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Kurzgefasst und eingeordnet von Gero Maaß. Gero Maaß ist freiberuflicher Berater und und war bis 2020 für die Friedrich-Ebert-Stiftung tätig, u.a. als Leiter der Internationalen Politikanalyse sowie der Büros in Frankreich, Großbritannien, Spanien sowie für die nordischen Länder.
Heutige Autokratien werden nicht durch eine gemeinsame faschistische Ideologie zusammengehalten, wie es in den 1930er Jahren der Fall war, sondern durch ausgeklügelte Netzwerke. Es hat sich eine neue, internationale autokratische Allianz gebildet. Das gemeinsame Ziel dieser modernen Diktatoren besteht darin, die Demokratie zu untergraben und sich mit aggressiven Taktiken gegenseitig Sicherheit und Straffreiheit zu verschaffen.
Applebaums Kritik an der deutschen Russland- und Ostpolitik fällt wenig zimperlich aus. Bei manchem Fan Brandtscher Ostpolitik dürften ihre harschen Worte zu Schnappatmung führen. Ihr Abschlussplädoyer „Demokraten, vereinigt euch!“ mag uns allen indes ein Leuchtturm in dunklen rechtspopulistischen Zeiten und der dadurch entstandenen derzeitigen bedrohlichen Weltlage sein. Vor dem Hintergrund der Rückkehr von Donald Trump ergänzt die Autorin: Wenn Europa eine liberale und demokratische Bastion bleiben will, muss es sich darauf vorbereiten, dies auch ohne die USA zu schaffen.
Die Historikerin und Journalistin Anne Applebaum, geboren 1964 in Washington, D.C., begann ihre Karriere 1988 als Korrespondentin des Economist in Warschau, von wo sie über den Zusammenbruch des Kommunismus berichtete. Seit 2019 arbeitet sie als Senior Fellow an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies. Applebaum gilt als große Expertin der osteuropäischen Geschichte und der autoritären Regime Osteuropas. 2024 erhielten sie und ihr Ehemann, der polnische Außenminister Radosław Sikorski, gemeinsam den Europapreis für politische Kultur der Stiftung Hans Ringier. Für ihr Gesamtwerk wurde Applebaum im Oktober 2024 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Neben China, Russland, Venezuela und Zimbabwe rechnet Applebaum noch fast 50 weitere Länder zu den Autokratien der Gegenwart. Sie macht die westlichen Länder für die Entstehung der autokratischen Netzwerke mitverantwortlich. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Weltordnung des Kalten Krieges hingen diese der Illusion vom Ende der Geschichte und dem unaufhaltsamen Siegeszug der liberalen Demokratien an. Darüber hinaus ermöglichte das neoliberale Wirtschaftssystem den Autokratien, ihre krummen Geschäfte in globalem Maßstab abzuwickeln. Dank der Globalisierung der Finanzwelt, der Vielfalt an Geldverstecken und der Duldung ausländischer Gaunereien durch die Demokratien eröffneten sich den Autokratien Möglichkeiten, von denen sie zuvor nicht einmal zu träumen gewagt hatten.
Der Westen hat zu lange und letztlich vergeblich auf Wandel durch Handel gesetzt. Brandts Ansatz funktionierte weder mit der Sowjetunion noch mit China. Angela Merkel kritisiert Applebaum ebenso wie Bill Clinton und andere amerikanische Präsidenten dafür, gegenüber Korruption, Kleptokratie und Desinformation blind gewesen zu sein und so zum Aufbau von Autokratie und Rechtlosigkeit beigetragen zu haben.
Das internationale autokratische System basiert auf gegenseitiger Unterstützung in Form von Ressourcen und Equipment. Das reicht von Propaganda-Trollfarmen und Bots über Investitionsmöglichkeiten für korrupte Staatsunternehmen bis hin zum Austausch modernster Überwachungstechnologien. Illustriert am Beispiel des Krieges in der Ukraine: Von Iran erhält Russland Drohnen und von Nordkorea Soldaten, Raketen und Munition; afrikanische Staaten stellen sich in UN-Sitzungen auf Russlands Seite; die Türkei, Kirgistan und Kasachstan helfen Moskau, Sanktionen zu umgehen, und liefern Güter; aber auch Indien kauft Gas bei den Russen. Die Mitglieder autokratischer Netzwerke stehen also nicht nur mit anderen Mitgliedern autokratischer Netzwerke, sondern manchmal auch mit – zumindest formell – demokratischen Staaten in Verbindung.
Heutige Autokratien werden somit nicht von einem einzigen Bösewicht gebildet und kontrolliert, sondern von raffinierten Netzwerken mit kleptokratischen Strukturen, einem komplexen Sicherheitsapparat aus Armee, paramilitärischen Einheiten und Polizei sowie technischen Expert_innen, die für Überwachung, Propaganda und Desinformation zuständig sind. Vielleicht werden in Zukunft weitere „Leistungen“ hinzukommen. Mit Investitionen könnte China zum Beispiel einem genehmen Regime helfen, Sanktionen zu umgehen. Der Iran könnte islamistische Aufstände anzetteln, um eine geschwächte demokratische Regierung zu stürzen. Die Venezolaner könnten ihre Erfahrungen im internationalen Drogenhandel einbringen, und Simbabwe könnte beim Goldschmuggel aushelfen. Das mag weit hergeholt klingen, ist es aber nicht. Eine Welt, in der Autokratien kooperieren, um sich an der Macht zu halten, für ihr System zu werben und Demokratien zu schaden, ist keine ferne Dystopie. Es ist die Welt, in der wir heute leben.
Bei allen ideologischen Differenzen zwischen den verschiedenen Autokratien haben sie alle dieselben gemeinsamen Feinde: den Westen, die NATO, die EU, die demokratische Opposition im eigenen Land und das freiheitliche, liberale Gedankengut, für das alle diese Institutionen stehen. Öffentliche Verurteilungen durch die internationalen Demokratien kümmern sie nicht mehr. Auch deshalb setzen Autokraten wie Alexander Lukaschenko in Belarus ihre Machtinteressen inzwischen ganz offen durch. Kritiker, die Hoffnung auf einen Wandel geben könnten, werden systematisch diskreditiert.
Die Verunglimpfungen von Demokratien im Zuge der Informationsoperationen der Autokratien zielen darauf ab, bestehende Gräben in demokratischen Staaten zu vertiefen und den Zorn der Bürger_innen anzuheizen. Autokraten finanzieren oder fördern die extremsten Stimmen, um Konflikte zu verschärfen und wo möglich gewaltsamer zu machen. Die Bürger_innen sollen dazu gebracht werden, Staat und Politik infrage zu stellen und schließlich an der Demokratie selbst zu zweifeln. Um Chaos zu säen, greifen diese neuen Propagandist_innen und ihre Führer_innen nach jeder Ideologie, Technologie und Emotion, die ihnen dienlich erscheint. Rechte, Linke, Separatist_innen oder Nationalist_innen können genauso nützliche Werkzeuge sein wie Verschwörungstheorien oder eine moralische Panik.
Einige wenige Autokratien präsentieren ihren Bürger_innen noch immer die Illusion einer idealen Gesellschaft, insgesamt spielt Ideologie aber eine nachgeordnete Rolle. Nordkorea hält bis heute gewaltige Militärparaden in stalinistischem Stil mit gymnastischen Darbietungen und riesigen Porträts des Obersten Führers ab. Die meisten Propagandist_innen der Achse der Autokraten haben jedoch aus den Fehlern des 20. Jahrhunderts gelernt: So versucht die chinesische Propaganda beispielsweise nicht mehr, China als perfekte Gesellschaft darzustellen. Vielmehr geht es der chinesischen Führung darum, basierend auf der realen Erfahrung der wirtschaftlichen Entwicklung und nationalen Befreiung, Nationalstolz zu wecken. Außerdem zeichnet sie einen starken Kontrast zwischen der Ordnung im eigenen Land und dem Chaos, der Nachlässigkeit und der Gewalt in Demokratien.
Im Abschlusskapitel formuliert Applebaum unter dem Motto „Demokraten, vereinigt euch!“ Vorschläge für Strategien zur Eindämmung der Autokratien. Hierzu zählen die Bildung einer internationalen Allianz demokratischer Staaten sowie eines internationalen Antikorruptionsbündnisses, das durch entschiedene Gesetzgebung die Transparenz des Finanzwesens wiederherstellen soll. Zudem argumentiert sie für die Regulierung sozialer Medien durch staatliche und zivilgesellschaftliche Initiativen, um die Verbreitung von Propaganda und Fake News zu verhindern. Klar ist, dass kein_e Politiker_in, keine Partei und kein Land diese Aufgabe allein bewältigen kann. Alle Politiker_innen, die verstehen, welchen Schaden Geldwäsche und Schwarzgeld in ihren Volkswirtschaften anrichten, müssten sich diesem Antikleptokratie-Netzwerk anschließen. Sie könnten dabei mit Regionalpolitiker_innen aus London, Vancouver, Miami und anderen Städten zusammenarbeiten, deren Stadtlandschaften, Immobilienmärkte und Wirtschaftsstrukturen durch Kleptokrat_innen aus Autokratien verzerrt werden.
Oft stehen die Interessenstrukturen in den westlichen Ländern einem solchen Antikorruptionsbündnis indes entgegen. Einige der reichsten und mächtigsten Amerikaner_innen und Europäer_innen spielen hier eine zweifelhafte Rolle. Es ist Zeit, sie vor die Wahl zu stellen: Wollen sie weiter Aufträge von demokratischen Regierungen und damit die Privilegien der Staatsbürgerschaft und die Rechtssicherheit der westlichen Welt genießen, so sollten sie die Beziehungen zu autokratischen Regimen einstellen. Zudem müssen wir dafür Sorge tragen, dass Überwachungstechnologie, künstliche Intelligenz und andere neue Technologien demokratischen Werten wie Menschenrechte und Transparenz verpflichtet sind.
Damit die Demokratien im Informationskrieg besser bestehen können, müssten die Regeln digitaler Information geändert werden, die derzeit oftmals den Autokraten zugutekommen. Nutzer Sozialer Medien sollten Einfluss auf die Algorithmen nehmen und selbst darüber entscheiden können, was sie zu sehen bekommen. Dazu sollten die Gesetzgeber die technischen und rechtlichen Mittel schaffen. Sie sollten auch die Konzerne zur Verantwortung ziehen, wenn deren Unternehmenspolitik extremistische und rechtswidrige Inhalte begünstigten.
In ihrem Abschlussplädoyer erinnert Applebaum uns ganz im Sinne ihrer Buchwidmung „Für die Optimisten“ daran, dass es zwar schon heute keine freiheitliche Weltordnung mehr gibt und dass der Wunsch, sie zu errichten, nicht mehr real erscheint:
„Doch es gibt freiheitliche Gesellschaften und offene und freie Nationen, die ihren Bürgern bessere Aussichten auf ein sinnvolles Leben bieten als geschlossene Diktaturen. Diese freiheitlichen Gesellschaften sind nicht perfekt. Sie haben gravierende Mängel, tiefe Gräben und sind durch historische Wunden geprägt. Umso mehr Grund, sie zu verteidigen und zu schützen.“
Viele neue Erkenntnisse mag dieses Buch nicht bringen. Der Autorin gelingt es indes, durch umfangreiche Recherchearbeit und persönliche Erfahrungen ein faktenreiches Gesamtbild von der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit des internationalen Autokraten-Netzwerkes zu zeichnen.
Applebaums Vorschläge können jedoch nicht immer überzeugen, da einige das interessengeladene Spannungsfeld zwischen politischer Demokratie und der strukturierten Verantwortungslosigkeit des Kapitalismus übersehen. Auch die Schärfe der Ablehnung der deutschen Russlandpolitik wird möglicherweise nicht von allen Leser_innen geteilt. Auch bleibt es eine offene Frage, ob all die von Applebaum genannten nichtmilitärischen Maßnahmen ausreichen, um die freiheitliche Weltordnung erfolgreich gegen den Angriff der Autokratien zu verteidigen. Zudem kann Europa sich mit der Rückkehr von Donald Trump nicht länger auf die Unterstützung der Vereinigten Staaten von Amerika verlassen.
In jedem Fall sollten wir es uns auf unserem demokratischen Sofa bei der Betrachtung des gegenwärtigen geopolitischen autokratischen Trauerspiels nicht allzu gemütlich machen. Viele Wähler_innen in westlichen Demokratien haben für Populismus und Ansätze von Autokratie votiert. Es handelt sich um einen Trend der die meisten liberalen Demokratien erfasst hat. Vergessen wir deshalb nicht unsere innenpolitischen Hausaufgaben: Was müssen konservative, liberale und linke Demokrat_innen tun, damit ihre Wähler_innen zurückkommen?
Verlag: Penguin Random HouseErschienen: 10.10.2024Seiten: 208ISBN: 978-3-8275-0176-9