Die Bewältigung globaler Krisen erfordert eine andere, progressive Handelspolitik

von Sabine Stephan



Corona-Pandemie paralysiert Weltwirtschaft

Die Corona-Krise hat schonungslos offenbart, wie verwundbar die Weltwirtschaft aufgrund ihrer stark arbeitsteilig organisierten Produktion in globalen Wertschöpfungsketten ist. Da die Corona-Pandemie nach und nach alle Regionen der Welt erfasst und dort die jeweiligen Volkswirtschaften lahmlegt, verzeichnet die Weltwirtschaft in diesem Jahr die schwerste Rezession seit den 1930er Jahren und einen historisch starken Einbruch beim Welthandel.

Die Auswirkungen, die die Corona-Pandemie auf die Wirtschaft und Gesellschaft in Europa bislang hatte, wären bis vor Kurzem noch unvorstellbar gewesen. Nicht nur, dass aufgrund der hoch arbeitsteilig organisierten Produktionsprozesse bereits nach kurzer Zeit europaweit die Bänder in der Industrie stillstanden, weil notwendige Zulieferungen aus anderen EU-Ländern oder Drittländern ausblieben. Besonders einschneidend war die Erfahrung, dass viele Länder nicht in der Lage waren, ihre Gesundheitssysteme in ausreichendem Maße mit relevanten medizinischen Gütern wie Atemschutzmasken, Desinfektionsmitteln oder Schutzkleidung zu versorgen.

Diese existenzielle Erfahrung dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass die Risiken der Globalisierung derzeit wieder stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt sind. Während Wirtschaft und Politik jahrzehntelang jegliche Globalisierungskritik unter Verweis auf die starke Exportabhängigkeit der EU abschmetterten, mehren sich angesichts der Auswirkungen der Corona-Krise jetzt die Stimmen derer, die eine Kurskorrektur anmahnen: Statt auf Spezialisierung, Kosteneffizienz und Just-in-time-Produktion zu setzen, sollen sich Unternehmen künftig breiter aufstellen, ihre Abhängigkeit von einzelnen Regionen und Produzent_innen reduzieren und Lieferketten sichern, indem sie ihre Zulieferer regional diversifizieren und die Lieferbeziehungen zur besseren Kontrolle stärker regional ausrichten.

A Stronger Europe in the World

Die EU-Kommission hat als Konsequenz aus der Corona-Krise angekündigt, die Handels- und Investitionspolitik zu überprüfen und an den neuen politischen Leitlinien mit dem programmatischen Titel „Open Strategic Autonomy“ auszurichten. Diese Leitlinien legen fest, wie der Aufbau Europas in Zukunft gestaltet werden soll, damit die EU wirtschaftlich, (geo-)politisch und institutionell gestärkt und damit widerstandsfähiger aus der Corona-Krise hervorgeht und für kommende Herausforderungen besser gerüstet ist. Die EU-Kommission will die Vorteile des internationalen Handels weiter nutzen, aber die damit verbundenen Risiken und Nachteile reduzieren. Deshalb ist sie bestrebt, ein Instrumentarium zu entwickeln, mit dem sie die eigenen Interessen auf unterschiedlichen Ebenen effektiver durchsetzen kann.

In den vergangenen Jahrzehnten konnte die EU stark von der Globalisierung profitieren. Der Außenhandel hat einen wesentlichen Beitrag zum Wirtschaftswachstum und damit zum steigenden Wohlstand in der EU geleistet. Gleichzeitig ist durch die zunehmende internationale Verflechtung die Abhängigkeit vom Ausland gestiegen; derzeit hängt jeder siebte Arbeitsplatz in der EU am Export. Für die EU-Kommission kommt eine Abkehr vom internationalen Handel deshalb nicht infrage. Vielmehr hat sie ein substanzielles Interesse an einem funktionsfähigen Welthandelssystem, dessen Regeln von allen Beteiligten eingehalten werden bzw. das für den Fall von Regelverstößen über einen durchsetzungsstarken Sanktionsmechanismus verfügt. Deshalb hat sie wiederholt ihre Ambitionen bekräftigt, eine Führungsrolle bei der Reform der Welthandelsorganisation (WTO) zu übernehmen. So lange dieser Prozess jedoch stockt, versucht die EU mit gleichgesinnten Partnern, ein multilaterales regelbasiertes Handelssystem aufrechtzuerhalten und die Blockade des Streitbeilegungssystems in der WTO durch die USA mit einer Übergangslösung zu überbrücken.

Neben dem Engagement für starke multilaterale Regeln gehört die konsequente Durchsetzung bestehender Handelsverträge zu den obersten Prioritäten der EU-Kommission. Die EU will von den Handelsverträgen, die derzeit mit 76 Ländern rund um den Globus bestehen, stärker profitieren, indem sie die von ihren Handelspartnern eingegangenen Verpflichtungen (z. B. die Öffnung von Märkten) konsequenter durchsetzt und mit handelspolitischen Abwehrmaßnahmen entschlossener gegen unlautere Geschäftspraktiken vorgeht. Zu diesem Zweck wurde Anfang 2020 die Funktion des Leitenden Handelsbeauftragten (Chief Trade Enforcement Officer) geschaffen.

Eine weitere Priorität der EU-Kommission ist die Stärkung der Resilienz europäischer Wertschöpfungsstrukturen. Deshalb sollen zum einen bestehende Produktions- und Lieferverflechtungen untersucht werden, um Abhängigkeiten von einzelnen Regionen oder Unternehmen zu erkennen und durch Diversifizierung bzw. den Aufbau strategischer Reserven oder umfangreicherer Lager zu entschärfen. Zum anderen will die EU-Kommission die Industriepolitik stärker an dem politischen Ziel ausrichten, die strategische Unabhängigkeit Europas zu sichern. Industrien oder Technologien, die eine strategische Bedeutung haben, sollen gezielt in Europa gefördert, gehalten und gegebenenfalls (wieder) angesiedelt werden. Zudem verstärkt die EU ihre Vorkehrungen, um die Übernahme relevanter Unternehmen durch ausländische Investor_innen erschweren oder gar untersagen zu können.

Auch wenn die EU-Kommission den Diskussionsprozess über die Neuausrichtung ihrer Handelspolitik gerade erst mit einer EU-weiten öffentlichen Konsultation angestoßen hat, zeigt ihr Konsultationspapier, dass sie von sich aus keine grundlegende Reform ihrer Handelspolitik anstrebt, sondern an ihrem bisherigen Kurs festhalten will: Nach wie vor betrachtet sie den internationalen Handel als Motor und Garant für Wirtschaftswachstum und will mit ihrer neoliberalen Handelspolitik sicherstellen, dass die EU-Wirtschaft in den kommenden Jahren maximal von den Wachstumschancen im Ausland profitiert.

Handelspolitik vom Kopf auf die Füße stellen!

Allerdings könnte die Corona-Krise dem angestrebten „Weiter so“ der EU-Kommission einen Strich durch die Rechnung machen. Denn die vergangenen Monate haben deutlich gezeigt, dass die Bewältigung globaler Krisen auf Ebene der Nationalstaaten stattfindet und dass diese dafür entsprechende Handlungsspielräume brauchen. Und gerade diese Handlungsspielräume sind von der neoliberalen Handelspolitik in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter eingeschränkt worden. In der Notsituation der Corona-Pandemie haben sich die Nationalstaaten diesen Handlungsspielraum einfach genommen und dabei gegen WTO-Regeln, Handels- oder Investitionsschutzverträge verstoßen, was sie im Nachhinein jedoch teuer zu stehen kommen könnte. Einschlägige Wirtschaftskanzleien stehen bereits in den Startlöchern, um Staaten für Maßnahmen, die sie zur Bewältigung der Corona-Pandemie ergriffen haben, mithilfe von Investor-Staat-Schiedsverfahren (Investor-State Dispute Settlement – ISDS) zu verklagen und zur Kasse zu bitten.

Hier zeigt sich die ganze Perversion der Sonderklagerechte für ausländische Investor_innen. Multinationale Konzerne, die in der Corona-Krise vielleicht sogar mit riesigen Summen aus Steuermitteln unterstützt wurden, können sich aufgrund von Sonderrechten, die nur ausländischen Investor_innen gewährt werden, an Nationalstaaten schadlos halten, die sich bereits stark verschuldet haben, um die Krise zu bekämpfen. Sollten diese Länder jetzt auch noch zu Schadenersatzzahlungen an ausländische Investor_innen verpflichtet werden, würde das ihre wirtschaftliche Erholung massiv behindern und verzögern.

Eine wichtige Lehre aus der Corona-Krise ist daher, dass wir dringend grundlegende Kurskorrekturen in der Handelspolitik brauchen, wenn wir globale Herausforderungen – sei es eine Virus-Pandemie, die Klimakrise oder die ökonomische und soziale Ungleichheit – meistern wollen. Der notwendige Anstoß für diese Veränderungen könnte von Deutschland kommen, das die Überwindung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie ebenso wie die Klimapolitik zu wichtigen Themenschwerpunkten seiner EU-Ratspräsidentschaft erklärt hat. Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung dieser Agenda ist allerdings, dass der Handelspolitik die Sonderrolle genommen wird, die sie in den vergangenen Jahrzehnten für sich beansprucht und durchgesetzt hat. So lange jede staatliche Regulierungsmaßnahme, die multinationalen Unternehmen Beschränkungen auferlegt und damit ihr Gewinnstreben begrenzt, von diesen auf Basis von Handels- oder Investitionsschutzverträgen angegriffen und damit verzögert oder gar verhindert werden kann, werden wir bei der Bewältigung globaler Herausforderungen keine nennenswerten Fortschritte erzielen.

Die Anforderungen an eine progressive Handelspolitik sind offensichtlich:

  • Es gibt höhere gesellschaftliche Ziele wie den Schutz von Mensch und Umwelt, denen sich die Handelspolitik unterordnen muss und deren Erreichen sie weder be- noch verhindern darf.
  • Nationale Regierungen müssen ihren Handlungs- und Gestaltungsspielraum zurückerhalten, um schnell und effektiv auf globale Krisen, aber auch auf sonstige große Herausforderungen reagieren zu können. Dabei müssen sie dem Gemeinwohl Vorrang vor privaten Interessen einräumen dürfen. Das bedeutet, dass das Right to Regulate (das heißt das Recht des Staates, Regulierungsmaßnahmen zu ergreifen, die im öffentlichen Interesse sind) durch die Handelspolitik nicht eingeschränkt werden darf. Des Weiteren muss der Liberalisierungsdruck auf öffentliche Dienstleistungen beendet und sichergestellt werden, dass bei der öffentlichen Auftragsvergabe ökologische und soziale Kriterien angewendet werden können.
  • Alle Verträge, in denen ausländischen Investor_innen Sonderklagerechte in einem parallelen privaten Rechtssystem eingeräumt werden, müssen mit sofortiger Wirkung ausgesetzt und gekündigt werden.
  • Die sogenannten Ausschüsse, wie sie im Handelsabkommen mit Kanada (CETA – Comprehensive Economic and Trade Agreement) vereinbart sind, können in vielen Bereichen Entscheidungen treffen, die weder von den nationalen Parlamenten noch vom EU-Parlament korrigiert werden können. Da diese Ausschüsse die Kompetenz zur verbindlichen Auslegung des gesamten Vertrages haben, können sie Konzerninteressen in völkerrechtlich verbindliche Regeln gießen und damit den Handlungsspielraum der Politik unwiderruflich einschränken. Dementsprechend müssen Verträge, die dieses Instrument beinhalten, mit sofortiger Wirkung ausgesetzt und gekündigt werden.

Wird sich ein offener Wirtschaftsraum wie die EU mit einer solch grundlegenden Kursänderung in der Handelspolitik den Boden für Wachstum und Wohlstand in Europa entziehen? Nein, keineswegs. Denn die aufgezählten Maßnahmen implizieren weder eine Abkehr vom freien Handel noch von der Globalisierung, sondern beschneiden lediglich die Auswüchse der Hyperglobalisierung. Was wir brauchen, ist eine intelligent gestaltete Globalisierung, keine maximale.
 


Über die Autorin

Dr. Sabine Stephan ist die Außenhandelsexpertin des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.


Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die Langfassung des Textes ist als WISO direkt erschienen.

 

 

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