Akademie für Soziale Demokratie

Andreas Kossert (2020): Flucht – Eine Menschheitsgeschichte. München: Siedler Verlag

Von der Friedrich-Ebert-Stiftung 2021 ausgezeichnet mit dem Preis "Das Politische Buch.“

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Kurzgefasst und eingeordnet von Thilo Scholle
Thilo Scholle ist Jurist und arbeitet als Referent in der Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft des Bundesministerium für Arbeit und Soziales.


buch|essenz

Kernaussagen

Flüchtlinge haben ein Gesicht, einen Namen und eine persönliche Geschichte. In der Alltagswahrnehmung vieler Menschen der aufnehmenden Gesellschaften überwiegt dennoch die Wahrnehmung des Flüchtlings als „Repräsentant eines anonymen Kollektivs“, mit dem man selbst nichts zu tun haben will. In seinem Band Flucht – Eine Menschheitsgeschichte zeichnet Andreas Kossert anhand von vielen biografischen Schilderungen ein großes Panorama von Fluchtschicksalen des 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Der Verlust von Heimat und die daraus entstehenden seelischen Verwundungen sind für Kossert neben der meist abweisenden Haltung der Aufnahmegesellschaften ein zentraler Faktor für die Schwierigkeiten vieler Flüchtlinge, sich eine neue Heimat zu schaffen.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Flucht und Vertreibung sind Themen, die die Globalgeschichte unserer Zeit prägen. Nach den Monaten der „Willkommenskultur“ der zweiten Jahreshälfte 2015 ist der gesellschaftliche Diskurs in Deutschland seitdem skeptischer geworden. Die Gewährleistung von Schutz und die Aufnahme von Flüchtlingen ist wichtiger Bestandteil einer Politik der Sozialen Demokratie. Der vorliegende Band bietet wichtige Anknüpfungspunkte für öffentliche Positionierungen, die sich Flüchtlingen und Fluchtschicksalen mit Empathie und Solidarität nähern möchten.


buch|autor

Andreas Kossert wurde 1970 in München geboren. Der promovierte Historiker arbeitete am Deutschen Historischen Institut in Warschau und lebt seit 2010 als Historiker und Autor in Berlin. Mit Kalte Heimat: die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945 legte er im Jahr 2008 einen breit rezipierten Band zu den Fluchtgeschichten Vertriebener nach 1945 und der weitgehend fehlenden Aufnahmebereitschaft der deutschen Gesellschaft vor.


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buch|inhalt

Gegliedert ist das Buch in die beiden Abschnitte „Jeder kann morgen ein Flüchtling sein“ und „Heimat. Von den Ambivalenzen eines Gefühls“ sowie das kurze Schlusskapitel „Was war, endet nicht“. Dabei geht es nicht um die Darstellung und Aufarbeitung der historischen Hintergründe oder Verläufe von Fluchtbewegungen. Im Mittelpunkt steht die Beobachtung, wie Flüchtlinge selbst ihre Situation wahrnehmen und verarbeiten – und auf welche Reaktionen sie im Zielland ihrer Flucht treffen. Das Buch enthält eine Fülle von Selbstzeugnissen von Flüchtlingen sowie literarische Texte und Gedichte.

Als Einstieg in die Darstellung skizziert Kossert eindrücklich die Fluchtgeschichte des Bauern Friedrich Biella, der im Januar 1945 seinen Hof in Masuren verlassen muss und im März 1945 im holsteinischen Herzogtum Lauenburg landet. In seinem Notizbuch notiert Biella in knappen Sätzen den Stand der Dinge. Wöchentlich besucht er die britische Militäradministration und erkundigt sich nach der Möglichkeit der Rückkehr. Am Ende kann er doch nur vermerken: „Mit der Rückfahrt noch warten“. Eine Zusammenkunft mit der nun an mehreren Orten verstreut lebenden Familie ist nicht möglich, einzig gelegentlicher Briefkontakt gelingt. Im Jahr 1947 stirbt Friedrich Biella im Alter von 73 Jahren – der Einschätzung Kosserts zufolge an Heimweh: „In der Weltchronik über das Fliehen steht seine Geschichte für Abermillionen ähnlicher Schicksale.“

Mit diesem Einstieg ist das Grundschema des weiteren Gangs der Darstellung gelegt: Die Schilderung konkreter Lebenswege erfolgt eng verwoben mit allgemeineren Einordnungen und Anmerkungen; mit Beispielen aus dem deutschen Sprachraum, aber auch aus dem Gebiet des ehemaligen osmanischen Reichs sowie aus Asien. Unabhängig von den konkreten Ursachen, die Menschen zur Flucht bewegen, ähneln sich die konkreten Erfahrungen: „Jeder muss entscheiden: Was nehme ich mit auf die Flucht? Wie viel kann ich tragen, wenn ich zu Fuß unterwegs bin? Soll ich Wertsachen, Fotos, Schmuck und Dokumente einpacken oder besser Verpflegung für die kommenden Tage?“

Jeder kann morgen ein Flüchtling sein

Wichtig ist Kossert, dass es „den“ Flüchtling nicht gibt. Individuelle Geschichten unterscheiden sich und sollen auch jeweils für sich ernst genommen werden. Neben dem persönlichen Respekt hat dies auch eine politische Dimension. „Die“ Flüchtlinge als vermeintlich gesichtslose Masse erwecken kein Mitgefühl. Im Gegenteil: In Kombinationen mit weiteren Begriffen, die sonst eher der Beschreibung von Naturphänomenen dienen wie etwa „Flut, Lawine, Welle oder Strom“, führen sie zur Wahrnehmung von flüchtenden Menschen als einer Art Naturkatastrophe, gegen die man sich nur durch den Bau ausreichend hoher Dämme schützen kann.

Flucht bedeutet zugleich eine Zäsur, den Bruch der andauernden Kontinuität mit den Vorfahren. Über Generationen weitergegebene und weiterentwickelte Investitionen, Grund und Boden, immaterieller Besitz – im Falle der Flucht bleibt alles zurück. Hinzu kommt der Verlust von Nachbarn_innen und Freunden_innen, von den Orten des eigenen Lebens und selbst von den Friedhöfen der toten Ahnen_innen. Zugleich kann diese Erfahrung von Verlust für diejenigen, die nicht fliehen mussten, völlig unverständlich bleiben.

Kossert illustriert dies beispielsweise mit einem Briefwechsel zwischen dem 1933 aus Deutschland vertriebenen jüdischen Verleger Kurt Wolff und seiner in Deutschland gebliebenen Tochter aus erster Ehe Maria im Jahr 1946. Die Tochter beklagt vor allem mit Blick auf die Härten die Krieges die „Bitternis der letzten 12 Jahre“, während der Vater versucht, Verständnis sowohl für das Schicksal der Flucht wie auch Anerkenntnis des in denselben Jahren von Deutschen massenhaft verursachten Leides zu erreichen.

Eingangs des Bandes trifft Kossert einige begriffliche Festlegungen. So benutzt er in der Darstellung konsequent den Begriff „Flüchtling“. Die in den öffentlichen Debatten mittlerweile eher geläufige Bezeichnung „Geflüchtete“ lehnt er ausdrücklich ab. Der Begriff wirkt verharmlosend, die Erfahrungen von Gewalt, Willkür und Schutzlosigkeit lassen sich so nicht erfassen. Darüber hinaus legt der Begriff nahe, dass der Prozess der Flucht bereits abgeschlossen ist – ein Trugschluss: „Flüchtlinge dagegen müssen erfahren, dass sich das Thema für sie nie erledigt.“ Ihre Heimat verlieren Flüchtlinge meistens für immer, gerettet wird oft nur das eigene Leben, während vieles andere zurückbleibt.

Ausgewählt wurden Schicksale von Menschen, die entsprechend der in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 definierten Kategorien fliehen mussten: Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugungen. Kossert plädiert dafür, diese Definition um Verfolgung wegen sexueller Orientierung zu erweitern.

Angedeutet wird zudem die Frage, ob auch Opfer von Naturkatastrophen und dauerhaften klimatischen Veränderungen erfasst werden sollten. Nicht weiter ausgeführt wird die Feststellung, der Genfer Konvention liege noch eine „weitgehend eurozentristische und vor allem weiße Weltsicht zugrunde“, deren Aktualisierung dringend erforderlich sei. Insbesondere im Zusammenhang mit Schicksalen aus dem bosnischen Bürgerkrieg geht Kossert auf das Schicksal von Frauen und die Verfolgung mit sexualisierter Gewalt ein.

Mit einem Gedicht von Bertolt Brecht wird die Abgrenzung zwischen Flucht und Auswanderung illustriert. Flucht in diesem Sinne ist nicht die Suche nach einem besseren Leben, sondern das von Dritten durch Verfolgung erzwungene Verlassen der Heimat. Thema des Buches sind ausschließlich jene, die fliehen, weil ihr Leben bedroht ist, nicht diejenigen, die ihre Heimat auf eigenen Entschluss verlassen. Nicht alle, die unter Lebensgefahr über das Mittelmeer kommen, sind in diesem Verständnis Flüchtlinge, „wobei die Übergänge zwischen Flüchtlingen und Migranten_innen fließend sein können“. Eine Rangordnung zwischen Flüchtlingen und Migranten_innen soll diese Unterscheidung bei der Festlegung des Fokus dieses Buches nicht bedeuten.

Die endlose Geschichte der Flucht

Die Geschichte der Flucht beginnt mit einem kursorischen historischen Teil: Flucht im Alten und Neuen Testament, die Vertreibung der Juden und Jüdinnen aus Spanien, die Versklavung von Menschen aus Afrika nach Amerika sowie die Vertreibung der amerikanischen Ureinwohner_innen. Die ethnisch und religiös motivierten Vertreibungen des 19. Jahrhunderts markieren eine geschichtliche Wende hin zu Konzepten „ethnischer Reinheit“, gewissermaßen als „dunkle Seite der Moderne“.

Die Darstellung von „Heimatlosen in der Neuzeit“ beginnt mit Vertreibungen innerhalb des Zarenreichs, etwa mit der heute weitgehend vergessenen Vertreibung und Ermordung der Tscherkessen_innen gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Angesprochen werden zudem die Pogrome und Vertreibungen von Juden aus dem Zarenreich im 19. Jahrhundert.

Breiten Raum nehmen Schilderungen der Vertreibungen aus und in Osteuropa über das ganze 20. Jahrhundert hinweg ein. Immer wieder stehen dabei Vertreibungen von Polen_innen im Mittelpunkt, etwa mit Beginn des deutschen Überfalls im Jahr 1939 und in der Folge die Umsiedlung und Verschiebung ethnischer Deutscher in besetzte Gebiete oder in der Sowjetunion. Dies geschah alles weitgehend ohne oder sogar gegen den Willen der Betroffenen und war stets begleitet von Gefühlen des Heimatverlustes.

Dies betrifft auch die Deportationswellen weiterer ethnischer Minderheiten innerhalb der Sowjetunion. Geschildert wird anhand persönlicher Beispiele etwa die Vertreibung der Karelier_innen aus der Sowjetunion nach Finnland – ein bis heute weitgehend vergessener Vorgang. Ausgesprochen eindrücklich sind zudem die Schilderungen von Fremdheit und Verlust in der Folge des „Bevölkerungsaustausches“ zwischen Griechenland und der Türkei seit dem Ende des Ersten Weltkriegs.

Wichtig ist in diesen Beispielen immer wieder die Erkenntnis: Die Vorstellung, mit erzwungenem Austausch ethnisch „reine“ und zugleich gesellschaftlich harmonische Situationen zu erreichen, ist ein Trugschluss. Deutlich wird im Gegenteil vielmehr: Bei denen, die sich auf den Weg machen mussten, überwiegt der Verlust der alten Heimat, während ihnen in der vermeintlich ethnisch passenderen neuen Umgebung Abneigung bis hin zu Hass entgegenschlägt. Vergleichbare Erfahrungen schildert Kossert auch mit Blick auf die Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten in Deutschland nach 1945.

Der kurze Blick auf mögliche politische Reaktionen zur Verhinderung von Flucht und Vertreibung fällt ernüchternd aus: „Die internationale Gemeinschaft steht vor dem Dilemma, dass weder Intervention noch Abstinenz zu brauchbaren Lösungen führen, und so verfolgt sie förmlich wie gelähmt die Tragödie in Syrien, die Millionen zu Flüchtlingen und Vertriebenen macht und damit zu Opfern dieses Krieges.“

Heimat. Von den Ambivalenzen eines Gefühls

Im zweiten Hauptteil des Bandes rückt der Fokus auf das Thema Heimat, entsprechend der Abfolge von Flucht oder Vertreibung unterteilt in die Kapitel „Weggehen“, „Ankommen“, „Weiterleben“, „Erinnern“. Der Abschnitt schließt mit der Frage „Wann ist man angekommen?“ Letztlich eine rhetorische Frage, da Flüchtlinge Heimat nicht einfach abschütteln können. Während andere sie wie selbstverständlich haben, ist sie für Flüchtlinge unerreichbar und in ihrer Vorstellung ständig präsent. „Wer sich seiner Heimat sicher ist, stellt keine Fragen nach der eigenen Identität, wer sie verloren hat, muss sie ständig stellen. Erzwungener Heimatverlust bringt Gewissheiten ins Wanken.“

Der Verlust dieser Gewissheiten, die Einsamkeit – kann bis zum Tod führen; sei es durch Selbstmord oder an der emotionalen Erschöpfung des erzwungenen Exils, wie dies etwa an den Beispielen des Schriftstellers Stefan Zweig und des Verlegers Bruno Cassierer deutlich wird.

Was war, endet nicht

Im letzten Abschnitt des Bandes fasst Kossert einige Stichpunkte zum politischen Umgang zusammen. Dabei besteht er auf der Beschränkung des Begriffs „Flüchtling“ im Sinne der Genfer Konvention und grenzt ihn nochmals gegen das Verlassen des Herkunftslandes aus wirtschaftlichen Gründen ab. Wer diese Grenze verwischt, hilft Menschen in Notlagen nicht. Denn es ist zu befürchten, dass die Bereitschaft zur Hilfe und Schutz nachlässt.

Wenn Flüchtlinge vorübergehend Aufnahme finden, müssen klare Regeln gelten und eingehalten werden. Nötig sind zügige und transparente Anerkennungsverfahren sowie bei Ablehnung die schnelle Durchsetzung von Ausreise oder Ausweisung. „So würde die Handlungsfähigkeit des Staates demonstriert und zugleich in einer weltoffenen Gesellschaft mehr Akzeptanz für Flüchtlinge geschaffen werden.“ Abzuwägen ist zwischen „berechtigten Bedürfnissen der aufnehmenden Gesellschaften“ und der „notwendigen Solidarität für Flüchtlinge“.


buch|votum

Andreas Kossert gelingt ein beeindruckendes und sehr empathisches Buch zum Schicksal von Flüchtlingen und er hält damit auch die Erinnerung an den Schmerz von Flucht und Heimatverlust wach.

Analytisch ergibt die vorgenommene Beschränkung des Bandes auf Flüchtlinge Sinn. Zugleich lässt sich – wie vom Autor mitunter angedeutet – diese Einteilung in der konkreten Betrachtung nicht immer konsequent treffen. Jenseits der unmittelbaren Vertreibung mit der Waffe besteht ein breites Feld von Nuancen. Mit dem Verweis auf Klimawandel und Naturkatastrophen deutet Kossert selbst an, dass neben den bislang in der Genfer Konvention kodifizierten Fluchtgründen weitere denkbar sein können. Die beschriebenen Gefühle von Verlust und Entwurzelung dürften zudem auch bei Menschen, die aus ökonomischen Gründen migrieren oder als Kinder oder Alte auf diesem Weg mitgenommen werden, ähnlich sein.

So ist die Unterscheidung von Fluchtgründen, bei denen es unmittelbar um den Schutz von Leib und Leben geht oder „nur“ um wirtschaftliche Faktoren, grundsätzlich legitim. Die Unterscheidung ist zugleich eine der politisch und humanitär schwierigsten Gestaltungsfragen bei der Entwicklung einer solidarischen Migrationspolitik. Darüber hinaus zeigt Kossert am Umgang mit den Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, dass das reale Bestehen von Vertreibung und Verfolgung keineswegs automatisch zu einer hohen Akzeptanz von Flüchtlingen führen muss.

Andreas Kossert macht deutlich, dass Flucht ein schwerer Lebenseinschnitt ist. Und dass das Verlassen der Heimat, die Aufgabe seines bisherigen Lebens und die Ankunft und das Zurechtfinden an einem Ort, an dem man eigentlich gar nicht sein wollte, eine große Herausforderung ist. Ohne Solidarität und das Verständnis für diese Situation seitens der Aufnahmegesellschaften kann diese Herausforderung nicht bewältigt werden.

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Verlag: Siedler Verlag
Erschienen: 12. Oktober 2020
Seiten: 432
EAN: 978-3-8275-0091-5

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