70 Jahre Verlag Neue Gesellschaft

Im Sommer 1954 wurde der „Verlag Neue Gesellschaft“ gegründet, um der neuen sozialdemokratischen Theoriezeitschrift „Die Neue Gesellschaft“ eine verlegerische Heimstatt zu bieten. Bis 1989 entwickelte er sich zu einem einflussreichen Forum, in dem zukunftsweisende Fragen sozialer Demokratie debattiert wurden. Aus Anlass des runden Jubiläums rekapitulieren wir seine Geschichte, die eng mit der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) verbunden ist.

„Die Diskussion darf nicht abreißen, sie muss vertieft werden und sie muss öffentlich geführt werden.“ Mit diesen diskursbejahenden Worten, gleichsam ein bildungspolitisches Statement, verkündete Willi Eichler auf dem SPD-Parteitag in Berlin 1954 den Start der Zeitschrift „Die Neue Gesellschaft“. Sie diene „der Diskussion grundsätzlicher Fragen von aktueller Bedeutung und zugleich der Bildungsarbeit“, wie bereits ein Parteitagsbeschluss anno 1952 deren Programmatik in Anknüpfung an historische Vorbilder umrissen hatte. Bemerkenswert ist, dass öffentlich und über die Grenzen der Partei hinaus debattiert werden sollte: „Wir müssen unser Tor nicht nur organisatorisch, sondern vor allem auch geistig öffnen“ – wie Eichler in der bereits zitierten Rede auf dem Berliner Parteitag der SPD im Juli 1954 proklamierte. Dieses ambitionierte Vorhaben erforderte jedoch eine geeignete Infrastruktur. Man wählte Bielefeld – „die ‚heimliche sozialdemokratische Hauptstadt‘ Nordrhein-Westfalens“ (hier und im Folgenden: Rüdiger Zimmermann: Der Verlag Neue Gesellschaft und seine Bücher 1954–1989, Bonn 2009, S. 13) – als Erscheinungsort für das neue Blatt, boten doch Ort und Region mit ihren ertragreichen wie renommierten sozialdemokratischen Presseunternehmen geeignete Anknüpfungspunkte für den im Sommer 1954 neu gegründeten Bielefelder „Verlag Neue Gesellschaft“. In den Anfangsjahren erschien hier neben der Theoriezeitschrift „Neue Gesellschaft“ noch die sozialdemokratische Monatsschrift für Nordrhein-Westfalen „Demokratischer Aufbau“ (seit 1965 unter dem Titel „Vorn“).

Erste Meriten im Geschäft mit Eigenpublikationen erlangte der Verlag 1961, als die von den beiden Nationalsozialismusexperten Werner Jochmann und Hans-Adolf Jacobsen herausgegebenen „Ausgewählten Dokumente zur Geschichte des Nationalsozialismus“ erschienen: „Das Erstlingswerk gehörte ohne Zweifel zu den besten Quelleneditionen jener Zeit.“ (S. 15) Jedoch ereilten den Verlag in der Folge auch wirtschaftliche Probleme, ein Schicksal, das viele (nicht nur) sozialdemokratische Zeitungsunternehmungen in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre traf: Der Einbruch des Anzeigenmarkts beraubte die Verlage einer ihrer wichtigsten Einnahmequellen. Zugleich war man mit weltweit steigenden Rohstoffpreisen für Papier konfrontiert. Obendrein führte ein Mentalitätswandel in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft weg von ambitionierter politisch-agitatorischer Publizistik hin zum rasanten Aufstieg des Boulevardjournalismus.

 

Umzug nach Bonn als Verlag der Friedrich-Ebert-Stiftung


In dieser herausfordernden Situation wurde erwogen, dem Verlag Neue Gesellschaft unter dem Dach der FES eine neue Heimstatt zu geben und das Verlagsprogramm zu erweitern. Am 3. Dezember 1968 erwarb die FES den Verlag. Der Firmensitz wurde von Bielefeld nach Bonn verlegt. Mit dieser Integration in den Stiftungskörper besaß die FES nunmehr einen hauseigenen Verlag, der es ihr ermöglichte, „das breite und differenzierte Publikationsspektrum der expandierenden politischen Stiftung“ (S. 8) zu vereinen und in Eigenregie zu lancieren. Das eröffnete der Stiftung ganz neue Möglichkeiten, sich auf dem Gebiet gesellschaftspolitischer Diskussion respektive historisch-politischer Bildungsarbeit zu positionieren. Mit der nahezu zeitgleichen Gründung des Archivs der sozialen Demokratie 1969 entstand in Bonn ein „große[s] intellektuelle[s] Zentrum[]“, ein Ort, an „dem die Sozialdemokratie sich (im engen Bündnis mit den Gewerkschaften) offensiv zu ihrer Geschichte bekennen und selbstbewusst ihre innovativen Vorstellungen von Politik und Gesellschaft vertreten konnte.“ (S. 9) Die verlegten Publikationen spiegeln dieses Unterfangen eindrucksvoll wider: „Die Konturen des Verlagsprogramms zeichneten sich bereits nach zwei Jahren deutlich ab: wissenschaftliche Veröffentlichungen der Stiftung, populärwissenschaftliche Publikationen für die politische Bildung, programmatische Dokumente zur Theorie und Praxis der deutschen und internationalen Sozialdemokratie.“ (S. 25) Ein besonderes Augenmerk wurde dabei auch auf Reprints von Socialistica gelegt. In Kooperation „mit dem renommierten Reprint-Verlag Detlev Auvermann KG […] erschienen alle sozialdemokratischen Parteitagsprotokolle von 1869 bis 1887 [in zwei Bänden].“ (S. 26). Eine zusätzliche Erweiterung erfuhr das Verlagsprogramm, als 1971/72 beschlossen wurde, dass die bis dato im Hannoveraner Verlag für Literatur und Zeitgeschehen vertriebenen Schriften der FES vom Verlag Neue Gesellschaft übernommen werden sollten. In dieser Zeit wurde auch der sozialdemokratische Traditionsverlag J.H.W. Dietz Nachf., der nach dem Krieg neu gegründet worden war, in den Aufgabenbereich der FES überführt: „Der junge Verlag Neue Gesellschaft übernahm im November 1972 den Traditionsverlag mit dem großen Namen, der seit 1881 publizierte. […] Beide Verlage […] arbeiteten seit Herbst 1973 in einer Bürogemeinschaft.“ (S. 27f.)

 

570 Titel in 35 Jahren


Aus arbeitsökonomischen Erwägungen heraus wurden die beiden Verlage 1988 schließlich fusioniert, wobei „alle Verlagsrechte des Verlages Neue Gesellschaft […] auf den Verlag J.H.W. Dietz Nachf. [übergingen].“ (S. 29) Was bleibt? In der Geschichte des Verlags Neue Gesellschaft und seinen Publikationen spiegelt sich nicht weniger als die Ideengeschichte der deutschen (und in Abstrichen sogar der internationalen) sozialen Demokratie der Nachkriegsepoche. Die insgesamt 570 Titel des Verlagsprogramms, die zwischen 1954 und 1988 erschienen, ihre thematische Reichhaltigkeit und analytische Schärfe zeugen vom intellektuellen Niveau, auf dem sich der gesellschaftspolitische Diskurs rund um drängende Fragen der Zeit aus dezidiert sozialdemokratischer Perspektive bewegte. Einige dieser Titel stellen wir abschließend in Form einer Bilderstrecke vor.

Christian Maiwald

Buchcover

Ein neuer Start: Erste Ausgabe der Theoriezeitschrift von Juli/August 1954 im neubegründeten Verlag Neue Gesellschaft. Die Herausgeber umreißen die Funktion der Zeitschrift wie folgt: »Die ›Neue Gesellschaft‹ steht links, dort wo das Herz schlägt, und sie ist eine wissenschaftliche Zeitschrift.« Und: »Die Herausgeber dieser Zeitschrift sind Sozialdemokraten, die Zeitschrift ist aber nicht Sprachrohr der Sozialdemokratischen Partei.«
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»Die NPD ist arbeitnehmerfeindlich, antidemokratisch, neonazistisch, rechtsradikal …« Das Verlagsprogramm startet im Jahr 1969 mit Schriften zur politischen Bildung. »Gegen die NPD« sucht in allgemeinverständlicher Form Hilfestellungen zu geben, ohne die Gewissenhaftigkeit der Argumentation zu verletzen.
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Die neubegründete Reihe »Theorie und Praxis der deutschen Sozialdemokratie« war bald ein Markenzeichen des Verlages. In der Reihe wurden aktuelle politische Fragen im Spiegel der eigenen Geschichte neu ausgeleuchtet und diskutiert. Das Erstlingswerk bewegte sich auf der Linie programmatischer Reformer: Über ethische Normen für eine menschenwürdige Gesellschaft könnten sich Anhänger verschiedenerWeltanschauungen gut verständigen. Dies gelte besonders für Katholiken und Sozialdemokraten.
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Im Oktober 1971 schloss der Verlag Neue Gesellschaft mit der »Gesellschaft für politische Bildung e.V.« in Würzburg einen Kooperationsvertrag ab. Die fränkische Bildungsstätte betreute von da an u.a. die Serie »DDR, Realitäten und Argumente«. In dieser Serie wurden u.a. die beiden »Beiträge zum innerdeutschen Gewerkschaftsdialog« veröffentlicht. Gut ein Viertel aller Verlagstitel bis 1988 entfielen auf die von Würzburg aus betreute Schriftenreihe.
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Die »Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung« bildete lange Jahre das wissenschaftliche Rückgrat des Verlagsprogramms. Die Arbeit des langjährigen Leiters des Archivs der sozialen Demokratie Kuno Bludau unter dem spektakulären Titel »Gestapo – geheim!« zählte zu Beginn der siebziger Jahre zum neuen innovativen Forschungsschwerpunkt des Instituts. Erstmals wurde der Arbeiterwiderstand auf lokaler Ebene breit und umfassend gewürdigt.
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Sehr klar äußerte sich Helmut Schmidt 1973 zum Thema Richtungsverschiedenheiten: »Sozialdemokraten sehen solchen Auseinandersetzungen mit Gelassenheit entgegen, gehört es doch zu unserer Tradition, daß unterschiedliche Meinungen strittig, aber offen diskutiert werden.« Und: »Sicherlich ist die Verwirklichung von Arbeitnehmerinteressen einWesenskern sozialdemokratischer Politik, sie muß aber von den Arbeitnehmern auch so verstanden und akzeptiert werden.«
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1976 erschien im Rahmen des Informations- und Dokumentationsprogramms der Bundesregierung die erste Ausgabe der »Bibliographie zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung«. Die Dokumentation, von der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegeben, verzeichnete erstmals in Deutschland umfassend und ohne ideologische Einschränkungen die gesamte wissenschaftliche Sekundärliteratur zum Thema.
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Zum Bestseller entwickelte sich die ursprünglich im New Yorker Verlag Holt erschienene Lebensgeschichte der Palästinenserin Raymonda Tawil. »Mein Gefängnis hat viele Mauern« erschien bis 1992 in einer Auflage von über 50.000 Exemplaren einschließlich der Nachfolgeauflagen im Verlag J.H.W. Dietz Nachf.
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Zum unverzichtbaren Lehrbuch für den universitären Gebrauch und in der Erwachsenenbildung entwickelte sich rasch das »Lern- und Arbeitsbuch Ökonomie«, das in mehreren überarbeiteten Auflagen erschien. Die »andere« Einführung in die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland erhielt von der Fachpresse großes Lob.
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In der neuen »Reihe Arbeit« legt die Abteilung Arbeitskräfteforschung des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung Mitte der achtziger Jahre wichtige empirische Studien zur Frauenerwerbsarbeit vor. In »Arbeiterkinder gestern – Arbeiterkinder heute« geben Akkordarbeiterinnen in lebensgeschichtlichen Interviews Auskunft über ihre eigene Erziehung und die Erziehung ihrer Kinder. Die Studie räumt mit vielen Vorurteilen der »Unterschichtensozialisation« auf und weist neue Wege. 1986 erhielt die Studie die Auszeichnung »Das politische Buch des Jahres«.
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Früh beschritt der Verlag ungewöhnliche Wege: In »Sozialstaat 2000« wurden 1987 die wachsenden Finanzierungs- und Leistungsprobleme der sozialen Sicherung ebenso dargestellt wie die systematische Benachteiligung von Frauen im Sozialversicherungssystem.
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Susanne Millers und Heinrich Potthoffs »Kleine Geschichte der SPD« avancierte zum bestverkauften Buch über die deutsche Sozialdemokratie. Die Arbeit der beiden langjährigen wissenschaftlichen Mitarbeiter der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, die auch über Jahre gemeinsam die Historische Kommission beim SPD-Parteivorstand leiteten, erreichte bis 2002 acht aktualisierte und erweiterte Auflagen.
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Die schwarzen Gewerkschaften in Südafrika waren der wichtigste Motor zur Überwindung der Apartheid am Kap. Die Friedrich-Ebert-Stiftung leistete für den Befreiungsprozess entscheidende Hilfestellungen. Das Buch von Werner Puschra nahm eine Pionierrolle ein: Es war die erste umfassende Darstellung in deutscher Sprache zur Struktur und Funktion der großen südafrikanischen Emanzipationsbewegung.

Zum Weiterlesen:

Alle Zitate dieses Artikels sowie die Bilder der begleitenden Fotostrecke (mitsamt Annotationen des Verfassers) sind entnommen aus dem Grundlagenwerk des ehemaligen Leiters der FES-Bibliothek, Dr. Rüdiger Zimmermann: Der Verlag Neue Gesellschaft und seine Bücher 1954–1989, Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf. 2009. Neben einer thematischen Einführung zur Verlagsgeschichte findet sich eine vollständige bibliografische Auflistung aller im Verlag Neue Gesellschaft erschienenen Titel. Das Werk ist beim Dietz-Verlag erhältlich bzw. findet sich in der Bibliothek im AdsD der FES.

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