitere Unterstützung bestanden sie auf Sparmaßnahmen und Kostensenkungen in der italienischen Industrie durch Lohnsenkungen.

Die Folgen der Austerität

Die Austeritätspolitik in Großbritannien und Italien war erfolgreich im Interesse des Kapitals. Die Löhne und die Lohnquote sanken, während die Profite und ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt stiegen. Die Umverteilung von den ärmeren Schichten zu den Reichen und die Sicherung des kapitalistischen Ausbeutungsregimes als natürliche

Ordnung der Wirtschaft gelangen. Die Arbeiterklasse wurde gezähmt und die Anzahl der Streiks nahm dramatisch ab. Das gelang in Italien mit den brutalen Methoden des Faschismus und in England durch die Immunisierung der Wirtschaftspolitik gegen demokratische Einflüsse.

Austerität als Allzweckwaffe des Kapitalismus

Die Austerität, die in den Krisen des Kapitalismus nach dem Ersten Weltkrieg half, das System wieder zu stabilisieren und die Arbeiterklasse zu disziplinieren, wurde auch später immer wieder benutzt, um die Kapitalinteressen durchzusetzen. In den späten 1970er und 1980er Jahren, nachdem sich in den zwei Jahrzehnten davor die Arbeitenden in Europa im Verteilungskampf oft durchgesetzt und viele Erfolge durch Streiks und Wahlerfolge linker Kräfte erzielt hatten, setzte in England Margret Thatcher die Instrumente der Austeritätspolitik erfolgreich ein, um die alten Machtverhältnisse wiederherzustellen.

Auch in der Eurokrise wurde die Austeritätspolitik angewandt. Die Grundkonstruktion der Eurozone mit einer unabhängigen Zentralbank, die nur der Inflationsbekämpfung verpflichtet ist und Staatsschulden nicht direkt aufkaufen darf, stützt sich auf die bekannten Prinzipien der Austeritätspolitik. Sie erzwingt eine sparsame Haushaltspolitik, indem sie Mitgliedstaaten wie Italien droht, ansonsten eine Schuldenkrise auszulösen. In Italien wurden dazu technokratische Regierungen eingesetzt.


buch|votum

Das Buch besticht durch seinen interdisziplinären Ansatz, der Ökonomie, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften verbindet. Basierend auf einer umfangreichen Recherche und in strukturierter Weise präsentiert die Autorin eine Fundamentalkritik am Kapitalismus im Allgemeinen sowie an der Austeritätspolitik im Besonderen, die Reformforderungen der sozialen Demokratie radikal unterstreicht, aber auch darüber hinausgeht. Das Buch enthält vielfältige Argumente für alle progressiven Kräfte, welche die Macht des Kapitals einhegen, die Mitbestimmungsrechte der Arbeitenden erweitern und die Wirtschaft demokratisch durch eine expansive Geld- und Fiskalpolitik sowie einen leistungsfähigen Wohlfahrtsstaat im Interesse der Mehrheit gestalten wollen. In einer Zeit wachsender Bedrohung durch Rechtspopulismus dient die vorgelegte Analyse des Faschismus als Warnung davor, zu welchen Extremen der Kapitalismus bereit ist, um sein Überleben und seine Profite zu sichern.

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Verlag: Brumaire
Erschienen: 26.03.2025
Seiten: 586
ISBN: 978-3-948608-56-9

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