Lateinamerikanische Gewerkschaften: Mit dem Rücken zur Wand

Gewerkschaften sind wichtige Akteure im Kampf für soziale Gerechtigkeit. In Lateinamerika stehen sie jedoch "mit dem Rücken zur Wand" – ein Interview mit Achim Wachendorfer

Demo von Gewerkschaften in São Paulo, Brasilien 2020

Bild: Demo von Gewerkschaften in SP 2020 von Roberto Parizotti

 

Achim Wachendorfer war für die FES in Lateinamerika tätig, u. a. in Argentinien, Brasilien, Uruguay, und dabei auch für verschiedene regionale Gewerkschaftsprojekte zuständig. Wir sprechen mit ihm über seine aktuelle Publikation »Lateinamerikanische Gewerkschaften: Mit dem Rücken zur Wand«.

 

In Deiner Analyse schreibst du über die Vielfältigkeit der lateinamerikanischen Gewerkschaften und ihre historische Bedeutung. Kannst du uns einen kleinen Einblick geben?

Gewerkschaften spielten nicht nur ökonomisch und sozial, sondern oft auch politisch eine wichtige Rolle in der Entwicklung Lateinamerikas. Nur einige Beispiele: In Bolivien waren sie zentraler Träger der sozialen und politischen Revolution von 1952. Gewerkschaften trugen entscheidend zur Überwindung der Militärdiktaturen und zur Rückkehr zur Demokratie im südlichen Lateinamerika in den achtziger Jahren der 20. Jahrhunderts bei. Auch beim Aufstieg der progressiven Regierungen in Brasilien und Uruguay spielten sie eine wichtige Rolle. Aber man sollte auch nicht vergessen, dass Teile der Gewerkschaften in den 1990er Jahren die neoliberale Politikagenda unterstützten oder sich jahrzehntelang mit demokratisch fragwürdigen Regierungen arrangierten.

Aktuell befinden sich die Gewerkschaften in einer schwierigen Situation. Wie Du schreibst, ist ihre Bedeutung in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen. Woran lässt sich das festmachen?

Die neoliberale Welle in den 1990er Jahren hat generell die Relevanz der Gewerkschaften drastisch reduziert. In den meisten Ländern erholten sich die Gewerkschaften nicht von diesen Rückschlägen. Nur im südlichen Lateinamerika konnten die Gewerkschaften wichtige Positionen halten, teilweise auch begünstigt durch die Politik der progressiven Regierungen. Doch auch hier hat sich das Blatt gewendet. Mit der Ausnahme Argentiniens kamen dort in den letzten Jahren rechtsliberale oder rechtsradikale Regierungen ins Amt. Besonders dramatisch ist der Fall Brasilien, wo eine rechtsradikale Regierung mit allen Mitteln gegen Gewerkschaften vorgeht.

Politische Faktoren spielen eine wichtige Rolle, aber es besteht auch interner Reformbedarf bei den Gewerkschaften, oder?

Stimmt, es wäre zu kurz gegriffen, die schwierige Lage der Gewerkschaften nur auf äußere Bedingungen zurückzuführen. In vielen Fällen wird das Entwicklungspotential der Gewerkschaften durch verkrustete Strukturen, undemokratische Willensbildungsprozesse, fehlende Genderpolitik etc. begrenzt. Von zentraler Bedeutung für das »Standing« der Gewerkschaften wird auch ihre Fähigkeit bleiben, Allianzen mit anderen gesellschaftlichen und politischen Akteuren einzugehen.

Haben Gewerkschaften in Lateinamerika denn eine Zukunft? Sind Sie in der Lage, die anstehenden Probleme anzugehen und verloren gegangenes Terrain wiederzugewinnen?

Die Situation ist in der Tat dramatisch. Auf der einen Seite begrenzt der heterogene Arbeitsmarkt mit hoher Informalität die gewerkschaftliche Organisierung. Auf der anderen Seite sehen sich Gewerkschaften zunehmend Attacken durch konservative und rechtsradikale Regierungen ausgesetzt. Die heftigen sozialen Proteste im vergangenen Jahr in Südamerika verdeutlichen zudem, dass die Gewerkschaften nicht mehr die Speerspitze sozialer Mobilisierung sind, sondern diese Rolle mittlerweile Akteure wie die Bewegungen von Frauen, Studierenden und Indigenen wahrnehmen. Allerdings hat sich auch gezeigt, dass solche Proteste eine ungleich größere Wirkung entfalten können, wenn sie von Gewerkschaften, zum Beispiel durch Streiks, mitgetragen werden. Dies ist sicherlich ein wichtiger Hinweis darauf, dass Gewerkschaften, wenn auch in geringerem Maße als früher, weiterhin Bedeutung haben werden.

Doch werden die prognostizierten Veränderungen des Arbeitsmarktes, u. a. infolge der Digitalisierung, auch die Gewerkschaften betreffen. Zwar ist die Datenlage noch unsicher, aber wir können davon ausgehen, dass gerade in den Bereichen, in denen Gewerkschaften noch einigermaßen relevant sind, Arbeitsplätze verloren gehen werden. Auch infolge der COVID-19-Krise wird die Zahl informeller Arbeitsplätze weiter steigen, was für die Gewerkschaften ebenfalls keine gute Nachricht ist. Diese Zeiten verlangen viel Durchhalte- und Anpassungsvermögen von den Gewerkschaften. Da es vielerorts um die Verteidigung von sozialen und Arbeitsrechten geht, kommt ihnen weiterhin eine wichtige Rolle zu.

 

Wachendorfer, Achim

Mit dem Rücken zur Wand

Lateinamerikanische Gewerkschaften
Berlin, 2020

Publikation herunterladen (230 KB, PDF-File)


Ansprechpartner_innen

Mirko Herberg

+49 (0)30 26935-7458
Mirko.Herberg(at)fes.de

Matthias Weber

+49 (0)30 26935-7744
Matthias.Weber(at)fes.de 

weitere Ansprechpartner_innen

Gewerkschaften im Wandel

Gewerkschaften im Wandel

Das Projekt „Gewerkschaften im Wandel 4.0“ wurde von der FES initiiert und hat zum Ziel, die Interessenvertretung von Beschäftigten im digitalen Kapitalismus zu verstehen. weiter

nach oben