Wichtig ist Kossert, dass es „den“ Flüchtling nicht gibt. Individuelle Geschichten unterscheiden sich und sollen auch jeweils für sich ernst genommen werden. Neben dem persönlichen Respekt hat dies auch eine politische Dimension. „Die“ Flüchtlinge als vermeintlich gesichtslose Masse erwecken kein Mitgefühl. Im Gegenteil: In Kombinationen mit weiteren Begriffen, die sonst eher der Beschreibung von Naturphänomenen dienen wie etwa „Flut, Lawine, Welle oder Strom“, führen sie zur Wahrnehmung von flüchtenden Menschen als einer Art Naturkatastrophe, gegen die man sich nur durch den Bau ausreichend hoher Dämme schützen kann.
Flucht bedeutet zugleich eine Zäsur, den Bruch der andauernden Kontinuität mit den Vorfahren. Über Generationen weitergegebene und weiterentwickelte Investitionen, Grund und Boden, immaterieller Besitz – im Falle der Flucht bleibt alles zurück. Hinzu kommt der Verlust von Nachbarn_innen und Freunden_innen, von den Orten des eigenen Lebens und selbst von den Friedhöfen der toten Ahnen_innen. Zugleich kann diese Erfahrung von Verlust für diejenigen, die nicht fliehen mussten, völlig unverständlich bleiben.
Kossert illustriert dies beispielsweise mit einem Briefwechsel zwischen dem 1933 aus Deutschland vertriebenen jüdischen Verleger Kurt Wolff und seiner in Deutschland gebliebenen Tochter aus erster Ehe Maria im Jahr 1946. Die Tochter beklagt vor allem mit Blick auf die Härten die Krieges die „Bitternis der letzten 12 Jahre“, während der Vater versucht, Verständnis sowohl für das Schicksal der Flucht wie auch Anerkenntnis des in denselben Jahren von Deutschen massenhaft verursachten Leides zu erreichen.
Eingangs des Bandes trifft Kossert einige begriffliche Festlegungen. So benutzt er in der Darstellung konsequent den Begriff „Flüchtling“. Die in den öffentlichen Debatten mittlerweile eher geläufige Bezeichnung „Geflüchtete“ lehnt er ausdrücklich ab. Der Begriff wirkt verharmlosend, die Erfahrungen von Gewalt, Willkür und Schutzlosigkeit lassen sich so nicht erfassen. Darüber hinaus legt der Begriff nahe, dass der Prozess der Flucht bereits abgeschlossen ist – ein Trugschluss: „Flüchtlinge dagegen müssen erfahren, dass sich das Thema für sie nie erledigt.“ Ihre Heimat verlieren Flüchtlinge meistens für immer, gerettet wird oft nur das eigene Leben, während vieles andere zurückbleibt.
Ausgewählt wurden Schicksale von Menschen, die entsprechend der in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 definierten Kategorien fliehen mussten: Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugungen. Kossert plädiert dafür, diese Definition um Verfolgung wegen sexueller Orientierung zu erweitern.
Angedeutet wird zudem die Frage, ob auch Opfer von Naturkatastrophen und dauerhaften klimatischen Veränderungen erfasst werden sollten. Nicht weiter ausgeführt wird die Feststellung, der Genfer Konvention liege noch eine „weitgehend eurozentristische und vor allem weiße Weltsicht zugrunde“, deren Aktualisierung dringend erforderlich sei. Insbesondere im Zusammenhang mit Schicksalen aus dem bosnischen Bürgerkrieg geht Kossert auf das Schicksal von Frauen und die Verfolgung mit sexualisierter Gewalt ein.
Mit einem Gedicht von Bertolt Brecht wird die Abgrenzung zwischen Flucht und Auswanderung illustriert. Flucht in diesem Sinne ist nicht die Suche nach einem besseren Leben, sondern das von Dritten durch Verfolgung erzwungene Verlassen der Heimat. Thema des Buches sind ausschließlich jene, die fliehen, weil ihr Leben bedroht ist, nicht diejenigen, die ihre Heimat auf eigenen Entschluss verlassen. Nicht alle, die unter Lebensgefahr über das Mittelmeer kommen, sind in diesem Verständnis Flüchtlinge, „wobei die Übergänge zwischen Flüchtlingen und Migranten_innen fließend sein können“. Eine Rangordnung zwischen Flüchtlingen und Migranten_innen soll diese Unterscheidung bei der Festlegung des Fokus dieses Buches nicht bedeuten.