Interview Demokratie und Gesellschaft Verbote sind ein legitimes Mittel der Politik 29.09.2023 Philipp Lepenies Konkrete Transformationsvorschläge, die zu Veränderungen des persönlichen Konsumverhaltens führen würden, erzeugen immer wieder Empörung. Die Ablehnung einer Verbotspolitik ist jedoch unverantwortlich, populistisch und gefährlich, so Philipp Lepenies. Bild: Urheber: picture alliance / Cover Images | Cover Images Freitag, 29.09.2023 Demokratie und Gesellschaft Interview Die Sozialdemokratie und der aktive Staat – eine Bestandsaufnahme Österreich – ein Staat mit Definitionsschwierigkeiten? Michael Rosecker wirft einen analytischen Blick auf die Geschichte von Sozialdemokratie und einem aktiven Staatsverständnis in Österreich. Ansprechpartnerin Julia Bläsius 030 26935-8327 Julia.Blaesius(at)fes.de Bild: Urheber: picture alliance/vizualeasy | Janny Eine wirkliche Debatte über Transformation findet in Deutschland gar nicht statt. Sie wird sei über zehn Jahren bewusst verhindert. Sie wird verhindert von Politiker_innen aller Parteien, von den Medien, von Vertretern der Industrie und auch von vielen Bürger_innen. Wie meine ich das? Jedes Mal, wenn es um konkrete Transformationsvorschläge geht, die zu Veränderungen des persönlichen Konsumverhaltens führen würden, kommt es zu lautstarker Empörung. Dabei wird eine besondere rhetorische Keule geschwungen. Sie lautet: „Das ist Verbotspolitik!“ Ein Totschlagargument. Verbotspolitik ist eine Politik, die für viele inakzeptabel ist. Neben Verbotspolitik spricht man auch von einer rundweg abzulehnenden „Politik von Verbot und Verzicht“, warnt vor einer drohenden „Ökodiktatur“ und vor der Gefährlichkeit eines „gestaltenden Staates“, der Verbotspolitik gegen den Willen aller durchsetzen will. Verbot und Verzicht sind die V-Wörter der deutschen Politik. Verbot und Verzicht werden so dargestellt, als wären es die allergrößten und allerschlimmsten Zumutungen, die man sich vorstellen könnte. Die Ablehnung einer Verbotspolitik ist jedoch unverantwortlich, populistisch und gefährlich. Sie ist unverantwortlich, weil es im Lichte der Klimakatastrophe vollkommen absurd ist zu glauben, dass wir unseren Lebensstil nicht radikal verändern müssten. Wenn Freiwilligkeit keine Wirkung zeigt, wie soll man diese Veränderungen erreichen, wenn nicht durch Verbote? Die rhetorische Keulte „Das ist mal wieder Verbotspolitik!“ kritisiert pauschal ein politisches Instrument. Sie erlaubt keine konstruktive Debatte über Alternativen. Man ist gegen Verbote, weil sie Verbote sind. Die generelle und leidenschaftliche Ablehnung von Verbotspolitik ist kognitiv dissonante Realitätsverweigerung. Die Ablehnung von Verbots- oder Verzichtspolitik ist populistisch, weil sie Bürgern beruhigende, aber fatale Signale sendet: So wie ihr lebt, ist es richtig. Euer Konsum darf so bleiben wie er ist – ihr müsst auf nichts verzichten. Man darf Euch nichts wegnehmen. (Sozialdemokraten erinnern sich vielleicht an das Interview des Bundeskanzlers in der Tageszeitung taz im Januar dieses Jahrs. Dabei fiel der Satz: „Ich halte nichts von der Verzichtserzählung“). Bemerkenswerterweise machen sich mit dieser argumentativen Strategie bestimmte politische Akteure zum Anwalt derjenigen Bevölkerungsschichten, deren materielles und finanzielles Wohlergehen ihnen in der Vergangenheit ziemlich egal war. Populistisch und verantwortungslos ist auch die Vorstellung, dass die Klimakatastrophe durch irgendwelche Zaubermechanismen aufgehalten werden könnte – die nicht auf Verbote und Verzicht hinauslaufen und – platt gesagt – nicht wehtun: Neue Wundertechnologien, die Magie des Preises oder von Zertifikaten etc. Gefährlich ist das Bild des Staates, das in dieser Debatte kultiviert wird. Der Staat ist ein Gegner, der sich maximal aus dem Leben der Bürger herauszuhalten hat. Die Vorstellung eines „gestaltenden Staates“ ist negativ besetzt. Es ist ein Zeichen von illegitimer Übergriffigkeit. Idealisiert wird das Individuum und dessen Freiheit, wobei Freiheit auf privaten Konsum reduziert wird. Staatsphobie und die Verklärung ungehemmten Privatkonsums als höchsten Ausdruck von Freiheit charakterisieren unsere Zeit. Der Souverän ist nicht das Volk. Der Souverän ist der Konsument. Tugendhafte Politik ist für viele eine Politik des Unterlassens. Des Nicht-Eingreifens, des Nicht-Gestaltens. Diese Norm einer Politik im Geiste des Unterlassens wird von all denjenigen Politikern befördert, die mit dem Schlachtruf: „Das ist Verbotspolitik!“ Politik machen. Es sind aber auch Bürger, die genau eine solche Politik lautstark einfordern und als die einzig richtige sehen. Sie werden von vielen Seiten in dieser Haltung bestärkt. Machen wir uns nichts vor. Eine Transformation ohne eine aktive Rolle des Staates wird es nicht geben. Je mehr die Zeit drängt, umso stärker wird die aktive Rolle des Staates ausfallen – sofern man das mit der Transformation ernst nimmt. Es geht in dieser Runde nicht darum, welche konkreten Konsummuster wir ändern müssten. Es geht um viel wichtigere Fragen: Welches Bild vom Staat brauchen wir für eine gelingende Transformation? Wie ersetzten wir das negative Bild eines Staates, der unser Gegner ist? Wie kommen wir von der Vorstellung weg, dass Freiheit nur individuelle konsumtive Freiheit meint? Wie schaffen wir, dass Menschen demokratischen Prozessen und dem Staat vertrauen? Dass Menschen akzeptieren und verstehen, dass sie selbst der Staat sind? Wie kann Akzeptanz und ein Bewusstsein dafr entstehen, dass Regieren eben auch vernünftige Verhaltenssteuerung heißen muss – und immer schon bedeutete. Wäre das nicht so, gäbe es gar keine Begründung für „den Staat.“ Wie kann Akzeptanz dafür entstehen, dass in der Transformation nicht Gängelung und Paternalismus liegt, sondern auch die Möglichkeit, das Leben vieler Menschen langfristig und nachhaltig zu verbessern? Zu viele Politiker_innen haben eine Vorstellung von Politik entwickelt, die eine aktive, gestalterische Rolle bewusst negiert. Sie feiern sich selbst für diese Haltung. Aber eine Politik des Unterlassens verhindert nicht nur Transformation. Eine solche Politik kann Demokratie zerstören. Ich fürchte, sie tut es bereits. Prof. Dr. Philipp Lepenies ist Professor für Politik mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Dieses Thesenpapier wurde für den Workshop „Kontroversen zum Staatsverständnis in der Transformation“ verfasst, welcher am 29. September 2023, veranstaltet von der Friedrich-Ebert-Stiftung, in Berlin stattgefunden hat.