Was hat uns die Ölpreiskrise von 1973 heute zu sagen?

Die Rede von der Krise ist allgegenwärtig. Explodierende Preise und Energiekosten, Krieg in Europa, Staatsverschuldung, Inflation – am Beginn eines vielbeschworenen Modernisierungsjahrzehnts steht die Politik vor immensen Herausforderungen. Eine schwere Energiekrise gab es 1973 schon einmal. Die Parallelen sind frappierend. Wie reagierte die Politik damals und was kann uns der Blick auf die Geschichte sagen?

Bild: Sonntagsfahrverbot, leere Autobahn, November 1973; Rechte: J.H. Darchinger/Friedrich-Ebert-Stiftung [6/FJHD002446].

„Die Krise, an deren Anfang wir erst stehen, ist nicht zu verharmlosen. […] Die junge Generation erlebt zum ersten Mal, was ein gewisser Mangel bedeuten kann.“ Dieses Zitat könnte von Olaf Scholz stammen, doch die Sätze mit Zeitenwende-Anklang sprach ein anderer sozialdemokratischer Kanzler: Willy Brandt, als er im November 1973 eine Reihe von autofreien Sonntagen ankündigte. Was war passiert?

Vor fast genau 50 Jahren, am 6. Oktober 1973, dem höchsten jüdischen Feiertag Jom-Kippur, brach zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn erneut ein Krieg aus. Die Preise für Rohöl waren bereits seit der Dollarabwertung im Februar 1973 gestiegen, was die Erzeugerländer hatte unruhig werden lassen. Im Zuge des Angriffskriegs von Ägypten, Syrien und weiteren arabischen Staaten gegen Israel drosselte die Organisation der arabischen Erdöl exportierenden Staaten (OAPEC) bewusst die Fördermengen um etwa 5 Prozent. Öl als politisches Druckmittel gegen die westlichen Industrieländer, die Israel und dessen Politik gegenüber den Palästinensern unterstützten. Die Folge: Bis zum Jahresende 1973 stieg der Ölpreis auf das Vierfache, was in Deutschland eine bereits bestehende Inflationsproblematik verstärkte. Der „Ölschock“ markierte eine tiefe Zäsur in der zeitgenössischen Wahrnehmung. Heute ist er zu einem Sinnbild für das Ende des Nachkriegsbooms geworden.

Die verwaisten Autobahnen hatten schon damals starke Symbolkraft. Flankiert wurden die Fahrverbote von weiteren Maßnahmen zur akuten Krisenbehandlung: Die Regierung setzte Anreize zum Energiesparen und führte ein Tempolimit ein. 1974 wurde die Zeitumstellung beschlossen, um Energie in den Morgenstunden zu sparen. Auch wurden neue Regelungen und Gesetze auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene geschaffen: 1974 wurde die Internationale Energieagentur (IEA) gegründet, eine europäische Norm zum Vergleich des Benzinverbrauchs von Autos eingeführt und ein europäischer Energieausschuss gebildet. Haushaltsgeräte mussten von nun an mit Etiketten zum Energieverbrauch versehen werden. Die Bundesregierung förderte erste Wärmedämmungen an Gebäuden. Auch ein Entlastungspaket von 300 DM pro Winter für die unteren Einkommensgruppen wurde geschnürt.

Energiesparanreize, Entlastungspakete, Tempolimit? Die Debatten der Krise vor 50 Jahren ähneln den heutigen in verblüffender Weise. Doch weitere Parallelen sind augenfällig. „Was würde in unserem Land geschehen, mit unserem Wohlstand und unserer Demokratie, wenn plötzlich Massenarbeitslosigkeit ausbräche?“, fragte die Süddeutsche Zeitung am 22. November 1973 und brachte damit die in Politik und Öffentlichkeit tiefsitzende Sorge zum Ausdruck, die gerade erst drei Jahrzehnte alte Demokratie der Bundesrepublik könnte an der ersten schweren ökonomischen Krise der Nachkriegszeit zerbrechen. Auch heute gibt es berechtigte Sorgen um die Demokratie. Ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft und die Stärkung populistischer und extremer Kräfte drohen, wenn es nicht gelingt, die Lasten der Krise gerecht zu verteilen.

Und zudem: Der heutige „Gasschock“ geht wie der damalige „Ölschock“ mit einem Erkenntnisschock einher – der Erkenntnis, in hohem Maße abhängig zu sein von Rohstoffen, deren Zugang sich der eigenen Kontrolle entzieht. Dabei bleibt der Eindruck eines sich schlagartig durchsetzenden Bewusstseins dieser Abhängigkeit heute so unverständlich wie damals. Wie von der zeithistorischen Forschung herausgearbeitet, hatten insbesondere die europäischen Industrienationen ihre Abhängigkeit von Öl aus dem Mittleren und Nahen Osten schon Jahre vor der Krise 1973 erkannt, sie aber dennoch nicht korrigiert. Wie heute kam auch die Krise damals keinesfalls aus heiterem Himmel.

Zu den Ironien dieser Geschichte gehört, dass gerade die Ölkrise der 1970er-Jahre die Abhängigkeit von russischen Energieimporten vergrößerte. Denn in dem Bestreben, die Engpässe durch neue Energiequellen zu beseitigen, setzte die Bundesregierung nicht nur auf einen Ausbau der Atomkraft, sondern konzentrierte ihre Energiepolitik auf die Sowjetunion. Dies war schon damals nicht unumstritten. Wirtschaftsbeziehungen zur Sowjetunion hatten als Bestandteil deutscher Außenpolitik gleichwohl eine lange Tradition, die bis in die 1920er-Jahre zurückreicht.

Was können wir aus der Krise der 1970er-Jahre lernen? Die Antwort ist schwierig, denn trotz auffälliger Parallelen unterscheiden sich die Situationen doch sehr voneinander. Aber der Blick auf den „Ölpreisschock“ kann das Verständnis der heutigen Krise schärfen. Schon damals wurden Energieressourcen als politische Waffe eingesetzt. Energiepolitik war und ist immer auch Sicherheitspolitik. Eine Lehre besteht zudem in der Erkenntnis, dass das Erschließen neuer Energiequellen sehr lange dauert. Die Preise sanken erst in den 1980er-Jahren wieder – genauso wird man sich heute darauf einstellen müssen, dass sie über mehrere Jahre hoch bleiben.

Schließlich offenbart der historische Blick auf Krisen Muster von überzeitlichen Wirkungszusammenhängen: „The crisis consists precisely in the fact that the old is dying and the new cannot be born“, schrieb Antonio Gramsci und verwies damit auf Krisen als Schwellenzustände am Übergang vom Alten zum Neuen. Neu waren damals die Thesen des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“, die 1972 große Aufmerksamkeit erregten. In der gestaltenden Politik blieb Wachstumskritik aber auch nach der Ölpreiskrise marginal. Die Krisenphänomene der 1970er-Jahre wurden vor allem als Krise des aktiven (Sozial)Staats gedeutet – nicht Wachstumskritik und Klimaschutz wurden seit den 1980er-Jahren global handlungsleitend, sondern ein erneuerter Glaube an die Selbstregulierungskräfte des Marktes. Die heutige Krise weitet erneut den Rahmen des politisch Machbaren und stellt die Politik vor neue geo- und sicherheitspolitische Herausforderungen. Darauf muss die Soziale Demokratie Antworten geben – und die Gestaltung der sozial-ökologischen Transformation konsequent vorantreiben. 

Peter Beule