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Rahel Jaeggi: Fortschritt und Regression

Fortschritt und Regression. Berlin: Suhrkamp (2023)

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Kurzgefasst und eingeordnet von Carsten Schwäbe.
Carsten Schwäbe hat Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert und arbeitet als Wissenschaftler im Bereich der Innovationsforschung an der Freien Universität Berlin.


buch|essenz

Kernaussagen

Der Begriff ‘Fortschritt’ bezeichnet eine gesellschaftliche Entwicklung hin zum Guten. Was für die eine Gruppe Vorteile mit sich bringt, kann für andere aber Nachteile haben. Fortschritt ist also kontextabhängig. Um dennoch über ein objektives Kriterium zu verfügen, definiert Jaeggi Fortschritt als die Fähigkeit einer Gesellschaft, im Rahmen eines Lern- und Erfahrungsprozesses Lösungen für Probleme zu finden, auch wenn in der Folge noch Anpassungen notwendig sind. Umgekehrt handelt es sich in dem Maß um Regression, in dem Gesellschaften die Fähigkeit zu kollektiven Lern- und Problemlösungsprozessen verlieren.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Angesichts ultrapragmatischer Parteien scheint die Idee einer linken kritischen Gesellschaftsanalyse politisch unterzugehen. Trotzdem oder gerade deshalb sollten progressive Kräfte die Fähigkeit zur Entwicklung eigener kreativer und wirksamer Problemlösungen stärken und sich Jaeggis Ansatz zu eigen machen, dass der Kampf gegen rechts nur durch ein aktives Gegenüberstellen von sinnvollen und problematischen gesellschaftlichen Problemlösungen gewonnen werden kann.


buch|autorin

Rahel Jaeggi ist Professorin für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Schweizerin forscht zur Entfremdung durch Kommodifizierung bzw. Verdinglichung sowie zu den Themen Ideologie, Lebensform, Institution und Solidarität. Sie gilt als eine linke Vertreterin der zeitgenössischen kritischen Theorie. Für ihr Buch „Fortschritt und Regression“ erhielt sie den Philosophischen Buchpreis 2024.


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buch|inhalt

Fortschritt lässt sich nur verstehen, wenn wir uns mit der Kritik am Fortschrittsbegriff auseinandersetzen. Eigentlich lässt sich Fortschritt nur schwer leugnen, wenn man an die Erfindung des Buchdrucks oder den rasanten Fortschritt bei der Entwicklung von Medizin oder Computerleistung denkt. „Nicht trivial dagegen ist die Frage, warum und in welcher Hinsicht diese Entwicklungen nicht nur Veränderungen, sondern Veränderungen zum Besseren sein sollen, was (und wer) diese bewirkt und ob (und wie) die verschiedenen Entwicklungen miteinander zusammenhängen.“

Oft wird mit dem Begriff ‘Fortschritt’ ein Werturteil über Geschichte verbunden, dem vier Merkmale innewohnen, die heutzutage kritisiert werden: Erstens werden unter dem Begriff ‘Fortschritt’ viele unterschiedliche technologische und gesellschaftliche Entwicklungen in einer einzigen, vermeintlich allgemeingültigen Erzählung zusammengefasst. Es darf aber bezweifelt werden, ob auch Entwicklungen wie bspw. Gentechnik oder der digitale Wandel ausschließlich Fortschritt bedeuten. Zweitens wird, wenn von Fortschritt die Rede ist, implizit oft eine nahezu notwendige Entwicklung hin zu Wachstum und Weiterentwicklung unterstellt. Dem stehen jedoch viele der heutigen regressiven Entwicklungen wie der Verlust von Frieden und Demokratie in der Welt entgegen. Drittens wird Fortschritt als globaler Lernprozess verstanden, den alle Gesellschaften in derselben Weise durchlaufen; sie befänden sich dabei nur in verschiedenen Stadien – manche seien schon weiter als andere. Anstatt die Vielfalt von Lebensmodellen zu akzeptieren, wird diese Unterteilung oft genutzt, um angeblich rückständige Gesellschaften zu belehren oder sogar zu unterdrücken. Viertens wird Fortschritt als linear verlaufender Prozess verstanden. Unerwähnt bleibt dabei, dass ein Zugewinn an Kompetenzen in einem Bereich oft mit einem Verlust in anderen Bereichen einhergeht. Beispielsweise führten Fortschritte in der Landwirtschaft zwar zu größeren Ernteerträgen, jedoch auch zu gravierenden Umweltproblemen.

Den Fortschrittsbegriff vor dem Hintergrund dieser Kritik aufzugeben, ist jedoch keine Alternative, weil man damit eine wichtige Analysekategorie für die Annäherung an Utopien verlöre. Stattdessen gilt es, einen zeitgemäßen Fortschrittsbegriff zu entwickeln.

Zwei Thesen über den Fortschritt

Die erste These lautet, dass Fortschritt ein normativer Begriff sui generis ist, also nicht anhand anderer Begriffe analysiert oder auf diese zurückgeführt werden kann. Er bezieht sich auf kein gegebenes Verständnis des Guten, sondern trägt selbst zur Bewertung bei, was gut oder besser ist. Die zweite These lautet, dass Fortschritt als Prozessbegriff gedacht werden muss, der „die Qualität einer Entwicklung [bezeichnet], einen Lern- und Erfahrungsprozess und damit eine bestimmte Weise, in der gesellschaftliche Transformationen stattfinden.“ Fortschritt sollte also nicht als Annäherung an ein universell gegebenes Ziel, sondern als Lern- und Erfahrungsprozess im gesellschaftlichen Umgang mit historisch kontingenten Problemen verstanden werden. So wird nicht das Ergebnis, sondern der Prozess selbst zum Gegenstand der Bewertung. Ob eine Entwicklung einen Fortschritt darstellt, ist dabei gerade am Beginn des entsprechenden Transformationsprozesses umstritten, da die erforderliche Bewertung erst später erfolgen kann.

Fortschritt als Erweiterung oder als Vertiefung?

Wie kann man sich den Prozess vorstellen, durch den über jahrzehntelange sozial akzeptierte Praktiken wie das Schlagen von Kindern oder Diskriminierung von bestimmten Gruppen öffentlich skandalisiert und überwunden werden? In der Philosophie werden dafür das Erweiterungs- und das Vertiefungsmuster diskutiert.

Das Erweiterungsmuster beschreibt Fortschritt als Erweiterung der Gruppe von Menschen, auf die bestehende moralische Prinzipien angewandt werden. Fortschritt in dieser Weise als einen Inklusionsprozess zu verstehen, ist nicht falsch aber unvollständig. Denn dabei wird übersehen, dass nicht nur der Kreis erweitert wird, sondern dass sich damit auch die qualitative Beschreibung der Gruppe derer verändert, die Inklusion verdienen.

Demgegenüber steht das Vertiefungsmuster, das Fortschritt als Vertiefung bestehender Ideale durch eine bessere gesellschaftliche Verankerung der zugehörigen Regeln versteht. Grundfreiheiten wie Meinungsfreiheit oder private Eigentumsrechte können als Vorstufe zu einer sozialen Freiheit verstanden werden, die betont, dass Freiheitsrechte allein noch keine Freiheit bedeuten, solange Menschen aufgrund materieller Bedingungen oder wegen mangelnder Fähigkeiten nicht imstande sind, von diesen Freiheitsrechten Gebrauch zu machen. Auch dieses Fortschrittsverständnis ist nicht unplausibel, scheitert aber daran zu erklären, wie die ursprünglichen moralischen Werte, die vertieft werden sollen, zustande gekommen sind.

Beiden Mustern ist gemein, dass Fortschritt als ein Prozess dargestellt wird, in dem ausgehend von bestehenden moralischen Prinzipen ein Wandel stattfindet. Es wird also eine Diskontinuität in der Kontinuität beschrieben. Institutionen und Praktiken nach einer sozialen Transformation sind damit neu und alt zugleich. Fortschritt ist mithin als dialektischer Anreicherungsprozess von etwas Neuem an das Bestehende zu interpretieren.

Fortschritt basiert stets auf einem sozialen Wandel

Die Normalität einer Gesellschaft ist stets mit gewissen moralischen Übeln verbunden. Es gibt Ungerechtigkeiten, die Gesellschaften mehr oder weniger bewusst hinnehmen und die sie erst im Nachhinein, nach einem fortschrittlichen Wandel, vollständig problematisieren. So erscheint uns Privateigentum an der Erde heute als selbstverständlich und alternativlos. Dieses Grundverständnis könnte sich in einer anderen Zeit und Gesellschaft aber ebenso wandeln, wie sich unser Verständnis von Eigentum an Menschen (Stichworte sind Leibeigentum und Sklaverei) verändert hat.

Wenn Fortschritt auf dieser Art des gesellschaftlichen Wandels basiert, kann er nicht nur rational erklärt werden, sondern muss ebenso als Veränderung der moralischen Einstellungen verstanden werden. „Meine Position folgt hier einer pragmatistischen Moralauffassung, in der Moral als Teil der Lebensverhältnisse, als Reflexion auf die praktischen Lebensverhältnisse aufgefasst wird.“

Dementsprechend handelt es sich bei Moral nicht um vollständig allgemeingültige Prinzipien. Die Frage, wie wir unser Leben organisieren, lässt sich nicht von der Frage trennen, auf welcher materiellen Grundlage unser Leben stattfindet. Deswegen muss die Dynamik des sozialen Wandels geklärt werden, um zu verstehen, wie man diesen normativ als Fortschritt bewerten kann: „Soziale Transformationen entstehen nicht aus dem Nichts. Sie reagieren darauf, dass bestehende Praktiken und Institutionen nicht mehr funktionieren, dass sie vor Problemen stehen, die sie nicht lösen können, oder in Krisen geraten, aus denen sie nicht wieder herauskommen, ohne sich und manchmal auch den ganzen Bezugsrahmen, in dem sie stehen, zu transformieren.“

Sozialer Wandel entsteht dabei nicht aus einer bloßen Idee heraus, sondern als Reaktion auf ein fundamentales gesellschaftliches Problem, das mit den bestehenden Routinen nicht zu lösen ist. Daraus ergibt sich ein Problem zweiter Ordnung, wenn sich herausstellt, dass die Gesellschaft nicht in der Lage ist, das Problem erster Ordnung mit ihren bisherigen Praktiken und Institutionen zu lösen: „Zu Fortschritt oder Regression kommt es [also] dort, wo Lebensformen mit Problemen zweiter Ordnung konfrontiert sind – und diese entweder bewältigen können (Fortschritt) oder eben nicht (Regression).“ Die Frage, ob eine Gesellschaft fortschrittlich handelt, ergibt sich demnach nicht aus der Lösung des Problems erster Ordnung, sondern der Lösung des Problems zweiter Ordnung, der gesellschaftlichen Fähigkeit zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Die Frage nach dem Fortschritt ist, ob die Gesellschaft gelernt hat, zu lernen.

Uneinigkeit und Konflikte gibt es sowohl bei der Problemanalyse als auch bei der Diskussion von Lösungen, wobei hier auch Interessenkonflikte aufbrechen können, da nicht alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen von einer Krise und der damit verbundenen Notwendigkeit zum gesellschaftlichen Lernen betroffen sind. Trotz dieser Konflikte eine angemessene Problemlösung auszuprobieren ist progressiv, wegen dieser Konflikte in gesellschaftliche Lernblockaden zu fallen regressiv. „Problemlösung ist damit ein fortschreitender, dynamischer Prozess, ein Lern- und oder Erfahrungsprozess mit offenem Ausgang. Ein Problem stellt sich nicht ein Mal und ist dann gelöst; es stellt sich auch nicht als solches immer wieder und trifft auf immer neue Lösungsmöglichkeiten.“ Nicht nur die Lösungen werden neu sein, sondern auch das Problem, dass durch bisherige Lösungsversuche und externe Umstände sich immer wieder neuformiert.

Wann wird Wandel zum Fortschritt?

Fortschritt ist kontextabhängig. Die Eisenbahn ermöglicht eine schnellere und angenehmere Form des Reisens, stellt jedoch auch ein Problem für die Umwelt dar. Maschinenarbeit erhöht die Produktivität, entfremdet aber auch die Menschen von Arbeit, weil sie in monotonen Tätigkeiten gefangen sind. Auf diese Weise wird der Fortschrittsbegriff mit der Vielfalt sozialer Kontexte verbunden, ohne einen falschen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu erheben. Erst nach dem Vollzug einer sozialen Veränderung kann durch einen Vergleich mit dem vorherigen Zustand, also mit dem zu lösenden Problem, beurteilt werden, ob es sich bei der Entwicklung um einen Fortschritt handelt. Dementsprechend ist auch Regression nicht linear als Rückfall hinter das schon Erreichte zu verstehen, sondern als systematische Erfahrungsblockade, die Problemlösungen verhindert.

Doch was bedeutet eine regressive Krisenbewältigung?

Regression darf nicht damit verwechselt werden, auf frühere Erfahrungen und Lösungsmuster zurückzugreifen. Dies kann oftmals sogar sinnvoll sein, z. B., wenn alte Tomaten- oder Apfelsorten rekultiviert werden oder bei jahrgangsübergreifendem Unterricht an die positiven Erfahrungen von Dorfschulen angeknüpft wird. Regressiven Charakter hat es allerdings durchaus, wenn dem Sinnverlust und der Vereinsamung in der destabilisierten industriellen Moderne von Faschismus und illiberalen Demokratien ein völkisches Zusammengehörigkeitsgefühl entgegengesetzt wird. Denn „[h]ier wird nicht etwa das Rad zurückgedreht, sondern es bewegt sich vorwärts, allerdings im Modus einer fehlgeleiteten Konfliktbearbeitung.“ Wenn Regression als das Resultat eigener Lern- und Erfahrungsblockaden verstanden wird, also als Krise bei der Lösung von Krisen, dann werden die Regressiven zu „Verrätern des Möglichen“ und zu Befürwortern einer falschen Wahl, wenn es darum geht, zwischen einer angemessenen und unangemessenen Problemlösung zu entscheiden.


buch|votum

Rahel Jaeggi legt mit ihrem Buch ein anspruchsvolles philosophisches Werk vor, das nicht den Anspruch erhebt, aktuelle Fragen wie den Umgang der Politik mit Rechtspopulismus und Postfaschismus praktisch zu beantworten. Stattdessen regt es grundlegend zum Nachdenken über unser eigenes Fortschrittsverständnis an und weist mit komplexen, aber stringenten Argumenten auf viele Fallstricke des Fortschrittsbegriffs hin. Wie ihre Analyse von Fortschritt als Lernprozess zeigt, können die Probleme, vor denen unsere Gesellschaft derzeit steht, nicht allein auf das Erstarken von Rechtspopulismus und -extremismus zurückgeführt werden. Sie entstehen auch durch den Mangel geeigneter Lösungsvorschläge und Lösungen der etablierten Parteien.

Progressive Parteien und Bewegungen sehen sich oft als fortschrittlich. Auch die Ampelregierung einigte sich trotz ihrer ideologischen Unterschiede auf den Begriff einer „Fortschrittskoalition“, die die bestehenden politischen Blockaden überwinden möchte. Doch genau an der Unterschiedlichkeit des Fortschrittsbegriffs scheiterte die Regierung am Ende: Während die Liberalen den Staat begrenzen wollten, standen Rot-Grün für eine Stärkung von Markteingriffen und finanziellen Ressourcen des Staates. Der auf offener Bühne ausgetragene Streit trug letztlich jedoch nicht zu einer konstruktiven gesellschaftlichen Problemlösung und damit in Jaeggis Sinne zu Fortschritt bei, sondern stärkte das Misstrauen gegenüber der Regierung und trug damit zu einer Regression bei.

Indem Jaeggi den Fortschrittsbegriff kontextualisiert und betont, dass Fortschritt streitbar ist, bietet sie aber auch einen Lösungsansatz: Der Kampf gegen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus lässt sich so als Kampf gegen gesellschaftliche Lernblockaden verstehen. Während sich auf der einen Seite falsche Lösungen für ein gesellschaftliches Problem finden, müssen die anderen Parteien demgegenüber echte und wirksame Alternativen entwickeln. Diese können dabei entweder auf vergangene Erfahrungen zurückgreifen (zum Beispiel indem die Schuldenbremse abgeschafft wird) oder in eine ganz neue Zukunft weisen (zum Beispiel mit der Gestaltung der sozial-ökologischen und digitalen Transformationen).

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Verlag: Suhrkamp
Erschienen: 11.12.2023
Seiten: 252
ISBN: 978-3-518-58714-0

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